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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

in den Landstädten und den Bergwerks-Districten, dringend um Beistand gebeten wurden, „um diese Schande an der deutschen Nation abzuwerfen“. Es wurde ein „Executiv- und Ueberwachungs-Ausschuß“ niedergesetzt, mit dem Auftrag, sich namentlich auch mit der Presse, den Polizeibeamten und den Frauen, welche in Amerika überall eine Macht sind, zur Abstellung des Unfugs in Verbindung zu setzen. Endlich wurde beschlossen, „jeden Deutschen zu ersuchen, in dieser Angelegenheit durch Druck und Schrift nach Deutschland hin zu wirken, namentlich aber nach jenen Ländern (Hessen und Nassau), von wo die unglücklichen Opfer der Schandthaten durch gewissenlose Agenten hierher (nach Amerika) gebracht werden.“

Ein Correspondent des „Philadelphia-Democrat“ läßt sich um dieselbe Zeit ausführlich aus dem nämlichen Anlaß über diese traurige Erscheinung aus, indem er die Agenten mit Namen bezeichnet und die hessischen Dörfer Niederweisel, Münster und Feuerbach bei Friedberg in der Wetterau, in der Nähe der kurhessischen Spielhölle Nauheim, nennt, wo jene Menschen ganz behäbig dem Menschenfleischhandel wie einem erlaubten Geschäfte nachgehen und von wo die meisten der armen Kinder kommen, welche in Californien, Australien, Mexico und Südamerika für die Seelenverkäufer sich einem ehrlosen Erwerbe hingeben müssen. In Californien allein sollen über dreihundert solcher „deutscher Tanzmamsells“ sein, welche von ihren Eltern in Deutschland an die „Unternehmer“ vermiethet wurden.

Der Correspondent schließt mit den Worten: „Die Presse sowohl, als die deutschen, namentlich hessischen und nassauischen Consulate und jeder Deutsche überhaupt, dem die Ehre seines Vaterlandes und das Wohlergehen seiner Landsleute am Herzen liegt, sollten von diesem Zustande der Dinge Notiz nehmen und zur Abstellung dieses schändlichen Mißbrauches mitwirken. Wem schnürt es nicht das Herz zusammen, zu wissen, daß ganze Schaaren junger deutscher Mädchen hier die Nächte hindurch in den Tanzkellern herumgeschleppt werden, um durch Aufopferung ihrer Ehre und ihrer (Gesundheit ihren grausamen Miethsherren zum Wohlstande zu verhelfen! Haben die hessischen und nassauischen Behörden davon noch keine Notiz genommen? Wir erinnern uns in der Presse unseres alten deutschen Vaterlandes vor Jahren den bittersten Tadel gelesen zu haben über die Tscherkessen, daß sie ihre Mädchen in die Harems der türkischen Großen verkaufen (wo dieselben wenigstens ein behagliches Dasein führen), und über die Russen, daß sie diesen Handel nicht unterdrücken. Will denn diese Zeitungs-Presse, welche sich so eifrig um das kümmert, was zwischen Kaukasus und Dardanellen und ‚da hinten weit in der Türkei‘ geschieht, ignoriren, was unter ihrer eigenen Nase, am Rhein und an der Lahn, auf dem Westerwald, am Taunus, in der Wetterau vor sich geht und doch an Schändlichkeit und Contrast zu dem ganzen Zustande des Landes und der Bevölkerung das weit hinter sich läßt, was man an den Tscherkessen, Tschetschenzen und Russen zu tadeln findet?“

Aus diesen Aeußerungen der amerikanischen Presse, aus verschiedenen Referaten der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ über diesen Menschenhandel und aus sonstigen Mittheilungen nahm der inzwischen verstorbene Medicinalrath Dr. Zais in Wiesbaden, der auch Mitglied der zweiten nassauischen Kammer war, Veranlassung, diese Sache auf dem nassauischen Landtag zur Sprache zu bringen. Er stellte am 8. März 1860 in Gemeinschaft mit anderen Kammermitgliedern die Motion: „Da die bisherigen polizeilichen Maßregeln gegen das Verdingen von Kindern von Seiten der Eltern und Vormünder an Subjecte, welche diese Kinder in fremde Länder ausführen, um sie daselbst zu schändlichen Zwecken zu mißbrauchen, erfolglos waren, so beantragen wir: – die Regierung wolle strengere Maßregeln gegen diesen Unfug ergreifen; namentlich halten wir es für nothwendig, daß die Verdingungsverträge für ungültig erklärt und die verdingenden Eltern oder Vormünder sowohl wie die dingenden Menschenhändler mit angemessenen Strafen belegt werden. Der Sclavenhandel mit Negern“ – so schloß Zais seinen Antrag – „wird von den Deutschen allgemein verabscheut, der Handel mit diesen deutschen Kindern ist noch schlimmer. Der Neger wird als Arbeitsvieh verkauft. Das Schicksal der verkauften deutschen Kinder aber ist, zur Prostitution verdammt zu sein. Die deutsche Nation, die sich die gebildetste und humanste der ganzen Welt nennt, sieht hier in ihrem Schooße einen Menschenhandel betreiben, der den Negerhandel in nichtswürdigen Motiven noch weit übertrifft.“

Die nassauische Kammer, welche unmittelbar vorher eine sehr ausführliche und gründliche Debatte gepflogen hatte über die wichtige Frage, ob es zweckmäßig sei, eine gesetzliche Minimalbreite der Radfelgen vorzuschreiben, und wie groß diese Breite wohl am besten zu bestimmen sei, schien hierbei ihre besten Kräfte erschöpft zu haben. Sie schenkte dem Antrag nur eine geringe Aufmerksamkeit und ging schließlich zur motivirten Tagesordnung über, nachdem vorher ein klerikaler Abgeordneter die Sache für bei Weitem nicht so schlimm erklärt hatte, wie sie dargestellt werde. „Es seien,“ meinte er, „gegenwärtig nur etwa 100–120 junge Leute im Alter von 16–18 Jahren (also doch auch Mädchen in diesem Alter!), welche von ihren Eltern an dergleichen Unternehmer verdingt würden.“ Ebenso hatte ein anderer dem geistlichen Stande angehörender Deputirter, der Vorsitzende der im September 1863 zu Frankfurt a. M. abgehaltenen Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands, ausgesprochen, „daß es kaum nöthig sein möchte, den Gegenstand von Neuem der Sorgfalt der herzoglichen Regierung zu empfehlen!“

Die Wirkungen dieses Beschlusses waren unschwer vorauszusehen. Die Regierung that das Nämliche, wie bisher, d. h. nichts. Die mit einer Mißbilligung bedrohten Unternehmer fuhren fort, Böses zu thun, und die mit einem Bedauern beglückten Kinder, Böses zu leiden. Der Beschluß wurde am 13. März 1860 mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt, und vier Jahre später steht die Sache noch gerade so, wie damals. In Holland speculiren noch die listigen nassauischen Landgänger auf das gute Herz des dicken Niederländers; in St. Petersburg spielen noch die Harfenmädchen, die Seiltänzer und Purzler aus Elz und geben den Russen Anlaß, ihre Verachtung gegen den gehaßten „Niemetz“ auszudrücken; in Californien werden noch die armen hessischen Tanzmamsells in den Tanzkellern und Spielhöllen herumgezerrt; in Dänemark sagt noch der hauptstädtische Mob: „Was thut der Deutsche nicht für’s Geld!“ und in London quälen nach wie vor die nämlichen nassauischen Straßenmusikanten das Publicum mit den Dissonanzen ihrer zersprungenen Clarinetten und verbogenen Hörner!

Der damalige Regierungspräsident von Witzingerode, ein wohlmeinender, aber außerordentlich schwacher Mann, der nunmehr längst zu seinen Vätern versammelt ist, gestand, daß die nassauische Regierung zur Steuerung dieses schmachvollen Menschenhandels bis jetzt so gut wie nichts ausgerichtet habe; „allein,“ sagte er, „die Armuth und Noth der Eltern ist es, worin die Schwierigkeit liegt.“

Ganz richtig. Aber, fragen wir, warum ist denn in diesem von der Natur so reich ausgestatteten Nassau die Armuth so groß? Warum sind dort die Leute so unmoralisch, warum ist gerade dort eine Mutter unmenschlich genug, für ein paar Silberlinge ihr Kind einem beliebigen Landläufer zu überlassen, den sie entweder nicht kennt, oder von dem sie, wenn sie ihn kennt, sicher weiß, daß er das Kind in’s Verderben führt, daß er es entweder gar nicht wieder mitbringt, oder mit vergiftetem Leibe und Geiste? Warum besteht denn gerade in Nassau nicht eine allgemeine Verachtung gegen dies unehrliche Gewerbe? Oder wenn sie besteht, warum hat die öffentliche Meinung dort nicht die Kraft, selbst habsüchtige und gewissenlose Eltern abzuhalten, ihre Kinder zu verkaufen? Dies sind die Fragen, über welche sich der Arzt klar werden muß, der das Uebel curiren will. Denn wenn solche Dinge in Nassau vorkommen und in den andern deutschen Ländern (einige Orte in Hessen-Darmstadt ausgenommen) nicht, dann muß dies seine ganz bestimmten örtlichen Gründe haben.

Die Untersuchung dieser Gründe, die der Leser übrigens vielleicht ahnt, würde uns indeß auf das rein politische Gebiet hinüberführen, zu dessen Erörterung ein Familienblatt wie die Gartenlaube schwerlich der geeignete Ort ist.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_551.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)