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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Gedächtniß sind gleich bewundernswürdig, und dabei hat er eine ganz eigenthümliche Gewohnheit, seine Berichte gewissermaßen zu illustriren. In der Rechten hält er nämlich fortwährend ein Stück Kreide, mit dem er wie zur Bekräftigung seiner Angaben alle in seiner Rede vorkommenden Ziffern mit unglaublicher Schnelligkeit auf den Zähltisch schreibt, welcher sich zwischen ihm und den Kunden befindet. Wir sehen auf diese Weise wie durch Zauberei die sämmtlichen finanziellen Verhältnisse einer Eisenbahn in Zahlen vor uns klar werden, bis eben so rasch der immer bereitlegende angefeuchtete Schwamm den Zahlenbau von der Tischplatte entfernt, um anderen Zifferbeweisen Platz zu machen.

Diese Art, eine Rede durch Zahlen zu unterstützen, verbunden mit der großen Geschäftskenntniß jenes Mannes, ist ebenso eigenthümlich als überzeugend. Er hat sich aber an sein Kreideziffersystem so sehr gewöhnt, daß er fast niemals eine Zahl ausspricht, ohne sie auch sofort vor sich hinzuschreiben. Diese Gewohnheit macht sich sogar noch außerhalb des geschäftlichen Lebens geltend; wenn jener Finanzkundige in Freundeskreise und das Gespräch auf Actien kommt, so zeichnet er in Ermangelung der Geschäftskreide sicher die ausgesprochenen Zahlen wenigstens mit dem rechten Zeigefinger vor sich hin auf den Tisch. Würde er Nachts vor dem Einschlafen ein Stück schwarzer Kreide zur Hand nehmen, so müßte am nächsten Morgen bei seinem Erwachen das weiße Bett ebenfalls mit Zahlen bedeckt sein, denn ein so eifriger Geschäftsmann wie er träumt sicher allnächtlich von seinem Elemente, den Actien und Wertpapieren.

Denjenigen Theil des Geschäftes, wo die meisten Angestellten beschäftigt sind, das Comptoir, besuchen wir zuletzt. Ueber zwei Drittel des aus vierzig Mann bestehenden Geschäftspersonales finden wir hier. An einer Menge von Pulten sehen wir ältere und jüngere Herren, welche alle unausgesetzt rechnen und schreiben. Es herrscht hier eine musterhafte Ruhe und Ordnung. Früher, im goldenen Zeitalter der Gänsekiele, verursachten diese Schreibwerkzeuge wenigstens hier das jetzt so Vielen gänzlich unbekannte Geräusch, welches wir zuweilen noch in älteren Erzählungen beschrieben finden. Die Stahlfeder hat aber auch diesen hörbaren Beweis der Thätigkeit aus dem Felde geschlagen, denn sie gleitet lautlos über das Papier.

Hier, in dem Comptoir, ist es uns blos erlaubt, den Arbeitenden über die Schultern zuzuschauen, denn Niemand von ihnen möchte sich gern in seiner Thätigkeit stören lassen. Von dem Herrn Hauptbuchhalter aber müssen wir uns in ehrfurchtsvoller Entfernung halten, weil die langen Zahlenreihen, welche er in das „Soll“ und „Haben“ der dicken Bücher einträgt, von den Geschäftsgeheimnissen der Firma mehr verrathen würden, als wir wissen dürfen.

Ein traurig einförmiges Amt ist jenem Comptoiristen dort zugefallen, der nichts anderes zu thun hat, als die eingehenden Wechsel in ein hierzu bestimmtes Buch (das Wechselsconto) einzutragen, und man wird wohl glauben, daß ihm keine Zeit zum Umschauen übrig bleibt, wenn man bedenkt, daß jährlich fünfzig- bis sechszigtausend Stück Wechsel in solcher Weise genau eingetragen werden müssen.

Den übrigen Angestellten des Comptoirs fallen in wohlberechneter Eintheilung die verschiedensten Arbeiten vom Buchführen bis zum Copiren herab zu. Einen sehr wichtigen Zweig bildet der außerordentlich umfassende Briefwechsel des Geschäftes, und um nur einen annähernden Begriff der Thätigkeit eines ersten Correspondenten zu geben, genügt es wohl, wenn wir anführen, daß ein solcher, dem der wichtigste Theil des Briefwechsels zufällt, täglich zwanzig bis dreißig oft ziemlich umfangreiche Briefe zu schreiben hat. Nehmen wir nun an, daß jeder einzelne Brief durchschnittlich etwa eine Druckseite des gewöhnlichen Octavbuchformats einnehmen würde, so hat jener Correspondent in einem einzigen Jahre an zwanzig recht artige Bände zusammengeschrieben. Wo bleibt im Vergleich hierzu die Produktivität der berüchtigtsten Romanschriftsteller?




„Der Freund des Kaisers und des Volks.“

Unter den Männern, welche Alexander II. von Rußland bei seinen großen, tiefgreifenden Reorganisationen unerschütterlich zur Seite stehen, nimmt wohl der jetzige Generalgouverneur von Petersburg, Graf Suwarow, Fürst Italijski, eine der hervorragendsten Stellungen ein. Ein Bild von diesem Manne zu entwerfen, den man mit gutem Recht „den Freund des Kaisers, wie des Volks“ nennt, wollen wir jetzt versuchen, soweit es das allerdings nur spärliche Material gestattet, das uns über den Charakter und das Wirken des Fürsten theils mündlich, theils schriftlich an die Hand gegeben wurde. Denn in gewisser Hinsicht hat auch das russische Reich seine große Mauer, die Alles hermetisch verschließt, was noch so schadlos über die Grenze gehen dürfte, und selbst der im Ausland lebende Russe beichtet nur ungern auf unsere etwaigen Fragen über seine Fürsten, Staatsmänner oder über die inneren Zustände seines Vaterlands, am liebsten aber antwortet er mit einem officiellen Achselzucken. Naseweisen Fragen wie: „War Kaiser Nicolaus wirklich beliebt?“ folgt regelmäßig ein Achselzucken – oder: „War er wirklich der große Mann, für den man ihn ein ganzes Vierteljahrhundert hindurch hielt?“ – abermals ein Achselzucken – oder man kommt auf die Aufhebung der Leibeigenschaft und bricht dabei in einen Lobgesang über den jetzigen Kaiser aus – so kann man immer noch eines Achselzuckens gewärtig sein, wenn man das Malheur hat, einem Altrussen gegenüber zu stehen. Eine vornehme russische Dame antwortete jüngst einem solchen vorwitzig Fragenden: „Das weiß ich nicht, mein Herr – ich weiß nur, wollen Sie einen Russen in Verlegenheit bringen, so müssen Sie mit ihm über Politik sprechen.“ –

Graf Alexander Arkadjewitsch Suwarow-Rymnikski, Fürst Italijski, ist der Enkel des ebenso berühmten als originellen Feldherrn der Kaiserin Katharina’s II. und des Kaisers Paul, des Erstürmers von Ismail, des Siegers in Oberitalien (weshalb er auch den Beinamen „Italijski“ erhielt), des „alten“ Suwarow, dessen Mäßigkeit, Thätigkeit und Unbestechlichkeit noch jetzt als außerordentliche Charakterzüge vom russischen Volke angestaunt werden, dessen Lakonismus noch heute sprüchwörtlich ist, dessen echt Blücher’sches Losungswort aber: „Vorwärts und Sieg!“ neben jenen Eigenschaften auch auf dem Schilde des jetzigen Gouverneurs von Petersburg als Wahlspruch steht und als ein theueres Erbtheil gehütet und gepflegt wird. Der Vater des Grafen Alexander war der russische Generallieutenant Arkadij Suwarow, der, als er eine Division bei der Donauarmee unter Kutusow befehligte, im Rymnik ertrank, und zwar an derselben Stelle, wo sein Vater seinen großen Sieg über die Türken erfochten hatte.

In der freien Schweiz, in Fellenberg’s Institut zu Hofwyl, sollte der junge Fürst den ersten Grund zu seiner körperlichen und geistigen Entwickelung legen, was gleich günstig für die vorurtheilsfreie Gesinnung des Vaters, wie für die spätere Geistesrichtung des Sohnes spricht. Auch die Universität Göttingen besuchte Suwarow und gedenkt so gern der seligen dort verlebten Zeit. Mit Stolz pflegte er häufig zu sagen: „Auch ich bin ja deutscher Student gewesen.“ Nach Ablauf dieser Studienzeit in sein Vaterland zurückgekehrt, tritt er 1822 als Cornet in das Chevaliergarderegiment ein, welches kurze Zeit darauf als Verstärkung zur Armee im Kaukasus abgeht, wo er sich im Feldzuge gegen Persien durch raschen Ueberblick wie tollkühnen Muth so auszeichnet, daß er sich auf dem Schlachtfelde die Epauletten holt und, als Ueberbringer der Schlüssel von Ardebil, bei seinem Eintreffen in Petersburg zum Flügeladjutanten des Kaisers ernannt wird. Das Jahr 1831 führt ihn wieder in’s Feld, indem er den polnischen Krieg im Hauptquartier des Marschalls Paskewitsch mitmacht, in dessen Auftrag er die Capitulation von Warschau unterhandelt und mit der Nachricht von diesem Ereignisse nach Petersburg eilt, wo er mit dem Oberstpatent belohnt wird. In der Folge mehrmals zu diplomatischen Missionen in deutschen Fürstenhäusern verwendet, später aber zum Generalmajor und Commandeur einer Grenadierbrigade ernannt, wird er 1845 mit der Untersuchung der unter den Truppen im Kaukasus eingerissenen Mißbräuche beauftragt, die ein strenges Gericht auf die Häupter der Schuldigen herabzogen. Es war dies eine der brillantesten Thaten des Fürsten, denn durch seinen Scharfblick und seine Energie deckte er einen der großartigsten Diebstähle eines Brigadiers am Solde der Soldaten auf, die nur in Folge der schnödesten Behandlung, aus Verzweiflung, aufständisch geworden waren. Zum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_411.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)