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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.[1]
2.
Im Generalpostamt. – Der Zeitungssturm. – Die blinden Briefe. – Todte Briefe mit drei Millionen Pfund Sterling – Der Briefmarken Columbus.

Freitag Abend. Die Uhren der City haben eben das zweite Viertel der sechsten Stunde verkündet, und vor uns prangt ein langer, stattlicher, säulengetragener griechischer Bau, eine der wenigen Oasen in der nüchternen Londoner Steinwüste, worin sich die sprüchwörtliche englische Geschmacklosigkeit nicht ihr Denkmal gestiftet hat: das Generalpostamtthe General Post Office – das Centrum des gesammten Postverkehrs von Großbritannien und Irland, 1829 auf der Stätte eines ehemaligen Klosters in St. Martin’s-le-Grand nach den Entwürfen des berühmten Architekten Sir Robert Smirke vollendet.

Diesem Gebäude gilt unsere heutige Wanderung. Mit Lebensgefahr haben wir uns endlich durch das uns umtosende Gewühl, durch die Hunderte von Fußgängern, meist schwerbeladene Männer und Knaben, die Karren und Packwagen, die Postfourgons, die Droschken und Wagen, die Gigs und Broughams um und vor und hinter uns geschlagen, von denen ein gut Theil gleichfalls unserm Ziele zutrachtet. Denn sechs Uhr, die Stunde des täglichen Postschlusses, ist nahe, und welche Last von Briefen und Bücherpaketen, von Zeitungs- und Journalconvoluten soll in den wenigen Minuten noch Unterkunft finden in den verschiedenen Schaltern der großen Vorhalle, um welche die einzelnen Postbüreaus gruppirt sind! Sputen wir uns, daß wir den Augenblick nicht versäumen, – mit dem letzten Glockenschlage der sechsten Abendstunde thut sich unerbittlich jeder dieser Schalter zu; eilen wir, uns die merkwürdige und ergötzliche Scene zu beschauen, welche sich hier allabendlich, am imposantesten und interessantesten des Freitags, abspielt. Nur London vermag eine solche Scene zu bieten, die mit den Betrachtungen, Folgerungen und Perspectiven, den culturgeschichtlichen Momenten, die sich an sie knüpfen, vielleicht vor allem Andern geeignet ist, uns das Ungeheure der jeden Vergleiches spottenden Londoner Verkehrsdimensionen in schlagenden Zügen, im bezeichnendsten Brennpunkte palpabel vor Augen zu stellen.

Ueber eine breite Freitreppe und durch einen eleganten Peristyl von cannelirten Säulen treten wir ein und stehen in einem weiten hohen Saale, an welchen zu beiden Seiten die verschiedenen Geschäftszimmer stoßen, in denen Abgang und Ausgabe der einlaufenden Poststücke vorbereitet werden, während rechts und links eine Reihe von geräumigen Schaltern der Aufnahme von Briefen und Drucksachen dient. Wo der Welthandel in seinem größten Emporium gipfelt; wo tagtäglich Hunderttausende mit schönen und unschönen Händen ihre Gefühle und Gedanken, ihre geschäftlichen Anliegen und Berechnungen, ihre Liebe und ihren Haß, ihre Bitten und ihren Dank, ihre Sorgen und ihre Hoffnungen, ihr Glück und ihr Leid auf feinem und grobem Papier in die Welt hinein schreiben, – da ist es wohl begreiflich, daß trotz der zahllosen Briefkasten und Annahmestellen und trotz der vielen größeren und kleineren Nebenpostämter, welche über die einzelnen Stadtbezirke vertheilt sind, die Halle im General-Office von Martin’s-le-Grand von früh bis Abends selten einmal leer wird, um so weniger, als sie zugleich als öffentlicher Durchgang benutzt wird, der durch das enge Foster Lane mit dem prachtvollen alten Gildenhause der reichen Goldschmiedezunft in jenes Labyrinth von rußigen Citygassen und -Gäßchen führt, welche, der gesammten mercantilischen Welt inner- und außerhalb Londons hochheilige Stätten, vom größten Großhandel in Beschlag genommen sind und Tag für Tag Millionen von Pfunden Sterling aus einer Hand in die andere übergehen sehen. Jetzt aber, wo der Zeiger der über dem Eingange angebrachten Uhr in wenigen Minuten bereits auf die Sechs gerückt sein wird, ist diese Posthalle der Schauplatz eines Dramas, wie auch London ein gleich lebens- und bewegungsvolles kaum zum zweiten Male aufweist. Es ist die Scene, von welcher unser Künstler eine Skizze zu geben versucht hat, die freilich den überwältigenden Eindruck der Wirklichkeit nur andeuten kann.

So wie es ein Viertel über fünf schlägt, werden die den Tag über geschlossenen großen Fenster ganz in die Höhe geschoben. Alsbald wogt eine ungestüme Menschenfluth über die Stufen herein, und Briefe und Zeitungen beginnen in einem wahren Hagelschauer in die Büreaus zu regnen. Eine Anzahl von Knaben von den verschiedensten Altern und Costümen hat auf der Stelle das Zeitungsfenster links umdrängt und umlagert; andere Jungen und Männer keuchen unter schweren Papierlasten heran. Wir müssen uns in einen Winkel retiriren, denn es ist nicht gut sein in der Nähe dieses aufgeregten Schwarmes, der nur sein Ziel im Auge hat und auf unsere Köpfe und Nasen, unsere Füße und Leiber nicht die geringste Rücksicht nimmt. Seht nur, wie ihre Ellenbogen arbeiten, wie sie sich stoßen und puffen, wie Einer den Andern vom Fenster wegzuschieben strebt, wie hier ein kecker Bengel, die Stirn voraus, den Arm in die Hüften gestemmt, sich glücklich durchwürgt durch seine Vordermänner und nun auf ein paar Augenblicke eine allgemeine Katzbalgerei entsteht! Zwar gelingt es den wachthaltenden Policemen, aus dem höllischen Tumulte wieder eine dem Orte einigermaßen entsprechende Ordnung herzustellen, allein das Wortgefecht währt dafür in um so drastischeren Aeußerungen und Wendungen fort. Die Jungen sind die Auslaufburschen der Londoner Zeitungs- und Journalexpeditionen und übertragen in anerkennenswerther Gesinnungstüchtigkeit und Geschäftstreue die Sympathien und Antipathien ihrer Blätter auf ihre gegenseitigen persönlichen Beziehungen. Heut’, am Freitage, stellen sie ein besonders zahlreiches Contingent zu dem die Halle füllenden Menschentrosse; heute erscheint ja auch das Dreiviertelhundert von Wochenschriften, mit und ohne Illustrationen, die London über den Erdball schickt, Blätter von den verschiedensten Nüancen in Richtung und Politik. All’ diese Literatur soll mit den nächsten Nachtzügen nach sämmtlichen Grafschaften des vereinigten Königreichs und nach den Hafenplätzen in Süd und Nord, in Ost und West spedirt werden, um von dort ihre civilisatorische Mission nach dem Continent und über den Ocean bis zu den Antipoden und an der Welt Enden anzutreten.

Wir müssen uns noch tiefer in die Mitte der Halle zurückziehen, denn die Jungen werden toller mit jeder Minute, und immer kühner sausen die noch druckfeuchten Bündel durch die Luft, dicker und rascher fallend als der Schnee an einem stürmischen Decembertage. Daß die papiernen Geschosse hier einen Hut, dort eine Mütze den Umstehenden von den Köpfen reißen, daß manche ihr Ziel verfehlen und an den Fenstergesimsen und Wänden ricochetirend unter das Publicum zurückprallen, das mindert das Feuer des Bombardements nicht. Und von Secunde zu Secunde wächst der Wirrwarr, zuletzt fließt Alles, Arme, Beine, Säcke, Körbe, Köpfe und Zeitungen zu einer ununterscheidbaren Masse zusammmen, und noch immer kommen Nachzügler athemlos die Stiegen herangestürmt. Säcke- und körbeweise entladet sich die periodische Presse zu den Füßen der in den Büreaus hantirenden Beamten, die mit vieler Kunst pariren und manövriren müssen, um von dem Papierregen nicht zu Boden geschmettert zu werden, und ihrerseits die leeren Hüllen über die Häupter der Menge in die Halle zurückschleudern, ebenfalls unbekümmert, wo das Projectil auftrifft. „Times“ und „Daily News“; die erzradicale „Weekly Despatch“ und der ultratocystische „John Bull“; „Bell’s Life in London“ mit ihrer Chronik von Wettrennen und Wettrudern, von Boxereien und Hahnenkämpfen, von Yachtclubs und Cricketpartien und das fromme hochkirchliche „Record“; „Saturday Review“ und „Morning Star“; Palmerston’s und Derby’s, D’Israeli’s und Russell’s, Bright’s und Shaftesbury’s Organe, sonst himmelweit geschieden in Anschauungen und Gebahren, in Meinungen und Tendenzen, hier machen sie in intimster Gemeinschaft ihren Flug in die Postexpeditionen und lagern sich in buntem Gemisch einträchtig übereinander.

Noch eine Minute, und es ist 6 Uhr. Lärm und Gewühl erreichen ihren Gipfelpunkt, weil das Publicum recht wohl weiß, wie das Postpersonal auch keine Secunde Nachsicht schenkt und daß mit dem letzten Glockenschlag der sechsten Stunde der Sturm unweigerlich geendet sein muß. Horch! Eins, zwei – ein paar stämmige Burschen durchbrechen mit den letzten Säcken in Todesverachtung das Gedränge; drei, vier – in wahrhaft babylonischer Sprachverwirrung schreit und tobt Alles durcheinander; fünf – noch einige gewaltige Entladungen; sechs – mit einem Schlage fallen alle Fenster und sämmtliche Schalter schließen sich mit dem gleichen jähen Rucke. Für heute ist das Schauspiel aus, um morgen, etwas minder handlungsvoll, von Neuem zu beginnen. Die Halle leert sich, und wo noch eben Hunderte von Stimmen


  1. Siehe Gartenlaube 1864, Nr. 13.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_474.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)