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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

noch im Schwange geht. Die Trauerkleidung ist, auch bei den Mädchen, schwarz mit schwarzer Schürze. Wenn eines die nächsten Verwandten, wie Vater oder Mutter, verloren hat, so geht es ein Jahr lang nicht mehr zu seinen ledigen Gespielen. Auch um eine gestorbene Gespielin wird mehrere Wochen lang in der gleichen Tracht getrauert, zu welcher noch gehört, daß die Haare unter die Haube zurückgestrichen werden. Daß man auch die kleinsten Kinder mit Gesang begräbt, stammt nicht aus alten Zeilen, sondern ist ein allerneuester Brauch, der das wachsende Selbstgefühl des Bauern bezeichnet. Man muß ja die Ceremonie doch bezahlen, darum will man keine „todte Leiche“, d. h. keine, bei der es nicht ein wenig lebendig hergeht.

Ein Weihnachtsbrauch, der übrigens auch anderer Orten seines Gleichen finden möchte, ist das „Glocken“, das am Tage vor Weihnachten betrieben wird. Die Knaben unter vierzehn Jahren bemächtigen sich da der Viehschellen, so daß keine Kuh im Stalle bleibt, die ihren Schmuck noch hätte, binden die Schellen an lange Stäbe und lärmen damit von Haus zu Haus von früh vier Uhr bis zum Abend, wofür sie Brod, Aepfel, Nüsse und dergleichen erhalten.

Das Eierlesen ist nicht blos in Betzingen, sondern in weiterer Umgegend heimisch, so namentlich in mehreren Cantonen der Schweiz, hat jedoch auch dort wie überall abgenommen, so daß Jahre vergehen können, bis der fröhliche Tag der Lustbarkeit wiederkehrt. Es ist ein Wettkampf zweier junger Bursche, deren einer einen Vorrath von Eiern unter erschwerenden Umständen auflesen muß, während der andere eine bestimmte Wegstrecke zurücklegt. In Betzingen handelt es sich für Letzteren darum, aus dem eine halbe Stunde entfernten Reutlingen in einem vorgeschriebenen Bäckerhause einen „Kümmicher“ – ein mit Kümmel gewürztes, sehr schmackhaftes Brodgebäck, das einst von Straßburg dorthin verpflanzt worden ist – zu holen. Bis er zurückkommt, muß sein Gegner den Festplatz – früher die „Auwiese“ unter dem bei Betzingen gelegenen Reutlinger Galgenberge – von den in ziemlichen Zwischenräumen gelegten Eiern geräumt haben. Nur einzeln, eines um das andere, darf er sie auflesen und nach dem Korbe tragen, und wenn ihm auch gestattet ist, je nach einer gewissen Anzahl, die er gesammelt hat, eines aus dem Kreise zu schleudern, so kostet ihn doch das Hin- und Wiederlaufen nach jedem einzelnen Ei auf dem beträchtlichen Platze eine gute Zeit, so daß er sich sputen muß, wenn er Sieger bleiben will. Zum Behufe des Festes sind die Eier vorher von den Buben (Jünglingen) in Hemdärmeln von Haus zu Haus eingesammelt worden, wobei es sich von selbst versteht, daß die Häuser, welche Töchter haben, sich den Heischenden freigebiger erzeigen.

Zum Eierlesen kommt der Hahnentanz, der aber, abweichend von andern Belustigungen dieses Namens, ein äußerst harmloses Vergnügen ist. Ein lebendiger Hahn, im herkömmlich länglichen geflochtenen Korbe auf der Feststätte ausgestellt, bildet den Mittelpunkt, um welchen die Paare tanzen, indessen eine von einem Tänzer dem andern gereichte Fahne die Runde macht. Außerhalb des Kreises steht Einer, der, den Rücken kehrend, nach einiger Zeit in einem beliebigen Augenblicke ein Gewehr abschießt, und wer, wenn der Schuß fällt, gerade die Fahne in der Hand hat, ist der Sieger, welcher den Hahn erhält.

Mit dem Karz (Lichtstube) wird es wie überall gehalten. Die Mädchen kommen den Winter über Abends mit Spindel oder Rädchen in einem vertrauten (von der Ortsobrigkeit concessionirten) Hause zusammen, an welches sie zu Anfang und am Schlusse für Oel oder Lichter den sogenannten Ein- und Ausstand bezahlen, und bleiben spinnend und plaudernd bis um die elfte Stunde bei einander sitzen. Bekanntlich sind sie nicht auf ihre eigene Unterhaltung beschränkt, vielmehr finden sich im Laufe des Abends die „Buben“ truppweise ein, so daß oft ein Trupp, besonders der jüngeren, vom andern weggetrieben wird, und setzen sich zu den Spinnerinnen, wobei immer derjenige, welcher einer der Schönen zur Rechten sitzt, vorübergehend mit ihr ein Paar bildet und ihr Fürsitzer heißt. Doch dies ist blos flüchtige Kurzweil, die nicht mehr bedeutet als im städtischen Leben eine Ballvertraulichkeit. Erst zuletzt kommen die Rechten, die „Schätze“, um ihre unbestrittenen Plätze einzunehmen; um elf Uhr nimmt dann Jeder die Seine am Arme und führt sie heim. Im Uebrigen hat die Geschichte der Liebe, ob mit Namen wie Kiltgang, Kommnacht u. dgl. ausgedrückt, oder, wie hier, ohne Namen, den gleichen Verlauf wie auf dem Lande allerwärts. „Vorher ist Er zu Ihr über die Leiter gekommen, jetzt kommt er über die Treppe“, das ist der ganze Unterschied, den man an Ort und Stelle zwischen der ledigen und der legitimirten Verbindung macht. Die Leiter darf öffentliches Geheimniß sein und thut der weißen Schürze keinen Eintrag, denn diese wird nur durch einen handgreiflichen, lauten Sündenfall verwirkt. So ist und war es auf dem Lande seit Jahrhunderten. Aber nicht blos außerhalb, auch innerhalb der Mauern, welche die Gesittung bedeuten, wird die Sittlichkeit mit gar gebrechlichen Maßstäben gemessen, und die fressendsten Schäden können meist nicht einmal zur Sprache kommen, weil der „Anstand“ höher ist, denn alles öffentliche Wohl. Die Moral, theologische, philosophische, politische, thürmt friedlich ihre Gesetzbücher über einander – und das Leben geht mittlerweile seinen gewohnten widerspruchsvollen Gang.

Gleich den Mädchen haben auch die Buben und die Männer ihre besondern Clubhäuser, wo sie gegen Erlegung des genannten Aus- und Einstandes ihre Abende verbringen. Der Bauer ist in dieser Gegend sehr sparsam und geht höchstens am Sonntag in’s Wirthshaus, daher er die Woche über für sein Geselligkeitsbedürfniß einen trockenen und wohlfeilen Zusammenkunftsort haben muß. Man nennt ein solches Haus ein Ebbedhin-Haus, das ist verdolmetschet ein Irgendwohin-Haus, durch welches nämlich dem Clubmitgliede die Möglichkeit dargeboten wird, außer seinen vier Pfählen auch sonst noch irgendwohin zu kommen. Da sitzen die Männer, oft mehr als ein Dutzend, in enger kleiner Stube beisammen, lesen die politische Zeitung des Bezirks, discurriren von Schleswig-Holstein oder auch von Geschäftsangelegenheiten und gehen endlich zum Karteln über, wobei sich nach und nach ein kleiner Geldvorrath sammelt, von welchem zuletzt, selten öfter als einmal im Jahre, ein spärlicher Trunk gehalten wird. Was die Buben in ihrem Club verhandeln, davon ist uns keine Kunde geworden, doch haben wir uns mit eigenen Augen an gewissen steifgedrehten Seitenlöckchen überzeugen können, daß die Cultur, die alle Welt beleckt, auch auf die junge Mannschaft unserer Dörfer sich erstreckt.

Zu öffentlichen Zusammenkünften der ledigen Jugend beider Geschlechter bietet außer dem Karz im Winter und dem Tanzboden jeder Sonntag Gelegenheit. Sonntag Nachmittags gehen Buben und Mädchen spazieren, jeder Theil für sich ausziehend, die Mädchen meist Arm in Arm mit Gesang. Die Spaziergänge werden theils in die nächste Umgebung der nahen Stadt, theils in’s Freie nach wohlgelegenen Plätzen gerichtet, nach einer Brücke mit zum Sitzen bequemem Geländer, nach einem Rasen am Walde u. dgl., wo dann die Gesellschaft bunte Reihe macht. Abends ziehen die Geschlechter getrennt wieder heim. So ist es in der ganzen Umgegend der Brauch.

Wenn nun eines dieser Paare das bürgerliche Ziel der Liebe erreicht hat, so ist es gemeiniglich noch weit vom Besitze einer eigenen Haushaltung entfernt. Vielmehr behalten die Eltern die jungen Eheleute bei sich im Hause und treten ihnen höchstens, um sie nicht ganz ohne Eigenthum zu lassen, ein kleines Stück von ihrem Grundbesitze ab. Es kann auf diese Weise viele Jahre dauern, daß die junge Generation unter der Herrschaft der alten bleibt, die nicht geneigt ist, das Schicksal des Königs Lear an sich zu erfahren.

Daß die Frauen früh verblühen, liegt in der Natur der Umstände, und so schmuck die Mädchen zum Theil aussehen, so sollen doch ausgezeichnete Schönheiten unter ihnen selten sein.

Die Betzinger sind übrigens, beide Geschlechter, ein kräftiger, stattlicher Menschenschlag. Sie lassen nicht mit sich spaßen, und aus dem Wenigen, was wir geschichtlich von ihnen wissen, kann man schließen, daß sie von jeher bereit waren, die Zähne zu weisen. Zwar die mittelalterliche Geschichte des Dorfes ist höchst lückenhaft und unklar; aber eine Urkunde des Kaisers Maximilian I. aus Worms vom 17. September 1495 läßt dasselbe für einen Augenblick in ein ziemlich volles Licht der Geschichte treten. Das Document zeigt den „letzten Ritter“ in einer kleinen diplomatischen Verwicklung, worin er ganz als der Gleiche wie in seinen großen Praktiken zu erkennen ist. Er „bekennt“ in dem „Briefe“, er habe seinem Cammer-Rathe und des Reichs liebem getreuen Casparn von Megkaw das Dorf Betzingen mit allen Rechten, Nutzen und Zugehörungen etc. – auf sein Fürbringen, daß die Inwohner dieses Dorfs weder den Kaiser noch dessen Vorfahren am Reiche als ihre rechte Herrschaft erkannt, sondern sich als freie Leute, die Niemand unterworfen wären, angezeigt, auch willkürlich

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