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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

nordischen Städte Europa’s würden alljährlich, namentlich im Sommer, überschwemmt von einer großen Anzahl Deutscher, welche sich dort zu den niedrigsten Verrichtungen herabließen, im Vergleich zu welchen die Beschäftigung der savoyardischen Schuhputzer und Murmelthierbuben, die sich in London und Paris herumtreiben, eine anständige und die der Zigeunerbanden eine romantische genannt zu werden verdiene. Die meisten dieser das Ausland unsicher machenden Deutschen lebten im Grunde genommen von der Prostitution und vom Bettel; denn das Singen, das Musiciren und das Hausiren mit allerlei unbrauchbaren oder werthlosen Dingen, womit sie sich angeblich und äußerlich beschäftigen, sei nur der Vorwand und diene dem einen oder dem andern jener beiden elenden Erwerbszweige zum Vorwand. Nun beurtheile man die Nation nach diesem ihrem Auswurf, und da man von den andern europäischen Völkern nur feine, gebildete und wohlhabende Leute sehe, von dem deutschen Volke aber meist nur diese verkommenen und verwahrlosten Menschen, so sei es natürlich, daß man annehme, Deutschland stehe auf der untersten Stufe der Cultur, noch etwas unter Savoyen, das wenigstens Stiefeln zu wichsen und Murmelthiere abzurichten verstehe.

Trotz der vollsten persönlichen Glaubwürdigkeit der Erzählenden hielt ich das Gehörte für unrichtig oder wenigstens für übertrieben. Ich nahm mir darum vor, selbst Nachforschungen darüber anzustellen. Leider bestätigten diese das Mitgetheilte in vollem Maße und ergaben weiter, daß es besonders das Herzogthum Nassau ist, welches von seiner halben Million Einwohnern alljährlich Hunderte, vielleicht Tausende aussendet, um den deutschen Namen im Auslande zu beschimpfen in einer Weise, die noch schlimmer wirkt, als es die Schmach des mecklenburgischen Prügelgesetzes, des menschenunwürdigen Productes jener „kleinen, aber mächtigen Partei“, im Augenblicke zu thun scheint.

Ja, noch schlimmer; denn, frage ich, ist es eine geringere Schande für Deutschland, daß ein Ländchen von 85 Q.-Meilen und 450,000 Einwohnern, über das die gütige Natur ihr reichstes Füllhorn ausgeschüttet, das sie gesegnet hat mit dem edelsten Wein, den herrlichsten Wäldern, den größten Mineralschätzen, mit Brunnen und Bädern, mit Wasserkraft und Wasserstraßen, mit einer rührigen und geistig hochbegabten Bevölkerung; daß ein Land, welches an der großen Heerstraße der europäischen Völkerwanderung liegt, das jeder Engländer, der den Continent bereist, jeder Franzose, der einmal seinen Fuß über seine Landesgrenze gesetzt, jeder Amerikaner, der einmal dem „Old Europe“ einen Besuch gemacht hat, kennt, das er kennt als schön, reich, blühend, als ein kleines Paradies, als ein „Stückchen Himmel, das auf die Erde gefallen ist“, – daß dieses Land jährlich Hunderte von Männern und Weibern, und was noch schlimmer ist, Hunderte von verwahrlosten Kindern zum Bettel und zur Prostitution nach den ausländischen Hauptstädten schickt, damit sie dort den deutschen Namen schänden?


Im Juni 1862 besuchte ich die Ausstellung in London. Mein Weg führte mich dort öfters von Charing Croß, in dessen Nähe ich wohnte, nach den botanischen und zoologischen Gärten des Regents-Parks, wo ich meine bescheidenen Studien machte. Wenn man die geräuschvollen Strecken der eleganten Regents-Street hinter sich hat, kommt man in die stilleren Quartiere von Portland-Place etc. Hier traf ich stets, sei es auf dem Hin- oder Rückweg, ein Rudel Jungen, die auf mißförmigen Hörnern aus verbogenem Kupferblech eine grauenhafte Musik machten, nach deren Beginn sich alsbald die Fenster der Umgebung öffneten und Penny- oder Halb-Pennystücke auf die Straße herunterfielen. Einer der Jungen sammelte sie, und sobald dies Geschäft beendigt war, hörte die Musik auf, und die Bande zog ein paar Häuser weiter, um denselben Act der Grausamkeit von Neuem zu beginnen. Es handelte sich hier offenbar nicht um einen Ohrenschmaus. Denn die Musik – vorausgesetzt, daß man das von den Jungen hervorgebrachte Geräusch so nennen durfte – war nicht zum Anhören. Sie wurde gemacht, nicht um den Zuhörern ein Vergnügen zu bereiten, im Gegentheil, um sie zu mißhandeln, damit sie sich möglichst schnell entschlossen, sich von dieser Qual zu befreien dadurch, daß sie einen Penny oder einen halben Penny zum Fenster hinaus warfen. Die Hörner dienten zur Ausübung eines qualificirten Bettels. Sie waren weniger musikalische Instrumente, als vielmehr reine Folterwerkzeuge.

Ich ließ mich mit den Buben, da sie unsere Muttersprache redeten, in ein Gespräch ein. Sie erzählten mir, sie seien aus Nassau, und zwar aus dem Amte Wallmerode, das durch seine ultramontane Abstimmung bekannt ist. Auf meine Fragen, ob sie etwa Brüder seien oder wie sie sich sonst zusammengefunden hätten, ob sie Musikanten von Metier seien (was ich in Anbetracht ihrer geringen Leistungen bezweifelte) und was sie nach London geführt habe, erwiderten sie mir, sie gehörten verschiedenen Familien und auch verschiedenen Dörfern an, ein Theil von ihnen sei noch im schulpflichtigen Alter, der Aelteste sei sechszehn Jahre alt; ihre Eltern hätten sie an einen Mann aus dem Odenwald vermiethet, dieser habe ihnen die Hörner gegeben, sie auch, so viel sie es könnten, blasen gelehrt und nach London geführt, wo sie den Tag über auf den Straßen der nördlichen und westlichen Stadttheile ihrem Beruf oblägen, so wie ich es gesehen habe. Abends kehrten sie zu ihrer Kneipe zurück, die östlich vom Tower in einer engen und schmutzigen Straße liege und deren Eigenthümer ebenfalls ein Deutscher sei, dort wohne auch der Mann, der sie gemiethet habe und glänzende Geschäfte mit ihnen mache, denn sie müßten ihm jeden Abend das Geld, das sie den Tag über eingesammelt, abliefern; das sei in der Regel viel, und wenn es ihrem „Unternehmer“ nicht genug sei, bekämen sie Schläge. Ueberhaupt beklagten sie sich bitterlich über schlechte Kost und üble Behandlung, ihre Eltern seien arme Leute, aber sie hätten es doch zu Hause besser gehabt, als hier in dieser fremden, mächtigen Stadt, an deren Ende man gar nicht kommen könne. Der „Unternehmer“ habe ihren Eltern und ihnen, den Jungen selbst, goldene Berge versprochen; wenn sie jedoch gewußt hätten, wie es ihnen ginge, dann hätten sie sich lieber bei der Ueberfahrt in das Meer gestürzt; auch ihre Eltern hätten das gewiß nicht so haben wollen, sonst würden ihnen die „Blutkreuzer“, wofür sie ihre Kinder verschachert hätten, gewiß keinen Segen bringen.

Ich erbot mich ihnen zu helfen. Ich wollte mich an die preußische Gesandtschaft oder an den preußischen Generalconsul wenden, um durch deren Hülfe zu versuchen, was sich zur Befreiung der Jungen thun ließe, die ja, wenn auch nicht zu Preußen, denn doch dem Zollverein angehörten, und Preußen hat ja seine Agenten im Auslande angewiesen, sich der Zollvereinsangehörigen nach Kräften anzunehmen. Ich sagte das den Jungen, allein sie lehnten mein Anerbieten ab. Sie meinten, andere ihrer Leidensgefährten hätten das schon probirt, aber ohne Erfolg, sie hätten dadurch ihre Lage nur noch verschlimmert; das helfe nichts. Bei den Behörden in London sei für den armen Ausländer kein Recht zu finden, und dem „Unternehmer“, der hier alle Pfiffe und Schliche kenne, werde mehr geglaubt; sie müßten sich nun einmal in das Unabänderliche fügen und warten, bis es zu Ende gehe. Da ich ihnen also nicht helfen konnte, so gab ich ihnen ein Stück Geld und den Rath, sich dafür ein ordentliches Luncheon (Gabelfrühstück) anzuschaffen. „Denn,“ sagte ich ihnen, „da Ihr gesetzlich freie Leute und nur mißbräuchlich Sclaven seid und da Ihr nach Euerem Vertrag nur das an Eueren Unternehmer abzuliefern habt, was Ihr mittelst Euerer sogenannten Kunst erwerbt, nicht aber auch das, was man Euch schenkt, so glaube ich, daß Ihr berechtigt seid, das Geld, das ich Euch nicht wegen, sondern trotz der gräulichen Disharmonie, womit Ihr das menschliche Ohr peinigt, gebe, nicht an Eueren Unternehmer abzuliefern, sondern zu eigenem Nutzen zu verwenden.“ Ich hoffe, daß die Jungen meinen Rath befolgt haben.

Auf meinem ferneren Marsch nach dem Regents-Park stieß ich auf eine Truppe Neger, die ebenfalls für Geld musicirten. Ihre Musik war weit besser, und die stumpfnasigen, wollhaarigen Söhne Aethiopiens waren fröhlich und wohlauf. Sie waren wohlgekleidet und schienen gut genährt. Kurz, diese Neger machten den Eindruck von Gentlemen im Vergleich zu den armen weißen Sclaven aus Deutschland, die von ihren Eltern um ein Paar Silberlinge verschachert worden waren!

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