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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Wir könnten unseren Söhnen gewiß nicht leicht eine bessere praktische Schule des echten deutschen Patriotismus geben, als indem wir sie zur Züricher Hochschule schickten. Nicht selten führt die Mischung der Nationalitäten auch zu den pikantesten Scenen. So fand vor einigen Jahren ein literarisches Banket statt. Es war zahlreich von Studirenden der Hochschule und des Polytechnicums besucht. Einer derselben, ein hochgewachsener blondlockiger Jüngling mit blitzenden blauen Augen, ein echter Sproß des alten Sachsenstammes aus der Lüneburger Haide, brachte ein Pereat auf Napoleon und ließ sich im jugendlichen Ungestüm fortreißen, sein Pereat auf die ganze französische Nation auszudehnen. Sofort erhoben sich die anwesenden Franzosen und Italiener pfeifend und zischend. Nur der Geistesgegenwart des bekannten F. Wille aus Hamburg gelang es, den Sturm noch zu beschwören. Kaum hatte sich dieser gelegt, als G. A. Wislicenus in einer Rede über Schleswig-Holstein von „dänischer Tücke“ sprach; da standen die anwesenden Dänen und Norweger auf und verließen still das Local. Man ließ sie ziehen, sie werden sich wohl mit Recht getroffen gefühlt haben. So rauschten in lebendigem Flusse Dissonanzen und Accorde vorüber, wie in einer Symphonie. Solche Scenen können nur in Zürich vorkommen. So klein sie erscheinen, sollten sie nicht doch auch ernste Belehrung und Anregung, namentlich für das jugendliche Gemüth bieten?

Das sind einige von den Eigenthümlichkeiten des Bodens, in welchem die Züricher Hochschule wurzelt. Fragen wir nun, wie und von wem sie gepflegt worden ist, so werden wir wiederum einen der Factoren finden, welche diese Anstalt zu hoher Bedeutung bringen konnten. In der That, es sind hervorragende Männer gewesen, die mit dem Bestehen der Hochschule das zürcherische Erziehungswesen geleitet haben. Die Stelle des Erziehungsdirectors ist seit den dreißiger Jahren überhaupt die erste Stelle im Staate. Mehrere derselben haben in den weitesten Kreisen berühmte Namen. So war es anfangs C. F. Keller, der berühmte Pandektist, der als Erziehungsdirector an der Spitze der Züricher Hochschule stand. Zwar ist sein Name durch seine spätere poetische Thätigkeit in Berlin befleckt worden, aber die eminenteste Befähigung wird ihm Niemand absprechen, und in seiner Stellung als Züricher Erziehungsdirector hat er sie nur im guten Sinne verwendet. Später haben nacheinander Alfred Escher und Dubs, der dermalige Bundespräsident, an der Spitze des Erziehungswesens gestanden. Für Beide war diese Stellung der Ausgangspunkt ihrer großen staatsmännischen Laufbahn. Sie gehören jetzt zu den einflußreichsten Staatsmännern der Eidgenossenschaft und sind als solche jedem Zeitungsleser zu geläufige Namen, als daß es nöthig wäre, über sie noch mehr zu sagen. Dubs’s Nachfolger, Dr. Suter, ist gegenwärtig Erziehungsdirector. Sein Name ist zwar in weiteren Kreisen noch wenig gekannt, da er bis jetzt noch nicht in der eidgenössischen Politik aufgetreten ist, die meist ausschließlich im Auslande Beachtung findet; allein in schwungvoller, umsichtiger und gewissenhafter Behandlung seines Ressorts giebt er seinen Vorgängern nichts nach.

Eine Eigenthümlichkeit in der Leitung der zürcherischen Hochschule besteht schon darin, daß jene Erziehungsdirectoren ausnahmslos junge Männer waren. Da giebt es denn nichts von jenem in Vorurtheilen eingerosteten bureaukratischen Schlendrian. Der leitende Staatsmann greift selbst mit frischer Hand an und steht in beständigem unmittelbaren Verkehr mit dem Lehrkörper. Von einem langweiligen Instanzenzuge von Behörden und Referenten ist nicht die Rede. Selbstverständlich sind diese Vorzüge zum Theil an die Kleinheit des zürcherischen Staatswesens geknüpft. Man sieht hier, beiläufig sei es gesagt, einmal einen Vorzug der Kleinstaaterei – freilich ist die Kleinstaaterei der Schweiz republikanisch.

Die Jugend der leitenden Staatsmänner hat nun auch, gleichsam durch Anziehung des Gleichartigen, den Lehrkörper zu einem jugendlichen gemacht. Derselbe ist von jeher bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich aus jungen Männern zusammengesetzt gewesen. Es sind z. B. augenblicklich höchstens sechs derselben über fünfzig Jahre alt. Daß dieser Umstand einer Hochschule ein ganz eigenthümliches Gepräge aufdrücken muß, begreift sich leicht. Den ganzen Werth davon kann man aber ermessen, wenn man einmal die gelehrten Perrücken so mancher deutschen Universität auf einem Haufen zusammensitzen gesehen hat.

Den genannten Vorzug verdankt übrigens die Züricher Hochschule zum Theil einem Mangel, nämlich dem Mangel an – Gelde. Zwar thut ökonomisch der Staat Zürich für seine Hochschule verhältnißmäßig zehnmal soviel als Preußen und fünfundzwanzigmal soviel als Oesterreich für die seinigen, aber eine Bevölkerung von 250,000 Seelen kann bei der aufopferndsten Bereitwilligkeit doch keine großen Summen aufbringen. So waren denn allerdings die leitenden Behörden schon darauf angewiesen, bei Berufungen immer vorzugsweise ihr Augenmerk auf Gelehrte zu richten, die noch keine einträglichen Stellen inne hatten und darum mäßige Ansprüche machten. Das große Verdienst der Behörden besteht aber darin, daß sie mit bewundernswerthem Scharfblicke – der in ihnen fast traditionell zu sein scheint – junge aufstrebende Talente herauszufinden wußten, welche sich dann in ihrer Wirksamkeit an der Züricher Hochschule Anerkennung und Ruf – mancher einen großen Namen – gemacht haben. In der That wüßte ich in dieser Beziehung kaum einen Fehlgriff zu bezeichnen.

Meisterlich verstanden es die Behörden auch Vortheil zu ziehen von der zeitweise traurigen politischen Lage des großen deutschen Vaterlandes. Wie manchen seiner edelsten Bürger stießen übelberathene Regierungen aus! Hier fanden die Verbannten Aufnahme und wurden Zierden der Hochschule. Ohne dies hätten Oken, Temme, Mommsen, Köchly und andere schwerlich jemals in Zürich gelehrt.

Mit Gründung des eidgenössischen Polytechnicums im Jahre 1855 trat die Hochschule in eine neue Phase ihrer Entwickelung. Die näheren Umstände der Gründung jener Anstalt und ihre Beziehungen zur zürcherischen Hochschule sind so eigenthümlicher Art und bergen so wichtige Keime zukünftiger Entwickelungen in sich, daß sie wohl verdienen in weiteren Kreisen bekannt zu werden. Schon längst lag den schwungvollsten Staatsmännern der deutschen Schweiz, neuerdings namentlich Alfred Escher, Kern und andern, der Plan sehr am Herzen, die Züricher Hochschule zu einer eidgenössischen zu erweitern. Die französisch redende Schweiz war jedoch diesem Plane wenig geneigt. Um diese dafür zu stimmen, nahmen jene Politiker in ihren Plan die Gründung eines eidgenössischen Polytechnicums auf, welches in der wälschen Schweiz seinen Sitz haben sollte. Mit diesem Doppelvorschlag traten sie vor die Bundesversammlung. Die eidgenössische Hochschule war der Angelhaken, das Polytechnicum der Köder für die Westschweiz. Aber der Hecht war klug und biß den Köder ab, die Angel ließ er fahren. Kurz, es wurde blos der das Polytechnicum angehende Theil des Vorschlages angenommen. Doch jene Staatsmänner ließen sich dadurch in ihrer Richtung nicht beirren. Das augenblickliche Mißlingen ward für sie Veranlassung nur einem noch höheren Ideal nachzustreben, das jetzt mit sicherem Schritt seiner Verwirklichung entgegengeht. Dieses Ideal ist nichts Geringeres, als die wahre noch gar nirgends dargestellte universitas litterarum, eine hohe Schule, auf welcher wirklich Alles, was den Namen Wissenschaft im höchsten Sinne verdient, gepflegt und gelehrt wird. Und wahrlich, die technischen Wissenschaften haben auf diesen Namen nicht weniger Recht als so manches, was in dem scholastischen Bau der vier Facultäten Platz gefunden hat! Sollten diese erhabenen technischen Wissenschaften, die unter unseren Augen die Welt umgestalten, ewig verdammt sein auf engherzig angelegten Drillanstalten eingeschulmeistert zu werden – blos weil diese Wissenschaften damals, als die Universitäten gestiftet wurden, noch nicht erfunden waren? Nein, der Rahmen der Universitäten muß erweitert werden, so daß er jene Wissenschaften mit umspannen kann, denen wir Eisenbahnen und Telegraphen verdanken und die auch an innerer Würde, an Tiefe der Speculation und an folgerechter Gedankenentwickelung den Wissenschaften der vier alten Facultäten um kein Iota nachstehen. Diese neuen Wissenschaften müssen endlich mit den alten in engen gegenseitig befruchtenden Verkehr treten und wie sie auch in wahrhaft humaner Weise dem freien Schüler gelehrt werden.

Es ist interessant zu verfolgen, wie diese Idee einer wahren universitas litterarum, welche in der Geschichte der höheren Bildungsanstalten Epoche machen wird, durch eine Verkettung von zufälligen Umständen sich in’s Dasein ringt. Jene Staatsmänner, welche sie mehr oder weniger bewußt erfaßt hatten, brachten nach Verwerfung der eidgenössischen Hochschule durch die Bundesversammlung vor Allem einen Compromiß zu Stande, daß wenigstens Zürich der Sitz des Polytechnicums werde. Sofort wurde nun aus scheinbar äußeren Gründen – nämlich einfach der Ersparniß wegen – eine Verbindung mit der Züricher Hochschule in verschiedenen Beziehungen hergestellt. Der Züricher Staat, welcher das Gebäude für das eidgenössische Polytechnicum zu erstellen hatte,

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