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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Freilich bleibt immer noch eine beträchtliche Anzahl von Briefen übrig, an deren Adressen sich aller Scharfsinn, alle Geduld und alle Praxis vergeblich abmühen; sie sind eben stockblind und müssen deshalb in das Bureau der „todten“ Briefe wandern, damit sie, wenn es gelingt, den Absender ausfindig zu machen, diesem wieder zugestellt werden können. Welche Bedeutung auch dieser Zweig des Postdienstes hat, mag man daraus abnehmen, daß er mehr als fünfzig Beamte ausschließlich beschäftigt, deren Posten eher alles andere als Sinecuren sind; denn im verflossenen Jahre gingen über zwei Millionen unbestellbarer Briefe an ihre Absender zurück, und das hübsche Sümmchen von 11,000 war ohne alle Adresse zur Post gegeben worden. Sämmtliche Postämter der Provinzen schicken täglich ihre todten Briefe an die Centralstelle in London, weil nur diese die Briefe öffnen darf, um Namen und Ort der Absender zu erfahren. Ehe dies aber geschieht, wird noch einmal versucht, ob es nicht doch noch möglich wird, den Brief an seine Adresse zu befördern, und wirklich werden jeden Tag über 300 aus der Provinz als völlig todt abgelieferte Briefe schließlich noch an den rechten Mann gebracht. An 14,000 Pfd. Sterl. in baarem Gelde und gegen 3 Mill. Pfd. Sterl. in Werthpapieren aller Gattung pflegen im Laufe eines Jahres in diesen zurückgehenden Briefen gefunden zu werden, aber auch vielerlei Geschenke und Andenken, Ringe, Tuchnadeln, Brochen, Haarlocken etc., von denen ein gut Theil dem Staate anheimfällt, weil es an jeder Zeile fehlt, die einen Aufschluß über Absender und Empfänger geben könnte.

Unterdessen naht die achte Stunde ihrer Vollendung, wo alle die Tausende von Briefen, die ganze enorme Fluth von Zeitungen, Journalen und Büchern in den verschiedenen Postbeuteln untergebracht und zum Transport nach den Bahnhöfen fix und fertig sein müssen. Noch fünf Minuten vor acht Uhr schwärmt und regt sich’s im Gebäude wie in einem Bienenstocke, fünf Minuten später liegt das ganze große Haus mit allen seinen Räumen und Sälen im tiefsten Schweigen. Und wenn einzelne Tage oder besondere Veranlassungen die Arbeit noch so sehr vervielfältigen, wenn z. B. am letzten 14. Februar, dem sogenannten Valentinstage, wo sich, wie es in einigen Gegenden Deutschlands am ersten April oder zur Fastnacht Sitte, der Engländer mit seinen Freunden und Bekannten gern kleine Neckereien und Mystificationen erlaubt, allein in London 957,000 Extrabriefe in Curs gesetzt werden müssen; wenn bei der letzten Wahl für Lambeth (einen jenseit der Themse gelegenen Stadtbezirk) 40,000 Rundschreiben an die Wähler an einem einzigen Tage zu versenden sind – es hilft nichts, Glock acht Uhr muß das Werk gethan, die Correspondenz zu ihrer Fahrt in die weite Welt gerüstet sein. Wenige Minuten darauf rasseln die großen Gepäckwagen aus dem Posthofe nach den Eisenbahnstationen, von wo aus ihre Ladungen mit den Nachtzügen nach allen Richtungen der Windrose spedirt werden.

Die Art dieses Transports unterscheidet sich im Allgemeinen nicht von der auch auf dem Continente üblichen. Wie bei uns, begleitet ein fliegendes Postbureau jeden dieser Bahnzüge, von denen manche lediglich dem Postdienste gewidmet sind und deshalb nur eine beschränkte Anzahl von Passagieren aufnehmen. Es wird uns einen Begriff von dem Riesigen des Londoner Verkehrs geben, wenn wir erfahren, daß sich allein auf der Nordwestlinie – zwischen London, Manchester und Liverpool – täglich acht specielle Postzüge hin und her bewegen. Alle diese Züge rasen mit athemraubender Geschwindigkeit durch’s Land; so wird die nahe an hundert deutsche Meilen betragende Entfernung zwischen Perth in Schottland und London in 111/2 Stunden durchmessen.

Selbstverständlich bestehen außer dem General-Postamte, dem Mittelpunkte der gesammten Postverwaltung des Königreichs und seiner Colonien, in London noch eine Anzahl größerer Districtspostämter neben vielen kleineren Unterexpeditionen und unzähligen Briefkästen und Briefannahmestellen, zu welchen letzteren mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit des Publicums in der Regel Specerei- oder ähnliche viel in Anspruch genommene Kaufläden gewählt sind. Jener Districtspostämter giebt es zehn, denn der Londoner Postrayon, der, St. Martin’s-le-Grand als Centrum genommen, ein Areal von etwa 21/2 Meilen umkreist, ist in zehn einzelne Postdistricte getheilt: East- (Ost-) Central, West-Central, Western, South (Süd-) Western, North-Western, Northern, North-Eastern, Eastern, South-Eastern und Southern. Die Anfangsbuchstaben der Namen dieser Bezirke, E. C., W. C., N. W., W., E., N. E., etc., sind jene mysteriösen Chiffern, die gewiß schon manchem unserer Leser bei Londoner Adreßkarten und Wohnungsbezeichnungen fruchtloses Kopfzerbrechen verursacht haben. –

Der Chef des gesammten englischen Postwesens ist nominell der Generalpostmeister, als solcher immer zugleich Mitglied des Staatsministeriums, factisch aber ist es der sogenannte GeneralpostamtssecretärSecretary of the Post Office – der mit zwei Assistenzsecretären die eigentliche Verwaltung des weitverzweigten Institutes leitet. Er steht an der Spitze eines zahlreichen Beamtenpersonals, das im Jahre 1862 von 40 Oberbeamten, 11,302 Postmeistern, 7 Schiffspostmeistern, 22 Postmeistern in den Colonien, 73 Agenten in fremden Staaten, 12,138 rothröckigen Briefträgern und 168 Mann Schutzwehr, zusammen von dem stattlichen Heere von 25,380 Beamten gebildet wurde.

Kein anderer Staat der Welt besitzt eine so große Anzahl von Postämtern, wie England, wo im Durchschnitt eines auf je 2500 Köpfe zu rechnen ist; außerdem existiren noch über 15,000 Briefsammelkästen, davon 4000 als „Briefsäulen“, weit in die Augen fallende, etwa vier Fuß hohe Eisensäulen, welche, in den großen Städten des Landes, ja, um der Bevölkerung in ihrem Verkehr mit der Post jede mögliche Erleichterung zu gewähren, sogar auf dem Lande an Kreuzwegen aufgepflanzt, einen Kasten zur Aufnahme von Briefen enthalten. Nehmen wir dazu noch, daß man im Innern Londons dem correspondirenden Publicum zehn, in den Vorstädten sechs Mal täglich seine Briefe in’s Haus bringt, oder vielmehr unter kräftigen Klopferdoppelschlägen in die an den Thüren angebrachten Briefkästen legt; daß zwischen Manchester und Liverpool täglich acht Mal Briefbeförderung stattfindet; daß fünf Städte des Königreichs täglich fünf, zwölf andere vier, siebenundfünfzig täglich drei und nahe an dreihundert des Tages zwei Mal Briefe aus der Hauptstadt erhalten; daß das Porto durch das ganze Land für den einfachen Brief auf nur einen Penny – 81/2 Neupfennige – normirt; daß Bücher und Druckschriften aller Art, Photographien, Landkarten, Lithographien, Kupfer- und Stahlstiche und dergleichen, mit der sogenannten „Buchpost“ unter bloßem Kreuzband zu sehr niedrigem Portosatze versandt werden können; daß für Waarenmuster ein besonders ermäßigtes Porto eingeführt; daß man unablässig bemüht ist, die mannigfachsten Verbesserungen und Vereinfachungen in dem complicirten Dienste einzuführen, und daß dem Publicum alljährlich ausführlicher Bericht über den Zustand und die Fortschritte des Instituts erstattet wird: – so muß man eingestehen, daß die Orginisation des englischen Postwesens in jeder Beziehung als mustergültig für alle ähnlichen Anstalten dasteht, nirgend anderswo erreicht, geschweige übertroffen. Den Zweck in’s Auge fassend und überall in erste Linie stellend: Erleichterung und Bequemlichkeit des öffentlichen Verkehrs; von praktischen Geschäftsmännern, nicht von pedantischen Bureaukraten geleitet, die sich, wie leider noch immer bei uns, nicht von der Anschauung losmachen können, daß das Publicum um ihrer, nicht sie um des Publicums willen da seien, darf das englische Postsystem als ein nahezu vollkommenes bezeichnet werden.

Noch aber ist es nicht eben lange her, daß es nichts weniger war, als dies; noch vor einem Vierteljahrhundert gehörte es zu den unvollkommensten und schwerfälligsten in der ganzen civilisirten Welt. Damals war die Verwaltung eine sehr verrottete; die Postbeamten bezogen einen kaum nennenswerthen fixen Gehalt, sondern gewisse Tantièmen vom eingehenden Porto, welche einzelne Stellen fürstlich dotirten. Das Porto selbst war durchaus ungleichförmig, nach einer sehr verwickelten Scala bestimmt und überdies von fast unerschwinglicher Höhe. Noch 1837 betrug es im Durchschnitt für jeden Brief innerhalb der Grenzen des Königreich 83/4 Pence oder mehr als sieben Neugroschen, obschon seit 1833 bereits eine „Zweipennypost“ eingeführt war, die, ursprünglich nur für die Briefcirculation in London selbst gegründet, später auf alle in einem Umkreise von 21/2 deutschen Meilen von Martin’s-le-Grand gelegenen Orte ausgedehnt wurde.

Dies hohe Porto ward die Ursache, daß das Publicum bei der Beförderung seiner Correspondenz die königliche Post nach Möglichkeit zu umgehen suchte; so stellte sich u. a. heraus, daß vier Fünftel der von Manchester versandten Briefe nicht durch die Hände der Post liefen, und ganz ähnlich war das Verhältnis in anderen Manufactur- und Handelsstädten Englands und Schottlands.

Wohl hatte man, gestützt auf diese schlagenden Thatsachen, seit Jahren Vorschläge zur Verbesserung des Postorganismus dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_476.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)