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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

eisernen Schienen sind dort eisernen Menschen begegnet, die fest an ihren Ansichten hingen, fest wie die stämmigen Eichen in ihren Wäldern blieben.

Der Bauer bestellt noch sein Feld, sein Weib das Haus, wie ehemals, und auch „dä Lüttgen“, die Kinder, lassen sich von den Wolkenbergen des Dampfrosses nicht verleiten, ihr Glück anderswo, als auf dem heimathlichen Boden ihrer rothen Erde, zu suchen. Mehr oder minder hängt jeder Westphale treu an seinem Geburtslande, und wo er auch ist, ihn zieht’s zurück in den grünen Kamp seiner Eichen, in die schattigen Haine seiner Buchen – den Aristokraten, wenn er die Welt durchstreift, den Bauer, wenn er’s in der Fremde versucht hat! Jene meinen: „Es giebt nur in Westphalen einen schönen Edelsitz;“ diese denken: „Nur Westphalen hat solche Bauernhöfe!“

Den Bauern lockt die Fremde noch weniger, als den Edelmann. Ruhig sah der im Stromthal lebende Hofbesitzer oder der Heuerling (Tagelöhner des Bauern), welcher sich am Ufer der Weser seinen Kotten (Hütte) erbaut, die überfüllten Dampfboote an sich vorüberziehen, die einst Tausende von auswandernden Hessen gen Bremen trugen, wo sie sich mit goldenen Illusionen nach Amerika einschifften. Bedächtig wiegte der westphälische Bauer das Haupt hin und her ob des „Amärikafievers“ und trat, kopfschüttelnd über das Risico, unter das Laubdach seiner alten Linden, das den stattlichen Hof des Reichen, wie den bescheidenen Kotten des Heuerlings beschattet.

Bei Arm und Reich ist die Bauart der Häuser ziemlich gleich, Lehmwand und Halmendach fast überall, nur daß der Hofbesitzer mehr Gebäude aufführt, als der arme Tagelöhner auf seinem Grund und Boden errichten kann. Bäume, einen Weiher, hat der kleinste Kotten; ein Buchenhag, eine Weißdornhecke umzäunt auch sein geringes Gebiet. Ebenso ist in der Erziehung, in der ganzen Lebensweise, selbst im Lebenslauf zwischen Arm und Reich wenig Unterschied. Der reiche Bauer arbeitet nicht minder fleißig, als der arme, nur daß Noth und Sorge um’s liebe Leben ihm nicht die Arbeit erschweren. Wo der reiche Bauer sie aber beim armen sieht, sucht er ihr abzuhelfen, soweit er kann. Wird auf dem Hof des reichen Bauern oder in der niedrigen Lehmhütte des armen ein Sohn geboren, so ist die Freude der Eltern immer reiner und auch größer, als wenn ein Mädchen das Licht der Welt erblickt. Ist ein Erbe des Reichthums oder der Armuth da, dann kann ein Mädchen schon allenfalls ruhiger in’s irdische Dasein treten. Beruhigt blickt auch dann die Hof- oder Hausmutter auf ihre Schaar Gänse, oder das eine auch beim kleinsten Kotten nicht fehlende Ziegenpaar, denn mit der Geburt einer Tochter hat Reich und Arm für diesen Theil seines Viehbestandes eine „Hüterin“ gewonnen.

Die Taufe der Kinder, „Kindelbeer“ genannt, ist bei Arm und Reich ein Fest. Da wird die Tenne, jener Raum des Hauses, welcher der größte ist, wo gedroschen wird, wo die Küche ist und bei wärmerer Jahreszeit Alles wohnt und lebt, mit Sand gestreut, mit Tannenzweigen besteckt. In der einzigen Wohnstube, die jedes Haus hat, werden Pathen und Gevattern, der Geistliche und der Cantor mit Kaffee bewirthet, mit Kuchen und Wecken (Semmeln) tractirt, und selbst der Luxus des Zuckers fehlt nicht. Leider ist’s Zuckerkand, brauner und weißer, oft so hart, daß er seine Schuldigkeit „zu schmelzen“ erst dann erfüllt, wenn aus der mächtigen Kanne zum sechsten Male sich ein glühend schwarzer Lavastrom über seine starren Zacken ergossen hat.

Der Geistliche „dä Paßter“, wie man ihn nennt, darf bei einer Kindelbeer ebensowenig fehlen, wie bei jeder andern Döhnte (Fest), und fehlt auch nicht. Eine Kindelbeer ist gleich einträglich für ihn, wie für Eltern, Kind und Hebamme. Die Pathen müssen mit offenen Händen kommen und thun’s auch bereitwillig, denn es ist eine Art Ehrensache bei den Bauern, „Gevatter“ zu sein. Sie haben denn nicht allein dem „Paßter“, dem „Kanter“ und der Hebamme einen Thaler zu reichen, sie sind auch verpflichtet, der Mutter ein Geschenk an Geld zu machen und selbst dem Täufling mindestens einen Thaler in das Wickelbettchen zu stecken. Der einigermaßen begüterte Bauer wird aber immer für sein Pathchen ein Goldstück übrig haben, und der Meier oder Hofbesitzer giebt nicht allein dem Kinde an dem Tage, wo er’s über die Taufe hält, solch Geschenk an Geld – er sorgt auch ferner fort und fort für dasselbe und läßt namentlich ein Kind armer Leute nie vergessen, daß seine Hand es einst gehalten.

Eins ist aber dem Reichsten unangenehm, jene im Mindenschen herrschende Sitte, daß derjenige, in dessen Arme der Täufling zuerst schreit, verpflichtet ist, ein Kleid zu schenken, denn derselbe ist zugleich dem Witz, dem Necken, dem Spott der andern Kindtaufsgäste während der Dauer des ganzen Festtages überliefert.

Die klugen Pathen und vorsichtigen Gäste stellen sich daher möglichst gut mit der Hebamme, um den Täufling noch in dem Stadium innerer und äußerer Befriedigung zu erhalten, wo kein Aufschrei zu riskiren ist. Selbst Pastor und Cantor verschmähen nicht, durch gnädig Wort sich bei jener wichtigen Person des Dorfes zu insinuiren. Wer’s aber versäumt, der auf ihr Amt so stolzen Alten Beweise seiner Hochachtung zu geben, der ist sicherlich bei nächster Kindelbeer der „Geprellte“. Die in Kinderbehandlung Erfahrne wird nämlich den kleinen Weltbürger heimlich dann durch einen Stoß oder Druck zum Schreien bringen, wenn der an die Reihe kommt, dem sie die Kleidausgabe zugedacht hat.

Kann der Täufling auf eigenen Füßen stehen und fest genug gehen, daß er nicht mehr Gefahr läuft, im Weiher des Hofes, respective „Entenpfütze“ zu ertrinken, so giebt man dem Kinde einen Stab in die Hand, oft doppelt so groß, wie das kleine Wesen selbst, und vertraut ihm Gänse, Schweine, selbst Kühe zum Hüten an.

Bis die Kinder im siebenten oder achten Jahre dem Dorfcantor zur geistigen Ausbildung unterstellt werden, bringen sie ihre Zeit auf den Weiden hin, später – ist’s ihre Erholung in den Freistunden. – Die kleinen Mädchen geben bei Ausübung ihrer Funktion, die Gänse zu hüten, oft das reizendste Genrebild ab. Da sitzen sie meist ehrbar am Abhang eines grünen Rains, gelehnt an den weißen Stamm einer schlanken Birke, oder neben knorriger Weide, eine Bilderfibel in den Händen, und während die Gänse schnatternd zu ihren Füßen grasen, schauen sie aufmerksam in eine neue kleine Welt – die der Kunst, welche sich ihnen durch solch Buch allein öffnet.

Ein alter Schäfer ist mitunter so freundlich, im Vorüberkommen diesen lieblichen blauäugigen Kleinen mit den Schätzen seines Wissens und seiner Erfahrung zu Hülfe zu kommen. Beides ist nicht groß, denn selten ist er über die Hürden seiner Schafe und Wiesen hinausgekommen, und meist ist sein einziger Freund sein treuer Spitz. Er hat aber viel im großen Buche der Natur gelesen, und Wolken, Luft und Winde haben ihm mehr zugeflüstert, als Andern. So weiß er denn dem aufhorchenden Kinde gar mancherlei zu erzählen, und während er den kleinen Geist in die großen Wunder der weiten Gottesschöpfung einführt, bellt sein Spitz die unterhalb des Rains in friedlicher Ruhe grasenden Gänse so lange an, bis sie endlich flügelschlagend und zischend Opposition gegen den Lärm bilden und durch diese kampfbereite Stellung den Angreifer in die Flucht treiben.

Weniger poetische Bilder bieten die hütenden Knaben. Sie liegen oft, nichts weniger als graziös, inmitten der ihnen anvertrauten Schweine, und ein Hauptzweig ihrer Unterhaltung bei der geistig durchaus nicht anregenden Beschäftigung besteht darin, die Pelzmütze, welche bestimmt ist, ihren genialen Flachskopf zu bedecken, und Sommer wie Winter getragen wird, auf den Fußspitzen zu balanciren. Doch selbst da wird ein vorübergehender Wanderer oft stehen bleiben, sowohl um in’s frische fröhliche Gesicht der kräftigen Knaben zu schauen, als die Staffage zu betrachten. In’s tiefe Dunkel der Eichenwälder treiben nämlich die Knaben ihre Thiere, werfen sich da spielend in’s hohe Gras, und gewähren so ein um so lebendigeres Bild des Aufblühens jenes urkräftigen, gesunden, starken Menschenschlags, der zu den kernigen Eigenthümlichkeiten des Landes der rothen Erde gehört. Im Walde, auf den alten Bäumen, da lernt auch der Dorfknabe das Klettern und Springen, das ihm später, wenn im Jünglingsherzen sich die Liebe regt, oft so gut zu Statten kommt. Sinkt dann die Sonne hinter den grünen Eichenkamp, so zieht der junge Bauer rasch aus dem offenen Brunnen im Hofe einen Eimer Wasser empor, steckt Kopf und Hände hinein, legt frische Wäsche, ein sauberes Camisol an, oder – ist’s Lieb besonders fein, wählt er wohl den langen Rock von weißen Linnen, seinen Sonntagsstaat – und, befreit von des Tages Staub und Hitze, eilt er über Feld und Wiese zu dem Gehöft, wo er unter den dunkeln Linden helle Augen weiß, die sehnsuchtsvoll nach ihm schauen. Will das Glück und Schicksal ihm wohl, so empfängt seines Mädchens Vater

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