Seite:Die Gartenlaube (1864) 536.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Wir standen noch immer in schweigendem Staunen, wie eingewurzelt auf der majestätischen Schaubühne.

„Für jetzt genug, meine Herren,“ mahnte schließlich unser Führer. „Eine Tasse warmer Schafbouillon wird auch nicht zu verachten sein nach unserer Morgenpromenade. Mein Jakob wird ungeduldig, wenn ich den Producten seiner Kochkunst nicht pünktlich Gerechtigkeit widerfahren lasse.“ –

Drei volle Tage lebten und wanderten, staunten und lernten wir auf dem Gletscher, und so machten wir mit Herrn Dollfus noch manchen interessanten Gang. Unsere nächste Wanderung galt einer Ruine, den Trümmern einer Menschenwohnung auf dem Eise. Es war auch ein ehemaliges Gletscherpalais – das Hôtel des Neuchâtelois, jene Hütte, welche sich im Jahre 1840 die Neuenburger Naturforscher Agassiz, Desor, K. Vogt, Nicolet, H. Coulon und F. Pourtalès am Fuße des Abschwungs gegründet hatten, in der Nähe der Stelle, wo schon 1827 Hugi sein naturforschendes Einsiedelthum gelebt. Fünf Sommer lang war sie das Standquartier für alle jene wichtigen Untersuchungen, denen die Wissenschaft Agassiz’s geniale Theorie von der Gletscherbewegung verdankt und die den Unteraaregletscher zum Gletscher par excellence, zu einem classischen Boden in der Geschichte der Naturwissenschaft gemacht haben. Jetzt fanden wir nur noch spärliche Ueberreste von dem einstigen Studienhause übrig, die der Gletscher, welcher nach Dollfus’ Beobachtungen im Jahre um etwa 240 Fuß vorrückt, über 2000 Fuß tiefer in das Thal hinabgeschoben hat. Der colossale Felsblock, der das Dach der Hütte gebildet, war in sieben Stücke zerschmettert, und in wenigen Jahren wird auch die letzte Spur jener merkwürdigen Forschercolonie auf dem Eise verschüttet und verschwunden sein.

Ein höchst originelles Leben, das diese verbundenen Gelehrten auf dem Gletscher führten! Jedem war seine Arbeitsrolle zugetheilt. Agassiz „leitete als Haupt der Expedition das Ganze, empfing die Berichte der einzelnen Mitglieder und suchte sie in Einklang zu bringen.“ Er selbst hatte die thermometrischen, hygrometrischen, psychrometrischen (feuchtigkeitsmessenden) und barometrischen Beobachtungen übernommen, und Pourtalès war dabei sein Amanuensis. Desor untersuchte „die dem Eise selbst angehörigen Erscheinungen, seine Structur, sein Verhalten bei verschiedenen Zuständen der Atmosphäre, Natur und Ursprung der Moränen“, und Coulon ging ihm als Begleiter auf den anstrengenden Ausflügen zur Hand. Vogt, damals noch nicht der demokratische Redner und Reichsregent, aber schon der geistreiche Zoolog und – Gesellschafter, der er heute ist, lenkte dem rothen Schnee und den Thieren und Pflanzen, von welchen dessen Farbe herstammt, seine Aufmerksamkeit zu und zeichnete wacker. Nicolet endlich studirte die Flora des Gletschers und der umliegenden Berge. Sehr früh ward aufgestanden, zwischen vier und fünf. Mittlerweile hatten die Führer, die in einer andern Hütte hausten, das Feuer auf dem Eisblocke angezündet, der, mit einem großen Steine belegt, zum Heerde diente, um die Morgen-Chocolade zu kochen. Wohl war’s keine Kleinigkeit, sich aus den warmen Decken zu reißen und in die scharfe Frühluft hinauszutreten, um sich vor dem Hause in dem Wasser eines Kübels zu waschen, dessen Eiskruste jedesmal erst eingeschlagen werden mußte; allein statutenmäßig durfte Niemand liegen bleiben, wer nicht zufällig krank war. Darauf ging’s frisch an’s Werk, und während des Tages war das „Hôtel“ meistens verlassen. Der Mittagstisch vereinte die auf Eis und Fels Zerstreuten wieder: es war der Hauptmoment des Tages. Delikatessen gab es allerdings nicht, weder Gemüse noch Fische, denn in den kalten Gletscherbächen gedeihen die letztern nicht, doch treffliches Hammelfleisch und manchmal ein feistes Murmelthier oder gar ein Gemsenbraten. Lustig aber ging es immer beim Mahle zu, da „wurden die neuen Gedanken mitgetheilt, die alten gesichtet, besprochen und erörtert“, und des Scherzes und der Neckereien wollte oft kein Ende werden.

Häufig sprach auch ein Besuch ein, Bekannte, die über die Grimsel zogen, oder Neugierige, welche sehen wollten, was das Neuenburger Häuflein in seiner Eiswüste trieb, und nicht selten ein extravaganter oder lümmelhafter John Bull, welchem die Insolenzen indessen rasch genug und hier und da sehr drastisch ausgetrieben wurden. So hatte man denn Stoff zur Unterhaltung und Beobachtung auch nach dieser Richtung hin in Hülle und Fülle. „Als habe Jeder sein Ich abgelöst, um es seinen Freunden zur beliebigen Hinnahme anzubieten und das ihrige dagegen einzutauschen, so war es in unserm Hôtel des Neuchâtelois“ schreibt Vogt. „Selbst das geistige Eigenthum war Gemeingut, und was der Eine auf seinen Excursionen, der Andere in der Nähe der Hütte, Der mit Vergrößerungsbrillen und Jener mit dem Verstandesauge geschaut, das wurde gar bald einem Jeden bekannt, Jedem vertraut, und nach kurzer Zeit war oft dem Einzelnen nicht mehr möglich aus dem verschmolzenen Ganzen zu sondern, was ihm von Rechtswegen gehörte.“

Es weht uns heimelig und behaglich an, wenn man in Vogt’s „Im Gebirg und auf den Gletschern“ oder in Desor’s „Excursions et Séjour sur les glaciers“ die Schilderung jenes „Eldorado der Natürlichkeit“ liest; und wie die Mitglieder dieses merkwürdigen Gletscheretablissements selbst, deren Haupt lange schon jenseit des Oceans lehrt und wirkt, noch nach Jahren mit wehmüthiger Sehnsucht an ihre Eisidylle zurückdenken, so überkommt auch uns mächtig, fast unbezwinglich das Verlangen, aus unserer rastlosen, künstlichen, complicirten Existenz wieder einmal flüchten zu können in den erhabenen Frieden jener Hochalpeneinsamkeit, so oft wir, mein alter Freund und Landsmann und ich, uns in die Erinnerung an jene unvergeßlichen Augusttage im Pavillon Dollfus versenken und über unsere Gletscherpromenade und unsere Neulingsabenteuer lachen, – jenes Alpenheimweh, welches Den nie mehr verläßt, welchen der Zauber dieser herrlichsten Bergwelt der Erde einmal umstrickt hat.




Eines deutschen Technikers Lehr- und Meisterjahre.
Von Max Maria von Weber.
(Schluß.)
Der eigene Heerd. – Petrus und Paulus des Zeitgeistes. – Friedrich List und Gustav Harkort. – Deutschlands erste große Eisenbahn. Ihr Kopf und ihr Arm. – Studien jenseits des Canals. – Schöpfer des deutschen Bausystems. –Ein Dirigentenkleeblatt. – Die erste Fahrt. – Vom Gipfel abwärts. – Verkannt, verbittert und vergessen.

Drei Jahre Einsamkeit und Beschaulichkeit unter fernstehenden Cameraden im monotonen Quartierleben läutern und prüfen ihn. 1819 finden wir Kunz in Sachsen wieder, „in Ansehung von Talent und Tapferkeit“ nach zehnjährigem Lieutenantsdienste zum Premier-Lieutenant und Adjutanten ernannt. Acht Jahre folgen dann, wo er Oberlieutenant, und der bravsten und fleißigsten einer, ist und lernte – was er als solcher nicht brauchen konnte. Was er aber trieb und studirte, das wußte der alte Wasserbaudirector Wagner am besten. Er war des genial anstelligen, breitschultrigen Torgauer Officiers unvergessen. Die Rührigkeit der Faschinenmesser vor Zinna, das rüstige Schaffen der klingenden Spaten vor Siptitz, die Unermüdlichkeit des Rammschlags und des Kreischens der Pumpen an den Ravelins des Brückenkopfs – wenn des kleinen Kunz markige „Bravos“ und „Donnerwetters“ in der Luft schwebten – bauten jetzt sein Leben aus.

Der Friede hatte den Verkehr belebt, die große Wasserstraße Sachsens stieg an Werth, die Regierung wandte der Regulirung des Stromlaufs und der Sicherung der Ufer neue Kräfte zu, und als Ende der zwanziger Jahre der rasche Gang der Zeit die Lebensformen und den Ideenschritt des alten Wasserbaudirectors Wagner überflügelte, verlangte dieser selbst den kleinen Torgauer Lieutenant zum Gehülfen. 1827 wurde er, nach erfolgtem Austritte aus der Armee, mit dem Charakter eines Capitäns der Infanterie, zum Adjuncten des Wasserbaudirectors mit 800 Thaler Gehalt ernannt. Es fiel ihm nicht der leichteste Theil von dessen Pflichten zu. Aber sein ganzes Leben und Streben, von dem

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_536.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)