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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

dem Budget ein unersetzlicher Einnahmeausfall erwachsen werde, und nahm daher anstatt des vorgeschlagenen einen Penny’s, den Satz von 4 Pence – ungefähr 3 Ngr. – für ein Briefgewicht von 1/2 Unze an. Jedoch schon nach wenigen Monaten, Januar 1840, ermannte man sich zu der kühnen That, das Porto des einfachen Briefes für alle Entfernungen im Lande auf jenen beantragten einen Penny zu ermäßigen.

Rowland Hill erhielt nun einen Posten im Ministerium, bis die Tories unter Robert Peel mit dem gesammten Whigcabinete auch ihn aus seiner Stellung verdrängten. Die Nation wußte ihren Wohlthäter besser zu würdigen; bei einem großen Festmahle überreichte sie ihm das Ehrengeschenk von 15,000 Pfd. Sterl. Mit den im Jahre 1846 wieder an’s Ruder gelangenden Whigs ward auch Hill von Neuem zum öffentlichen Dienste herangezogen und 1854 Generalpostsecretär. 1860 von der Königin zum Ritter geschlagen und nun Sir Rowland Hill, bekleidete er seine Stelle bis Ende Februar dieses Jahres, wo er sich nicht in das Dunkel, sondern in die wohlverdiente Ruhe des Privatlebens zurückzog, nicht ohne daß ihm die Nation von Neuem ihre dankbare Anerkennung an den Tag gelegt hätte. Auch die Regierung ehrte die unvergeßlichen Verdienste des Mannes, indem sie ihm die erbetene Entlassung in der schmeichelhaftesten Form bewilligte und seinen vollen Gehalt von Zweitausend Pfd. Sterl. als Pension beließ.

Gern zeichneten wir der Gartenlaube ein ausgeführteres Lebensbild Sir Rowland Hill’s, leider aber legt der Raum, für diesmal wenigstens, sein Veto ein. Wir wollen daher nur noch in kurzen Zügen die Hauptmomente seiner Wirksamkeit zusammenstellen.

Daß Rowland Hill der Urheber der jetzt über die ganze Erde verbreiteten Briefmarken ist und mithin die grassirende Briefmarkensammlungsmanie indirect verschuldet hat, wissen alle unsere Leser, vielleicht aber nicht, daß man ihn nicht den eigentlichen Erfinder der Briefmarken nennen kann. Schon unter Ludwig XIV. nämlich gab es in Frankreich bestempelte Freicouverts, die, von einem Herrn von Velayer erdacht, freilich rasch wieder außer Gebrauch kamen. Auch die Erweiterung des Postanweisungsinstitutes, das in kleinem Maßstabe in England schon seit 1792 bestand und nunmehr auch im deutsch-österreichischen Postgebiete Eingang gefunden hat, ist Hill’s Werk, wie ebenso er es war, welcher den Gedanken faßte, die zahlreichen Haupt- und Nebenpostämter Englands zugleich als bequeme Sparcassen für das Volk zu benutzen, von denen seit 1861, wo die erste in’s Leben trat, jetzt in England an 2000, in Irland 450 und in Schottland 400 existiren mit einer durchschnittlichen Wocheneinlage von über 40,000 Pfund Sterling.

So ist der einstige arme Schulmeister der Wohlthäter nicht blos seiner eigenen Nation, sondern unser Aller geworden, die wir Briefe schreiben und empfangen, und wir müssen nur beklagen, daß man in Deutschland noch immer nicht zu einer unverkürzten Annahme seiner Reformen Kopf und Muth genug besitzt; daß man noch immer an der dreifachen Portozone festhält und daß man die Hill’sche „Buchpost“ nicht adoptirt, welche dem Engländer um wenige Pence die Segnungen des Culturlebens rasch in den entlegensten Winkel seines Landes vermittelt. Das Penny-Postsystem hat nicht nur alle Weissagungen zu Schanden gemacht, mit welchen die gute alte Zeit über seine Einführung lamentirte, es hat auch die Erwartungen weit hinter sich gelassen, die sein Urheber und mit ihm die Freunde des Fortschritts daran zu knüpfen wagten, – es hat Englands Postwesen zu einem Institute erhoben, auf welches die Nation mit Recht stolz sein kann.

„Eine Vergleichung des Jahres 1863 mit 1838, dem letzten vor Annahme meines Systems,“ so sagt Sir Rowland selbst in dem Rundschreiben, mit dem er aus seiner Stellung scheidet, „zeigt, daß die Zahl der jährlich durch die Post beförderten Briefe von 76 Millionen auf 642 Millionen angewachsen und daß der Ertrag nicht nur in kurzer Zeit die Einnahme aus den alten hohen Portosätzen erreicht hat, sondern von 2,346,000 Pfund Sterling Brutto auf nahe an 4 Millionen Pfd. Sterl. und von 1,660,000 Pfund auf 1,790,000 Pfd. Sterl. Netto gestiegen ist. Die Zahl der Briefe hat sich mithin fast verneunfacht, während der Nettogewinn um 130,000 Pfd. Sterl. zunahm. Die Entwickelung des Geldanweisungssystems ist eine noch rapidere gewesen; seit 1839 hat der Jahresumsatz eine Erhöhung von 313,000 Pfd. Sterl. auf 161/2 Millionen erfahren, sich also verzweiundfünfzigfacht. Das Hauptmoment aber bleibt immer, daß es mir gelungen ist, dem Publicum einen leichteren, billigern und umfassendern Verkehr zu verschaffen, ohne die öffentlichen Einnahmen zu verringern, und daß meine Ideen in größerem oder geringerem Umfange in der ganzen civilisirten Welt die Bahn gebrochen haben zu solchem Endzwecke.“

Sie scheint klein und einfach, die Idee einer Portoermäßigung und Portogleichmäßigkeit, und doch ist sie eine große That gewesen. Wie heute Niemand mehr des britischen Postwesens gedenken kann, ohne zugleich seines Reformators, seines Neuschöpfers zu gedenken, so wird der Name Rowland Hill unverlöschlich eingegraben stehen auf den Tafeln der Culturgeschichte der Menschheit.





Blätter und Blüthen.


Ein moderner Mädchenbrief. Vor Kurzem brachten fast sämmtliche Pariser Tagesblätter, unter der Rubrik: „verschiedene Neuigkeiten", die nachstehende Notiz:

„Gestern in den Morgenstunden hat sich ein junger Mensch von der Höhe des Pont-Royal in die Seine gestürzt; mehrere Fischer, die auf dem Flusse beschäftigt waren, eilten ihm sogleich zu Hülfe, sie kamen aber zu spät und es gelang ihnen erst nach zwei Stunden unermüdlichen Suchens den entseelten Leichnam aus den Fluthen zu ziehen. Da man nichts bei ihm fand, was seine Identität hätte nachweisen können, sah man sich genöthigt, ihn nach der Morgue bringen zu lassen.“

Der junge Mann, von dem in vorstehender Notiz die Rede ist, war 23 Jahr alt, er war Dichter und hatte sich schon in der literarischen Welt einen geachteten Namen erworben. Ich habe ihn genau gekannt, er war fast mein Freund. Die materiellen Prüfungen des Lebens fanden ihn standhaft und fest, aber moralischen Leiden gegenüber war er schwach und furchtsam. Er konnte den Schmerz nicht ertragen, der sein Herz an der erregbarsten Stelle heimgesucht hatte, und – nahm sich das Leben. Andere als ich mögen den ersten Stein auf sein Grab werfen, aber nur derjenige, der ohne Fehl ist, hat das Recht, seine Handlungsweise zu richten. Indessen dünkt mich mitten in unserem neunzehnten Jahrhunderte ein junger Mann, ein Dichter, der sich aus Liebeskummer den Tod giebt, eine ziemlich seltsame Erscheinung, die wohl unsere Beachtung verdient; umsomehr, als das ganze Drama ein grelles Schlaglicht auf den sonderbaren Geist unserer sonderbaren Zeit und namentlich auf die Pariser socialen Verhältnisse wirft.

Raoul R., so hieß der junge Dichter, war, früh verwaist, von seinem Onkel, einem wohlhabenden Arzte in Paris, erzogen und zu dessen Berufe bestimmt worden. Zwar widmete sich Raoul der Medicin, studirte fleißig und bestand auch seine Examina. Allein sein Herz war nicht bei seinem Studium: er dichtete lieber, und so gab er endlich, gegen den Willen seines Wohlthäters und darum von diesem verlassen, die erwähnte Laufbahn auf, um ganz der Poesie zu leben.

Er war nun allein auf sich gestellt; aber wie lebte er? Er gab einen Band Gedichte heraus, der zwei Auflagen erlebte; er verfaßte mehrere Romanzen, die ein bekannter Componist in Musik setzte und die mit Beifall aufgenommen wurden; endlich schrieb er ein kleines Lustspiel in Versen, das auf einem Provinzial-Theater zur Aufführung kam. Dies ist ungefähr die Bilanz seines geistigen Vermögens; hierbei muß ich noch erwähnen, daß er äußerst wenig Bedürfnisse hatte, ein fast klösterlich eingezogenes Leben führte, große Selbstüberwindung und eine wahrhaft stolze Verachtung aller materiellen Lebensgenüsse besaß. Um jedoch Jahre hindurch ein Dasein voll so vieler Entbehrungen führen zu können, muß man entweder ein Heiliger, ein Held, oder – verliebt sein. Raoul war weder ein Heiliger, noch ein Held, aber er war verliebt.

Er bewohnte ein sehr kleines und bescheidenes Zimmer im fünften Stock eines Hauses der Rue Lafitte. Der Hausbesitzer, ein Kaufmann, der sich mit einem sehr bedeutenden Vermögen von den Geschäften zurückgezogen hatte, nahm mit seiner Familie, die aus seiner Gattin, zwei Töchtern und zwei noch ganz jungen Söhnen bestand, den ersten Stock ein. Er lebte auf einem ziemlich großen Fuße, sah öfters Leute bei sich und gab auch zuweilen Bälle. Eines Tages, als es ihm gerade an Tänzern fehlte, schickte er auch seinem jungen Miethsmann im fünften Stock eine Einladung, da die Erkundigungen, die er über ihn eingezogen hatte, befriedigend ausgefallen waren. Nach dem Balle stattete Raoul dem reichen Kaufmann einen Besuch ab; er wurde sehr freundlich aufgenommen; man fragte ihn nach seinen Beschäftigungen; „ich mache Verse!“ entgegnete naiver Weise der junge Poet. Die Gattin des reichen Kaufmanns, eine ziemlich romantische Natur, fühlte sich sehr geschmeichelt, in ihrem Hause einen Dichter zu haben, den sie ihren Freunden und Gästen anständiger Weise vorstellen könne. Sie lud Raoul also sehr oft zu ihren Gesellschaften ein, und er verbrachte im Hause des reichen Kaufmanns die angenehmsten Stunden. Er las die neuesten Producte seiner Muse vor, und auch sein kleines Lustspiel wurde hier, zwischen zwei spanischen Wänden, von einer Liebhabertruppe zum ersten Male aufgeführt.

So weit war für unseren jungen Dichter Alles ganz schön und gut;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_478.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)