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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

geleiteten Anstalt fehlte, welche so unschätzbare Momente in rationeller Weise auszubeuten verstand. Das ist nun anders geworden, wie ich höre zum nicht geringen Kummer Etlicher, welche durch die Existenz des Hotels und Curortes zum Jungfraublick die Existenz ihrer Hotels in Frage gestellt sehen. Aber was ist da zu thun? Das Bessere ist des Guten Feind, und dann, lieben Leute, tröstet Euch! Einhundert und fünfzig Gastbetten können allerdings im Laufe von zwei, drei Monaten viele Menschen wiegen, aber durch Interlaken passiren jährlich 40–50.000 Menschen, davon werden ja wohl noch Einige auf Euch kommen.

Leb’ wohl, lieber Leser! Ich freue mich, daß es mir vergönnt war, Dir die erste authentische Kunde von dem Curort Jungfraublick in Interlaken zu geben, der, wenn nicht Alles trügt, schon nach wenigen Jahren so berühmt sein wird, wie keiner in Europa; und wenn Du im Stande bist, wo möglich noch in diesem Jahr, an Ort und Stelle zu prüfen, ob ich Alles der Wahrheit gemäß berichtet habe, so soll es mir Deiner selbst willen lieb sein.




Stillleben einer Dichterin der Jetztzeit.
Von Joseph Dessauer.
Zweiter Tag.
I.
George Sand als Großmutter. – Ihre Seelenwanderungsphantasie und ihre Sehnsucht nach Deutschland. – George Sand’s materielle Erfolge. – Die fröhliche französische Schauspielerin. – George Sand im Provinztheater. – Das Local ihrer Hausbühne.

Heute ging es beim Frühstück lärmend zu. Calamatta, der Vater der jungen Frau, war angekommen. Die Erscheinung des berühmten Kupferstechers, von dem ein meisterhaft gestochenes Bild der Sand aus jüngeren Jahren existirt, macht einen imposanten Eindruck. Man glaubt einen italienischen Maler aus der Medicäerzeit zu sehen.

„Wir bekommen heute noch einen Gast,“ begann Madame Lambert, sich zu mir wendend, „ein liebes, junges Mädchen, das zufälliger Weise meinen Namen führt. Mlle. Adele Lambert ist Schauspielerin und bringt gewöhnlich ihre Ferien bei Mad. Sand zu. Das artige Kind ist überselig, wenn es hier ist; denn es lebt sonst in kargen Verhältnissen.“

„Da bekommen wir vielleicht auch eine theatralische Vorstellung?“

„Das glaube ich nicht, denn Mad. Sand hat noch nichts Neues geschrieben; aber ich habe etwas von einem Marionetten-Theater munkeln hören, das man Ihnen zu Ehren in Bewegung setzen wird. Mein Mann und Maurice sind die glücklichen Dichter, die stets unter dem Enthusiasmus des Publicums Stücke dafür schreiben. Lassen Sie sich überraschen.“

Ich versprach es, obgleich ich mir vorgenommen hatte, am andern Tage abzureisen. Jetzt trat Mad. Sand ein, setzte sich zu uns und erquickte sich an dem strahlenden Gesichte ihrer Schwiegertochter, die nun Alles, was sie liebte, um sich hatte. Wie am vorigen Tage, ward das Kind hereingebracht, das sich diesmal gefallen lassen mußte, fortwährend auf den Armen der Großmutter und des Großvaters herumzuspazieren. Wie am vorigen Tage auch bewegte sich die Gesellschaft in den Garten, und Mad. Sand benutzte das lebhafte Gespräch, um sich ganz allein in den Besitz ihres angebeteten Empereur zu setzen.

Sich plötzlich zu mir wendend, begann sie: „Sehen Sie, das Glück, ein Enkelchen auf Ihrem Schooße zu wiegen, hätte Sie nicht zum Hypochonder werden lassen. Man weiß nicht, was man zuerst an so einem Wesen bewundern soll. Diese Augen – sehen Sie nur!“

„Ich sehe recht gut, daß diese Augen schön sind, aber auch gern schlafen möchten und vor lauter Zärtlichkeit der Großmama nicht dazu kommen können.“

„Sie irren; – so ein Junge läßt sich nichts verbieten; der ist ein kleiner Hercules.“

„Vielleicht wird er’s einmal! Sie glauben ja ohnedies an eine Seelenwanderung. Erinnern Sie sich noch, wie Sie uns vor Jahren mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt erzählten, daß Sie in einer früheren Existenz Essenkehrerjunge waren und Ihrem savoyardischen Papa schreiend durch die Gassen von Paris nachgingen?“

Sie lachte herzlich. „Und Sie, deutscher Mann, finden derlei wache Träume absurd?“

„Ach, wir sind sehr realistisch geworden, und wenn Sie unsere neueren Physiologen und Philosophen, einen Moleschott, einen Schopenhauer kennten, Sie wären es vielleicht auch.“

„Ich kenne die Werke Eurer Denker, wenngleich nur im Auszuge, selbst Euren großen Kant. Doch das Gefühl hat seine Berechnungen, wie die Mathematik, und diese sind ebenso richtig.“

Und nun begann eine Philosophie des Herzens, die mit so vieler Ueberzeugung gegeben wurde, daß man ihr zuhorchte, wie den Worten des Propheten.

„Poet, Prophet! sagt unser großer Dichter, und ich wünschte, er hätte diesmal auch bei Ihnen Recht, theure Freundin. Mit dieser festen Ueberzeugung, daß das Ideal ewig in uns fortlebt und stets zu höherer Ausbildung gelangt, kann man ruhig leben und sterben.“

„Das Eine thue ich auch und das Andere werde ich hoffentlich dereinst. Aber vorläufig habe ich noch einen warmen Wunsch: ein paar Jahre in Deutschland zu leben.“

„Wie? Das wollten Sie?“

„Ich sehne mich darnach seit lange.“

„Kommen Sie, Geehrteste! Sie würden bei uns große Triumphe feiern.“

„Die sind’s wahrlich nicht, die mich hinzögen, denn ich bin eine schüchterne Natur und fliehe alle Huldigungen, wo ich kann, aber ich suche bessere, einfachere Menschen, als sie jetzt unser Frankreich bietet.“

„Nun, mit der Einfachheit ist’s bei uns auch nicht mehr weit her. Wir haben viel von Euch gelernt.“ – Das Gespräch nahm eine andere Wendung. Wir kamen auf das Capitel der Geselligkeit und des vielleicht zu weit getriebenen Bedürfnisses danach.

„Sie selbst, Beste,“ sagte ich, „leben umgeben von einer Art von Hofstaat. Ich dachte Sie mir in completer Einsamkeit, als ich hörte, Sie hätten Paris für immer verlassen.“

„Was Sie jetzt bei mir finden, ist auch nur ein kleiner Kreis der Intimen, die ihre Ferien bei mir zubringen. Die meiste Zeit hindurch bin ich allein und nur von meiner Familie umgeben. Wie könnte ich mich auch sonst mit meinem Einkommen vernünftig und ohne Schulden gebaren?“

„Nun, ich denke wohl, daß Sie Ihr Pfund auch finanziell bedeutend verwerthet haben.“

„Ja, verdient habe ich wohl mit meiner Feder über eine Million, aber mit dem Capitalisiren ging’s immer schlecht.“

„Das gute Herz mit seiner Philosophie,“ erwiderte ich, „ich kann mir’s denken, das hat nach allen Seiten gespendet. Dafür wird es auch von den Armen angebetet wie das Herz einer Heiligen.“

„Sie irren,“ sagte sie lächelnd, „meine Armen hier zu Lande nehmen auf eine eigene Art, die ihr Gewissen beschwichtigt. Ihr Satz lautet: ‚Warum sollten wir uns nicht beschenken lassen, da es ihnen Freude macht?‘ Aber ich plaudere da mit Ihnen, und sollte schon bei der Arbeit sitzen.“

„Haben Sie denn gar so viel zu schreiben? Sie werden sich noch um Ihre Gesundheit bringen.“

„Es geht nicht anders. Drei Bände jährlich meinem Verleger zu liefern, habe ich mich contractlich verpflichtet. Dazu kommen noch Feuilletons, Kritiken und andere Tagesarbeiten.“

„Wo Sie nur immer Stoff zu Ihren Romanen hernehmen?“

„Nun, daran fehlt es nie, man muß nur Aug’ und Ohr an rechten Orten öffnen. Beinahe jeder Mensch liefert mir unwillkürlich etwas, das ich benutzen kann. Sie selbst, mein Freund, haben mir erst gestern einen kleinen, Ihnen eigenthümlichen Charakterzug mitgetheilt. Wollen Sie, daß ich Sie zur Hauptperson einer Erzählung mache?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_462.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)