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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Gletscherwassers zieht sich der Pfad aufwärts, mehrmals die Aare überbrückend, immer in enger Bergumrahmung. Nach etwa zweistündigem tapfern Marschiren, das Kniee und Schenkel tüchtig anspannte, that sich die oberste kesselförmige Thalweitung auf, der sogenannte Räterichsboden, eine dürftige Alm mit zwei verräucherten ärmlichen Sennhütten. Trotzdem ein tröstlicher Anblick für das Auge, der letzte Gruß aus der farbenheitern lebendigen Welt vor der grauen todten Steinwüste, die nun ausschließlich zur Herrschaft kommt. Höher hinauf erlischt jede Spur menschlichen Lebens.

Um zehn Uhr lag das Grimselspital vor uns, das alte Bild des Schweigens, der Oede, der brustbeklemmenden Schwermuth mit dem kleinen schwarzen eiskalten See, der sich neben dem düstern Steinbau ausbreitet, – am Tage wenigstens, wo es, wenn nicht Unwetter die Gäste in seinen Mauern zurückhält, nur selten Anderswen beherbergt als den Spittler mit seiner Familie, seinen Knechten und Mägden und seinem Vieh, denn von welcher Seite man auch kommen mag, ob, wie wir, aus dem Haslithale, oder vom Gotthard über die Furka, immer ist’s eine ordentliche Tagesreise heran. Die Zwischenstationen aber, das Haus am Rhonegletscher oder Guttannen, werden selten einmal zu Nachtquartieren erkoren. Sobald indeß der Abend dämmert, zieht das bunteste Reisegewühl vom Joche hernieder, bricht Gruppe um Gruppe hinter der Felswand hervor, die den aus dem Aarethale Heraufsteigenden das Hospital verbirgt, und bald hat’s Noth mit Unterkunft und Nachtlager. Zu Zweien und Dreien müssen sich die Ankömmlinge in ein enges Zimmer schichten lassen und froh sein, wenn sie überhaupt noch ein Bett erwischen können.

Wir trafen ausnahmsweise auch einmal am Vormittage Gesellschaft, geriethen nach den Erkundigungen um Woher und Wohin? in’s Plaudern und hielten ein langes heiteres Mittagsmahl. Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als wir uns zur Weiterreise erhoben. Der Grimselwirth fand es bedenklich, so spät noch nach dem Gletscher zu gehen, wir nahmen aber seine Warnung für Eingabe des Eigennutzes. Im Bädeker, unserm vielgetreuen Eckart, stand ja „Aargletscher leicht und gefahrlos zu besteigen“. Warum uns also einschüchtern lassen? Die Feldflaschen wurden neu gefüllt und fort, ohne Führer, dem ewigen Eise entgegen.

Die Wegbeschreibung, die uns der Gletscherenthusiast gegeben, saß fest in unsern Köpfen. So hatte es keine Schwierigkeit, uns bis zum Fuße des Eisstromes aufzuarbeiten. Freilich war’s ein saures Werk, und die zwei Stunden, mit denen Bädeker tröstet, wurden fast zu langen dreien. Bis hierher hatten wir so Etwas gefunden, das man, mit einigem Aufwande von Phantasie, allenfalls als Straße gelten lassen konnte, ab und zu eine in den Fels gehauene Stufe oder ein paar von Menschenhand neben einander geschichtete Steine – jetzt hörten auch alle diese schwachen Anhaltpunkte auf. Wir standen am linken Ufer der Aare, da wo sie in einem trüben Graugrün, mehrfach gespalten, dem Eise entquillt und auf die ebene felsumschlossene Fläche des Aarbodens hinausfließt. Vor uns thürmte sich der Absturz des Gletschers in die Höhe, sein klares Krystall mit dem Schmutzwall der Erdmoräne bedeckt, jenen Ablagerungen von Schutt und Geröll, von Steinblöcken und Felstrümmern, welche der fortschreitende Gletscher vor sich herschickt und in langen oft mehrere hundert Fuß dicken und noch breiteren Strömen dem Thale zuführt. Die Endmoräne des Unteraaregletschers ist für sich allein ein ganz hübscher Hügel, den man bei uns daheim im Flachlande schon zum respectabeln Berge stempeln würde.

Wir stutzten, wir sannen, wir beriethen – es half nichts, wir mußten die Moränenmauer hinan.

Das schreibt sich so leicht, dies Hinan, jetzt in der gewöhnten Sicherheit seiner vier Pfähle, im bequemen Armstuhle und neben der dampfenden Herzstärkung des Frühkaffees; das liest sich so harmlos und gemüthlich in Schlafrock und Pantoffeln auf dem Sopha, während der Theetopf sein trauliches Abendlied singt; in Wirklichkeit aber war’s ein verdammt heikeles Unternehmen. Bei jedem Schritt mußten Fuß und Auge erst die Festigkeit des Bodens prüfen. Oft brachte ein unbedachter Tritt einen nur auf wenigen Stützpunkten ruhenden Stein aus seinem Gleichgewichte, und sein Sturz ließ sich nicht aufhalten, wenn auch der tastende Fuß augenblicklich zurückgezogen wurde.

Da gab’s nun ein Rollen, ein Wälzen, ein Schurren, ein Donnergepolter, wie ein Stein den andern mit hinabriß in die Tiefe, wie das kleine Gebrock in gewaltigen Bogensätzen mit rasender Geschwindigkeit immer rascher und rascher dem Abgrunde zujagte und die größeren Felsstücke im Anprall krachend auseinander barsten und ihre scharfkantigen Trümmer nach allen Seiten umherschleudertcu. Das war, wie wenn Bomben platzten und Granatsplitter umherflögen. Wir wußten nicht mehr wie uns ducken, nicht wie uns rechts und links den unaufhaltsamen Geschossen aus dem Wege bücken! Ganz als lägen wir vor Düppel im Bereich der tückischen Dänenkugeln.

Endlich, endlich waren wir oben; athemlos, schweißtriefend. Nach der empfangenen Weisung sollten wir auf der Moräne fortgehen, bis wir auf der Uferhöhe zur Rechten des Dollfus’schen Pavillons ansichtig würden. Indessen Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, schon zeigten unsere Uhren, daß wir länger denn eine volle Stunde auf der Trümmerfläche marschirten, und nirgends weder Fahne noch das allerkleinste Anzeichen menschlicher Nähe zu erspähen. Nein, es konnte nicht in Ordnung sein mit dem Weg auf der Moräne, wir mußten die Instruction mißverstanden oder doch nicht genau behalten haben. Schon dämmerte es; es gab also keine Zeit zu verlieren. Wir verließen darum die Moräne und wanderten auf dem Gletscher selbst weiter.

Anfangs war ein flottes Fortkommen auf dem grobkörnigen Eise, weit flotter als auf dem Steinmeere der Moräne, wo jeder falsche Tritt die ganze Decke in Aufruhr setzte. Bald aber wurde das Eis glätter und glätter und begann sich obendrein bedenklich zu neigen. Erst kleinere Spalten, dann immer breitere und breitere Schründe zeigten sich, und wir mußten alle unsere Kühnheit aufbieten, uns mit Hülfe unserer festen Alpenstöcke über die sapphirblauen Eisabgründe zu schwingen. Endlich jedoch war’s mit unserm Latein zu Ende, eine entsetzliche Kluft gähnte vor uns. Schon der Gedanke an deren Ueberspringen wäre Vermessenheit gewesen. Wir versuchten also an ihrem Rande weiter zu fußen, vielleicht daß sie sich an einer andern Stelle verengte. Doch plötzlich senkte sich der Boden so bedeutend, daß wir Beide in ein rapides Gleiten geriethen. Zwar gelang es uns, die Stöcke fest gegen die Brust gedrückt und ihre Stacheln tief in’s Eis gebohrt, uns in unserer hängenden Position zu erhalten; allein da saßen wir nun fest, die trostlose Perspective vor uns, im glücklichsten Falle mindestens eine lange finstere, kalte Nacht in ihr ausharren zu müssen. Fürchterlich, haarsträubend!

Die ganze Kraft unserer Kehlen zusammennehmend, über welche uns die Angst noch verfügen ließ, schrieen wir in die Wildniß hinaus nach Hülfe. Schauerlich tönten unsere Stimmen in der weiten traurigen Oede.

„Horch! – Antwortet’s nicht?“

Ich hielt den Athem an und lauschte in banger Erwartung.

– Nichts, nichts, nur der Widerhall unsers eigenen Rufens, welchen die Felswand drüben herüberwarf.

Von Neuem rufen, von Neuem lauschen wir. Vergebens, immer und immer vergebens!

Pst! – Das war keine Täuschung. Ein ferner Schall schlägt an unser Ohr. Es müssen Menschen auf dem Gletscher sein! Erlösung, Rettung naht; aufs Neue belebt die Hoffnung unsere schwindenden Kräfte.

„Hülfe, um Gotteswillen Hülfe!“ rufen wir, so laut es gehen will, und hören entzückt Antwort herüberklingen. Die Stimmen nähern sich, und bald können wir, trotz der Finsterniß, die inzwischen niedergesunken war, in geringer Entfernung von uns zwei Gestalten unterscheiden.

Es waren zwei seiner Diener, welche der Gletscherkundige nach uns ausgeschickt hatte. Vom Hochplateau seiner Residenz aus hatte er uns und unsere Irrfahrten und Anstrengungen gesehen und sandte uns die Hülfe, die wahrlich kam, als die Noth am größten war. Vorsichtig schritten die beiden Männer mit ihren dickbenagelten Bergschuhen der Stelle zu, wo wir gleichsam vor Anker hingen – dennoch konnten sie nicht ganz bis zu uns herabkommen. Sie warfen uns daher ein Seil zu, an dem wir uns wieder fest auf die Beine richteten und allmählich zu unsern Rettern hinaufgriffen. Aber die halberstarrten, steifen Glieder versagten uns den Dienst; mehr getragen, als geführt von unsern kräftigen Aelplern, gelangten wir an den Fuß der Felswand, auf deren breitem Rücken sich der Pavillon erhebt. Noch eine Viertelstunde unsäglichen mühevollen Kletterns auf einem in das Gestein eingehauenen Zickzackpfade,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_534.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)