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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

und wir hatten das wundersame Sommerpalais des reichen Elsässer Gletscherfreundes erreicht, – mit Gefühlen, wie sie der Schiffbrüchige hegen mag, der, auf schwanker Planke lange umhergetrieben auf dem Meere, sich endlich an die Küste gerettet hat.

Bon Soir, Messieurs,“ empfing uns lächelnd Herr Dollfus am Portale seiner Villa. „Aber was machen die Herren für Streiche! Sich verirren auf meiner schönen Chaussee, ein wahres Kunststück!“ so spottete er. Allein seine edlen Thaten wogen zehnfach seinen Spott auf. Er führte uns herein in sein luftiges Gemach, und wir konnten beim Schein einer Lampe das merkwürdige Gemisch von naturwissenschaftlichen Apparaten und Reisebedürfnissen verschiedenster Gattung erkennen, womit der kleine Raum ausstaffirt war. Inzwischen bereitete der Herr des Hauses selbst einen vortrefflichen heißen Punsch und röstete köstliche Brodschnitten, und bald hatten wir, auf weichem Heu behaglich gebettet und mit dicken Schaffellen warm bedeckt, alle Aengste unserer Gletscherfahrt vergessen. Nur wie ein leises Summen klang noch das Geplauder der nebenan in der Küche um das Heerdfeuer gestreckten Knechte zu uns herüber, bis uns neckische Traumbilder der Wirklichkeit um uns her entrückten.

Völlig gestärkt und wunderbar erquickt erwachten wir am andern Morgen, und jetzt im ermutigenden Lichte des Tages wollten uns selbst die überstandenen Abenteuer unserer Wanderung nicht mehr ganz so gefährlich dünken, wie gestern im unheimlichen Dunkel der Nacht, das alle Schrecknisse in’s Ungemessene steigert.

„Ja, ja,“ sagte Herr Dollfus, der schon völlig angekleidet und eisgerüstet vor uns stand, „gegen Neulinge gefällt sich der Gletscher in kleinen Tücken und Chicanen; wen er aber einmal kennt, dem hat er nichts an. Wenn wir hernach auf das Eis gehen, sollen Sie sehen, wie harmlos das Ding ist. Aber schauen wir zunächst, was das Wetter macht.“

Wir vollendeten unsere Toilette und traten vor die Hütte hinaus, die wir jetzt erst ordentlich in Augenschein nehmen konnten. Sie ist niedrig, aus Steinblöcken kunstlos zusammengefügt und ganz geeignet, den Unbilden des Wetters kräftigen Widerstand zu leisten. Hoch über dem Dache flatterte an langer Stange die französische Tricolore, das schon von so manchem müden Touristen mit hellem Jubel begrüßte Signal des gastlichen Gletscherpavillons. Etwa 7200 Par. Fuß über dem Meere gelegen, bleibt dieser noch um ziemlich 600 Fuß hinter der Höhe des durch das ganze Jahr bewohnten St. Bernhardhospizes zurück, erhebt sich jedoch um nahe an 1600 Fuß über das Jochhaus der Grimsel.

Noch war Alles in Nebelschleier gehüllt; ein scharfer Wind aber hatte sie bald zerzaust und auseinandergerissen. Zu phantastischen Wolkenbildern zusammengeballt, zogen sie, tief unter uns, über dem Gletscherfelde dahin. Ringsum ward der Blick frei, und welche Aussicht that sich auf! Wir erklommen eine nahe Felszinke und konnten nun den Gletscher nach allen Seiten überschauen, eingefaßt wie er ist von vielfach ausgezahnten Gneiswänden, deren pittoreske Contouren sich scharf vom tiefen Blau des Himmels abhoben. Kein Fleckchen Grün, kein Grashalm in dem ungeheuren Raume, welchen das Auge durchschweifte; nichts als Weiß und Grau und Blau! Es war ein Moment feierlich, erhaben, kein Wort reicht an seine Größe heran! Unvergeßlich, wie alle jene Morgen, die ich, durch meilenweite Eis- und Schneefelder von den Menschen und ihrem Treiben geschieden, in der majestätischen Ruhe und Einsamkeit des Hochgebirges erlebte! –

Seit den letzten zwanzig Jahren ist eine ganze bändereiche Literatur entstanden, die sich theils in streng-wissenschaftlicher, theils in populärer Fassung ausschließlich mit der Darstellung dieser höchsten Regionen des Erdlebens, insbesondere der Gletscher selbst beschäftigt. Indeß trotz aller jener Schilderungen, von denen manche als mustergültig anerkannt sind, findet sich der Laie gerade auf diesem Gebiet der Natur noch immer in arger Confusion und Begriffsverwechselung befangen, selten daß einmal ein Reisender, der nicht zum Handwerk gehört, in die Alpen kommt, ohne die sonderbarsten Vorstellungen von jenen höchsten Regionen mitzubringen. Wem nicht der eigene Augenschein vergönnt war, der kann sich einmal keine richtige Idee vom Wesen des Gletschers, von seinem Vorrücken und Zurückweichen, von den Schutt- und Trümmerwällen machen, die seine Ränder bedecken, und mengt nur zu leicht Gletscher und Firn und ewigen Schnee durcheinander. Um wenigstens dieser letztem Verwirrung zu entgehen, halte man daher fest, daß jeder Gletscher einem erstarrten Wasserstrome zu vergleichen ist, einem mitten in seinem Wälzen und Wogen jählings gefrorenen Katarakte, dessen Eismassen sich in gewisse Thäler der Hochalpen einbetten oder deren Abhänge bekleiden; daß unter Firn der Etymologie nach vorjähriger Schnee – „fern“: vorjährig – verstanden wird, der sich vom gewöhnlichen Schnee durch seine grobkörnige Oberfläche, seine Schwere und Massigkeit unterscheidet, und daß endlich diese oberste Staffel der Alpenwelt in drei bestimmte Zonen gesondert werden kann: eine untere, die des eigentlichen Gletschers, in welcher der den Winter über fallende Schnee während des Sommers völlig abschmilzt; eine mittlere, die des Firns, die etwa mit 8000 Fuß beginnt und die Speisekammer des Gletschers ausmacht, und eine obere, die des sogenannten ewigen Schnees, der Schneefelder oder des Hochschnees, welcher die höchsten Grate bedeckt und meist in pulverähnlichem Zustande bleibt. Diese oberste Region hat keine so feste Grenze, wie die der untern und mittleren Stufe; ihr Anfang schwankt zwischen 9000 und 10,000 Fuß. Prägt man sich diese Momente ein, so wird man jedenfalls vor dem Irrthum bewahrt bleiben, den wir allsommerlich von Hunderten und Aberhunderten von Touristen – auch reiseschriftstellernden in erklecklicher Zahl darunter – begehen hören, welche bei jeder weißbeschneiten Alpenspitze, die sie sehen, in Ekstase gerathen über die prachtvollen Gletschermassen, die sie vor sich entfaltet glauben. Wie gesagt, auf den höchsten Berggipfeln ist der Gletscher niemals zu suchen, immer in Einsattelungen, Thälern und Schluchten.

Der Unteraaregletscher ist ein gewaltiger Eisstrom, der in einer Länge von etwa zwei und einer Breite von drei Viertelstunden ein weites Thal erfüllt, das südlich von den zur Gruppe des Finsteraarhorns, des Matadors der Berner Alpen, gehörigen Zinkenstöcken, nördlich vom Miselengrate, einem Ausläufer der Wetterhörner, jener den grünen Mattengrund von Grindelwald überragenden Giganten, umrandet wird. Dies grandiose Gletscherfeld hatten wir jetzt vor uns, glitzernd und funkelnd in der immer entschiedener durchbrechenden Sonne. Wie aber soll ich das Panorama schildern, welches so klar und hell, wie es selten der Fall sein mag, dem Blick erschlossen war? Wie wir, in stummer Bewunderung des erhabenen Gemäldes, selbst keine Worte fanden, den uns überwältigenden Eindruck in seine Einzelwirkungen zu zerlegen, so vermag die Feder noch viel weniger eine Scenerie zu veranschaulichen, von welcher selbst der Pinsel des größten Landschafters nur ein mattes Abbild zu schaffen im Stande ist. Ich begnüge mich darum einige der Gipfel, der Hörner und Spitzen zu nennen, die uns unser alpengelehrter Wirth mit jenem freudigen Stolze zeigte, mit welchem Jemand die edelsten Schätze seines Besitzthums vorzuweisen pflegt.

Da starrt zuerst links das Finsteraarhorn in die blaue Luft, an das sich weiter gen Osten eine Menge weißer Spitzen anreihen, alle reichlich mit Gletschern bedacht. Sämmtlich münden dieselben in den großen Finsteraargletscher, der vereinigt mit dem vom Schreckhorn zufließenden Lauteraargletscher bei dem sogenannten Abschwung, dem südwestlichen Ende des erwähnten Schreckhorns, unsern Unteraaregletscher bildet. Fast alle jener beschneiten Gipfel sind jetzt mit den Namen berühmter Alpenforscher geschmückt. Die zierliche Pyramide, die sich dicht an das Finsteraarhorn anlehnt, ist das Studerhorn, nach dem bekannten Berner Geologen getauft; weiter nordwärts, gewissermaßen eine Fortsetzung des Finsteraarhorns, reckt das Agassizhorn seine Nadel in den Aether; der Kegel zwischen Studer- und Oberaarhorn heißt Altmann, nach einem früheren Beschreiber der Berner Gletscher. Neben dem etwas zurückstehenden Oberaarhorn kommen zwei beinahe gleichförmige Zinken zum Vorschein, beide in blendenden Schneetalar gehüllt, es sind die Grunerhörner, deren Taufpathe ebenfalls ein Alpenkenner früherer Tage ist. Ihnen folgt, immer in östlicher Richtung, der bizarre Gipfel des Scheuchzerhorns, dem man die Ehre erwiesen hat, den Namen des berühmten Züricher Naturforschers Conrad Scheuchzer[WS 1] führen zu dürfen; als der letzte dieser Reihe endlich glänzt das Escherhorn herüber, das nach dem genialen Bezwinger der wilden Linth und seinem Sohne, dem Züricher Geologen, betitelt worden ist. Tiefer unten, der Grimsel zu, erscheinen der Thierberg, der Grünberg und die bereits oben angeführten Zinkenhörner, der Scheidewall zwischen Unter- und Oberaargletscher. Zur Rechten begrenzen Hugihörner – dem Solothurner Bergkundigen geweiht – Lauteraarhorn und Schreckhörner den Gesichtskreis.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_535.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)