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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Sommer ist die ersehnte Zeit für diese Strolche. Dann und wann liefert eine große, treibjagdartige Razzia der Berliner Polizei einen unheimlichen Beweis, wie viel obdachlose Personen die Residenz unsicher machen. Einen riesigen Heuhaufen im Freien fand man bei einem solchen Streifzug in Weißeneee ganz durchwühlt von Dieben und Diebinnen, welche diese sonderbare Herberge zu Schlafstätten erwählt hatten, in die sie von allen Seiten hineingekrochen waren.

Wird’es in Berlin zu unsicher, sieht das Auge der Polizei dem verpönten Treiben einmal zu scharf auf die Finger, so gehen die routinirten Verbrecher nicht selten auf Kunstreisen und verschwinden eine Zeit lang vom Schauplatz ihrer Thätigkeit, um in den Provinzialstädten ihr Talent zu verwerthen und neue Opfer zu suchen.

Die Hehler sind fast noch gefährlichere Subjecte als die Diebe. Während letztere ihnen für verhältnißinäßig kleinen Gewinn die Kastanien aus dem Feuer holen, mästet sich der Hehler mit dem Löwenantheil, sucht sich von allen Seiten, den Behörden gegenüber, schlau zu decken, die Beweismittel abzuschneiden und zieht sich nicht selten als wohlhabender Mann „von’s Geschäft zurück“. Freilich darf er die Frechheit nicht so weit treiben, wie der unlängst ertappte Besitzer eines solchen Hehlerlocals in der Gypsstraße, der in seiner Behausung vollständige Auctionen des gestohlenen Gutes veranstaltete und dies der Nachbarschaft bekannt machte.

Nach und nach beginnen jedoch, Dank der unermüdeten Sorgfalt der noch vom Director Stieber her vortrefflich organisirten Criminalpolizei, die Verbrecherlocale in Berlin immer seltener zu werden; so ist auch der eigentlichste dieser Keller, in welchem fast nur bestrafte Personen verkehrten und der inmitten der Stadt – Königsstraße Nr. 36 – lag, vor Kurzem aufgehoben worden. Die geübten Beamten kennen durch ihre ununterbrochene Thätigkeit in ihrem Fache fast alle notorischen Diebe und wissen sie im geeigneten Moment zu finden, ohne einen besonderen Versammlungsort für dieselben toleriren zu müssen, welcher immer der Residenz und den Behörden zur Unehre gereichen würde. Dilettanten und Anfänger im Geschäft fallen ohnehin dem Gericht bald in die Hände.

Schreiber dieses war einst Zeuge eines urgemüthlichen Verhörs, welches der jüngst verstorbene Criminal-Commissär Roggenstein mit einem wieder rückfällig gewordenen alten Diebe hielt, der vor Kurzem eine fünfjährige Zuchthausstrafe in Spandau verbüßt hatte.

Der Gauner, eine ausgeprägte Galgenphysionogmie mit verschmitzten kleinen Aeugelchen, wurde Roggenstein vorgeführt, der ihn lächelnd, einen Fuß auf dem Stuhl, den Ellenbogen in die Kniee gestützt, wie einen alten Freund empfing und anredete: „Na, alter Junge, wieder ein Mal abgefaßt?“

„Ja, mein guter Herr Commissär, habe Unglück gehabt,“ schlau mit den Augen blinzelnd: „Diesmal kann es wohl lange dauern?“

„Ja, wird wohl. Hast ja erst fünf Jahre abgesessen.“

„Drei Jahre, Herr Commissarius.“

„Unsinn! Fünf Jahre!“

„Drei Jahre, Herr Commissarius.“

„Oler[1] Sohn, mach mir nicht dumm. Hier liegen die Acten.

Wegen schweren Diebstahls hast Du fünf Jahr ,Spandau‘ gehabt und bist vor vierzehn Tagen losgekommen.“

„Wirklich,“ entgegnete der alte Sünder, scheinbar ganz erstaunt, „nee sehen Sie, Herr Commissarius, wie die Zeit vergeht.“

Auf die Frage, wie lange er eigentlich in seinem Leben eingesperrt gewesen, antwortete er mit einer Miene, als ob Roggenstein von ihm verlangt hätte, er solle den Mond vom Himmel herabholen: „Aber Herr Commissarius, wie kann denn ich das wissen?“

Durch die scheinbar treuherzige, einfache Art und Weise, mit welcher er mit den Verbrechern verkehrte, wie ungefähr ein guter herablassender Herr mit seinen Dienern, brachte Roggenstein aus jenen Alles heraus. Als er einst einem leugnenden schweren Verbrecher auf den Kopf zusagte, daß er den Einbruch begangen habe, und frug, ob er sich nicht schäme ihn so zu belügen, antwortete dieser: „Nu ja, Herr Commissär, ich will es Ihnen sagen, ich habe es gethan, aber es bleibt unter uns.“

Mit viel gewaltigeren Mitteln pflegte der bekannte Criminaldirector Stieber zu wirken. Lange Verhöre mit den schlau combinirtesten Kreuz- und Querfragen verwirrten den Schuldigen und lockten ihm seine Geheimnisse heraus, ja es ist bekannt, daß Stieber die Mitgenossin eines Mordes dadurch zum Geständniß brachte, daß er sich die verhärtete Sünderin gegen 12 Uhr Nachts zum Verhör rufen ließ und, in feuriger Rede ihr das Bild des Ermordeten vor die Seele führend, sie frug, ob sie jetzt, wo der Zeiger auf Mitternacht weise, die Stunde, wo das Verbrechen begangen worden sei, den Muth habe, die Hände auf das Crucifix zu legen und ihre Unschuld zu betheuern. Die Missethäterin fiel dem Richter schluchzend zu Füßen, bekannte die That und gab ihre Mitschuldigen und einen Kirchhof als den Ort an, wo die Früchte des Raubes vergraben lagen.

Gänzlich verborgen bleibt in Berlin ein großes Verbrechen selten. So wie jüngst bei dem am Eingang dieser Schilderungen erwähnten Mord an Gregy der Chemiker Sonnenstein die dunklen Flecken an der Wand mit Salzsäure berührte und für Menschenblut erklärte, Menschenblut, welches laut um Rache schreie, so verlangt jedes Verbrechen an der beleidigten Gesellschaft seine Sühne, und den Wächtern des Gesetzes stehen hundert Augen zu Gebote, die sich nie schließen und endlich in die Nacht eines jeden Verbrechens eindringen.




Ein Belvedere im Alpenlande.
Von Friedrich Spielhagen.

Die halbe gebildete Menschheit kennt Interlaken, das unvergleichliche Sommerparadies am Fuße der Berner Hochalpen, die andere Hälfte möchte es gern kennen lernen. Ob es unter Denen, die es kennen, solche giebt, die es nicht lieben, weiß ich nicht, bezweifle es aber; ja, ich möchte behaupten, daß diese Lieblosen es nur zu kennen glauben, weil sie auf ihrer Fahrt von Thun nach Brienz auch durch das „Bödeli“ gekommen sind, oder gar in einem der Hotels auf dem weltberühmten Höhweg zu Mittag gespeist haben. Mit Interlaken ist es aber, wie mit einer schönen und liebenswürdigen Frau. Auch die schönste und liebenswürdigste hat nicht immer ihren beau jour, und wer Interlaken vielleicht an einem trüben, regnerischen Tage gesehen hat, der sage nur ganz ruhig: er habe es nicht gesehen.

Und selbst der Sonnenschein thut es noch nicht allein. Interlaken ist zu vielseitig, zu reich, ja, wenn dies Wort in Beziehung auf die Natur nicht eine Art von Blasphemie wäre, möchte ich sagen: zu kokett – man kommt nun ein für alle Mal nicht so schnell dahinter, wie voll von zauberischen Reizen dieses in seiner Art gewiß einzige Stück Erde ist.

Aber Interlaken ist nicht blos Natur: nicht himmelhohe, schneebedeckte Alpenriesen, die still und hehr in den dunkelblauen Himmel wachsen, oder wald- und mattenbekleidete Vorberge mit Sennen und Heerden, oder blaue Seen, die in ihren krystallklaren Wassern den Himmel und die Berge spiegeln; es ist das Alles zusammen, doch es ist noch mehr. In diese einzig schöne, paradiesische Natur hat sich die Kunst, die Cultur eingenistet, so weit es ihr nur immer gelingen wollte; in diesem Tempe, das so schön ist wie ein Dichtertraum, stehen mächtige Hotels mit ihren Dépendancen wie ebenso viel prosaische Facta; in diesem Thal, das würdig scheint die Wiege der ersten Menschen gewesen zu sein, rauscht es von seidenen Kleidern, schimmert es von elegantesten Toiletten; durch dieses Eden rasselt und schnattert die wilde Jagd, die große unendliche Touristen-Karawane: Pferde, Kameele, Menschen, Affen und was sonst dazu gehört.

Das ist es eben, was Interlaken die eigenthümliche und vielleicht ganz einzige Physiognomie giebt. Vielleicht nirgendwo sonst auf der Erde gehen Natur und Kunst so seltsam Hand in Hand, vermengen sich und vermischen sich auf eine so wundersame


  1. Rogggenstein sprach bei Verhören mit Verbrechern stets den Berliner Dialekt der untersten Volksclassen, verstand auch die Diebessprache vollkommen und war unter den Gaunern eine sehr beliebte und geachtete Persönlichkeit.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_458.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)