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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

gehen, wo bleiben. Eben redete mir der Freund zu, ihm in die Hütte seiner Schwiegermutter zu folgen, – da hörten wir plötzlich Stimmen im Walde, dann Schritte, und bald vernahmen wir den Ruf: ‚Heinrich! Heinrich!‘ – endlich den Ruf: ‚Andreas!‘ Es war die Stimme meines Bruders. O diese Stimme! Sie durchdrang mich wie tausend Dolche, ich stürzte, wie von wildem Wahnsinn erfaßt, fort, weit und immer weiter, denn ihn zu sehen – wäre mir unmöglich gewesen. Plötzlich bannte ein geller Hülfeschrei aus weiter Ferne meine Schritte – da noch ein Ruf! Ich flog zurück, das Schrecklichste fürchtend. Todtenstille herrschte nun ringsum; der Stelle näher kommend, wo ich zuvor mit Heinrich gesessen, hörte ich noch ein leises Aechzen – dann Alles still; plötzlich aber die mit heiserer, fast erstickter Stimme ausgestoßenen Worte: ‚Jetzt, Viper, hast Du Dein Gift ausgespritzt!‘ O, wie sie meine Sinne im Kreise drehen machten, diese Worte, diese Stimme! Ich wollte schreien – ich brachte keinen Ton heraus; ich wollte vorwärts stürzen – meine Glieder waren wie gelähmt. Da rauschte es in den Zweigen, da eilte eine Gestalt an mir vorüber, ich sah Augen, die mich anstarrten, – es war mein Bruder!

„Dies meine letzte Erinnerung! Als ich das Bewußtsein wieder erhielt, waren Wochen vergangen; ich hatte die Krisis eines Nervenfiebers überstanden und – erwachte mit dem mir anhaftenden Brandmal eines Mörders im Gefängnisse. Schwach, krank, hoffte ich mit jedem kommenden Tage auf den Tod, ich mochte in dieser leider trügerischen Hoffnung nicht meinen Bruder als Mörder bezeichnen, und als ich gesund wurde, fühlte ich von Tag zu Tag deutlicher, daß seine Schande der Tod meiner Eltern sein würde. Aus den Verhören, in die man mich schleppte, erfuhr ich selbst erst alle nähern Umstände des Vorfalls. Ich hörte, daß der alte Bote des Dorfes es gewesen, der mich zuerst als den Mörder Heinrich Kamphagen’s bezeichnet. Der alte Schurke war mir gram gewesen seit dem Tage, wo ich als Knabe gesehen, daß er Enten aus dem Schloßgraben Ihres Onkels gelockt und gefangen. Ich hatte ihn nie angezeigt, ich hatte ihm seitdem manches Huhn, manche Ente von meiner Mutter erbettelt und ihm hundertfach Wohlthaten zugewendet, da er so bitter arm war – er vergalt die Rücksicht des Knaben, die Güte des Jünglings damit, daß er mich des Mordes anklagte! Ich war ihm am Tage meiner Heimkehr Morgens an der Parkwiese des Schlosses begegnet; Nachmittags hatte er mich mit Heinrich Kamphagen im Walde gesehen. Er war während des Hochzeitsmahles in den Hof meiner Eltern gekommen, hatte meinen Bruder zu sprechen verlangt, diesen aber erst gesehen, als endlich der Tanz auf der Tenne begonnen. Beide waren dann mitsammen durch’s Feld gegangen, wie sie ausgesagt, um mich zum Hochzeitsfest zu holen. Möglich, daß dies wahr, alles Andere, was sie beschworen, ist Lüge!“

Andreas hielt einige Secunden inne, dann fuhr er rascher fort: „Sie haben ausgesagt, Hülferufe hätten sie vorwärts getrieben in den Wald, sie seien zur Stelle gekommen, wo die Unthat verübt worden, im Moment, da die Braut des Schulzenknechts, Ilse Steinbrock, eine arme Weberin, mit lautem Schrei besinnungslos über die Leiche des Ermordeten hingestürzt wäre, und zehn Schritte von ihr entfernt hätten sie später auch mich gefunden! Mit einem seidenen Tuche war der Unglückliche halb erdrosselt, mit einem schweren Knotenstock war ihm das Gehirn eingeschlagen. Jenes Tuch, jener Stock – Beides gehörte mir, das Tuch trug die Anfangsbuchstaben meines Namens, der Knopf des Stockes – mein Wanderstab, meinen vollen Namen. Ich hatte das Tuch, wie ich mich später entsann, am Nachmittage abgenommen, der Stock hatte neben meinem Tornister gelegen. Alle diese Sachen zeugten gegen mich. Ein unglücklicher Zufall mußte sie meinem Bruder in die Hand geführt haben, als er, ein wenig berauscht, mit dem in Streit gerathen war, der wahrscheinlich für mich gesprochen und ihm sein Unrecht vorgehalten. Gezeugt hat mein Bruder nicht wider mich, er hat nur geschwiegen. Meine Vertheidigung hat zuerst einzig jene arme Weberin geführt, sie, die Braut des Ermordeten, hat so lange meine Unschuld beschworen, bis sie, wohl aus Kummer, wahnsinnig geworden! Kennen Sie die Verhandlungen, so werden Sie auch wissen, welche Wendung die Sache nahm, als jene Ilse Steinbrock für irrsinnig, ihre Aussagen für ungültig erklärt worden. Ich erfuhr das an dem Tage, wo mein Vater dem Schließer des Gefängnisses die Mittheilung gemacht, daß ihm ein Enkel geboren sei!“

„Das weißt Du?“ rief der Priester überrascht, fast entsetzt.

„Ja, Herr! – ich weiß noch mehr – Alles, weiß, daß seit drei Wochen jener Enkel eine Schwester hat und daß trotz des Unglücks, trotz der Schande, die ich über eine ehrliche brave Familie gebracht, der Herr sie nicht ganz verlassen hat und Gottes Segen sichtbarlich mit dem guten Sohne ist! – – –“

Andreas schwieg, auch der Priester war keines Wortes mächtig. Beide erlagen lange Zeit dem Eindruck des Gerichtes, das die Welt hält. Der Gefangne hatte seinen Beichtvater fester umklammert; mechanisch streichelte dieser das feuchte Haar, die eiseskalten Hände des unglücklichen Opfers irdischer Gerechtigkeit – menschlicher Falschheit! – endlich schien’s ihm doch zu viel, zu groß dieses Opfer, das ein Bruder dem andern brachte, und er fragte eindringlich:

„Willst Du es wirklich fort und fort tragen, dieses Elend, diese Schmach? – wird nicht einmal über Dich kommen der lebendige Wunsch, gerechtfertigt, schuldlos dazustehen?“

„Er ist schon über mich gekommen und überwältigt stets durch ernstes Nachdenken, durch reifliche Ueberlegung. Noch gestern schwankte ich eine Secunde, als Sie wieder in mich drangen, besiegte aber die Anwandlung schneller, als alle frühern Wünsche.“

„Wirst Du es aber immer können, Andreas?“

„Ich will, frommer Vater, und – ich kann! Das Schlimmste ist überwunden. Ich bin fest entschlossen – selbst zu sterben.“

„O, daß ich schweigen muß!“ rief der Priester traurig, „daß ich Deine Unschuld nicht laut verkünden darf, daß ich dies Alles als Beichtgeheimniß höre und ich Dich nun nicht hinstellen kann als den besten, den edelsten, den aufopferndsten der Brüder!“

„Und was hätt’ ich dann?“ rief der Gefangene. „Ich wüßte den Stolz, die Freude, den Liebling meiner Eltern in Ketten und Banden; ich würde den Vater, die Mutter entweder schnell vor meinen Augen sterben, oder in Gram und Verzweiflung langsam dahin siechen sehen. Ich wüßte die Geliebte meiner Jugend nicht allein öffentlich befleckt durch das Brandmal, Weib eines Mörders zu sein, ich sähe sie noch tiefer entehrt als das Weib eines ehrlosen Betrügers! Und wären sie’s allein! Eltern – Weib – aber, o Herr, da sind ja noch die Kinder. Sollen sie in früher Jugend beschimpft, geschändet sein? sollen sie durch’s lange Leben einen unehrlichen Namen tragen, sollen sie vielleicht fluchen Dem, der sie in’s Dasein gerufen hat? o nie, nie! Ich könnte in all diesen niederdrückenden Gedanken nie einen ruhigen, nie einen frohen Augenblick haben, während jetzt, inmitten meines Elends, oft Friede und Freude in meiner Brust herrschen, ein so wunderbarer Friede, eine so heilige Freude, daß Beides selbst einen verklärenden Schein über das traurige Bewußtsein wirft, in den Augen der Welt, in den Augen meiner Eltern als Mörder dazustehen!“




König Friedrich Wilhelm IV. stand auf dem mit Blumen geschmückten, mit Kränzen reichverzierten Bahnhöfe zu M., inmitten der Spitzen aller Civil- und Militärbehörden, inmitten einer dicht gedrängten Volksmasse, die den König, der sich einen Tag in der Stadt aufgehalten, nun auch bei der Abreise noch zu sehen trachtete.

Der König unterhielt sich im letzten Augenblick noch freundlich, leutselig mit Vielen, in seiner unwiderstehlich liebenswürdigen Art und Weise. Endlich war Alles gesagt und gesprochen. Friedrich Wilhelm machte eine Bewegung, die Jeder in seiner Umgebung verstand, grüßend wich Alles zur Seite, eine breite Straße öffnete sich, inmitten der dichtgedrängten Massen, Hüte wurden geschwenkt, Tücher wehten und ein nicht endendes Hurrah ertönte. Freundlich lächelnd schritt der Monarch langsam durch die Reihen, unermüdlich grüßend, oft Einen, der seinen Patriotismus vorwiegend laut an den Tag legte, mit ganz besonderer Heiterkeit in’s Auge fassend. Mit einem Male wurde inmitten alles Jubels seine Miene ernst, und scharf richtete er den Blick auf eine Gestalt, die einen Schritt aus der Menge vortrat. Es war ein junger Mann in geistlicher Tracht, der ihn mit großen, freudig leuchtenden Augen ansah und tief grüßte. Der König blieb dicht vor ihm stehen und sagte:

„Ich freue mich sehr, Sie noch zu sehen.“

„Mein höchster Wunsch ist erfüllt, wenn es mir noch vergönnt wird, Ew. Majestät meinen innigsten Dank für die Gnade auszusprechen!“ entgegnete der Geistliche.

„Folgen Sie mir aus dem Gedränge, lieber Baron, erzählen Sie mir, ob sich in Folge dessen Etwas ereignete.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_530.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)