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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Vermuthlich!“

„Sicher! Warum wäre er nochmals hier? Jetzt mit ihr? Vorhin war er ohne sie da, in anderer Gesellschaft. Er hat sich die Stelle besehen. Oder vielleicht warst Du unterdeß gerade bei ihr. War es so?“

„Es war so.“

„Und als er zurückkam, erfuhr er es. Schon das Aussehen der Frau mußte es ihm entdecken. Ich kann es mir denken. Ich sehe die arme, blasse, bebende Frau. Die Wuth, der Wahnsinn seiner wilden Eifersucht ergriff ihn. Er konnte sie verbergen; er hat die volle Gewalt über sein Aeußeres. Er hat das Verderben, den Tod der Frau beschlossen. ‚Es ist so schön an der Steilen Wand,‘ sagte er zu ihr laut, in Gegenwart der Anderen, mit denen er da gewesen war. ‚Schade, daß Du nicht mit da warst, mein Kind. Du mußt noch hin. Komm. Wenn Du eilst, so sehen wir noch gerade dort die Sonne untergehen; man kann keinen prachtvolleren Anblick haben.‘ – So lockte er sie hin. Zweifelst Du? Sieh, da geht gerade die Sonne unter. Und es ist in der That ein Prachtanblick, Wartenburg, und sie haben ihn auch da unten auf dem Felsen, und während die arme Frau in ihn versunken ist und den letzten verschwindenden Strahlen folgt, und dabei an ihre glücklichen Tage denkt, die auch verschwunden sind, schon so lange freilich und auf immer, da facht die letzte Gluth der Sonne die wildeste Gluth in seinem Innern an, und – ein Ruck seiner Hand, und ein Schrei, und sie ist verschwunden –“

„Aber, Mensch, Du bist wahnsinnig – das Wundfieber!“

„Und sie ist verschwunden, sage ich Dir, und er sieht ihr mit den großen, glühenden Augen recht ruhig und genau und scharf nach, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich todt ist und nicht wieder herauf kommt, und wenn er davon überzeugt ist, dann fängt er an, sich die Haare ausreißen zu wollen, und erhebt ein Zetergeschrei, das Niemand hört, und ruft um Hülfe, zu der ihm kein Mensch kommt, und rennt zu seiner Gesellschaft zurück, und erzählt das entsetzliche Unglück, das ihm passirt ist – eine unvorsichtige Bewegung der Unglücklichen, und sie war hinuntergestürzt, ehe er sie retten konnte, ehe er es nur gesehen hatte. Und sie glauben ihm! er ist ja Oberstaatsanwalt; und wer will ihm beweisen, daß er der Mörder ist? Und – und sieh, Wartenburg, sieh!“

Er stand stumm. Sie standen Beide sprachlos, mit starrenden und erstarrten Augen. Die Sonne ging unter. Oben auf der Kuppe war der Anblick frei über den ganzen westlichen Horizont. Man sah die volle Pracht, in welcher der mächtige, glühende Körper immer tiefer sank, um dann ganz zu verschwinden. An der Steilen Wand war der Blick in die Ebene beschränkt. Man sah nur einen Fleck, einen schmalen Streifen von ihr, durch den schmalen Zwischenraum, den der vorspringende Felsen auf der einen und die noch weiter vorgeschobene Kuppe auf der anderen Seite bildeten. Und durch diesen schmalen Zwischenraum drangen auf einmal, wie mit einem Zauberschlage, die letzten Strahlen der Sonne; hinten auf jenem schmalen Streifen sah man sie plötzlich aufblitzen, leuchten, glühen, nur einen Augenblick lang.

Es war ein wunderbarer Augenblick! Der Staatsanwalt und seine blasse Frau hatten fast unbeweglich neben einander gestanden. Ihre Mienen, ob sie mit einander gesprochen, hatte man auf der Kuppe in der Entfernung nicht unterscheiden können. Hatten sie den Untergang der Sonne, den reizenden Anblick, der sich ihnen noch darbieten sollte, erwartet? Oder hatte Anderes sie beschäftigt?

Auf einmal streckte der Mann die Hand, den Arm nach der Frau aus. Die Frau flog zurück von dem Rande des Abgrundes bis an die steile Wand des Felsens.

„Was war das?“ rief Graf Golzenbach, „wollte der Bursch sie hinunterstoßen? Sie gewahrte es früh genug, sie entwich ihm. – Aber was ist denn das wieder? Er folgt ihr; sie weicht nicht mehr vor ihm zurück. Sie sieht ihn an. Sie sprechen mit einander, und sie hört ihm zu und antwortet ihm. Will er sie wieder zutraulich machen? Sie steht ruhig da. Sie sieht sich sogar um, von ihm weg. Er braucht nur nach ihr zu langen; sie gewahrt es nicht. Und – heiliger Gott! – Aber wie kann ich den heiligen Gott zu dem Burschen rufen, zu dem nur der Teufel gehört? Und doch – und doch! Heiliger Gott, so stehe denn der armen Frau bei! – Der Mensch hat sie angefaßt! Er geht wieder an den Abgrund! Sie folgt ihm! Er zieht sie, schleppt sie! – Wartenburg, rufe, schreie. Rette das arme Weib! Wenn wir auch darüber zu Grunde gehen! Wenn der Elende auch nicht zum Mörder wird! Rufe ihm zu, daß er Zeugen hat. Ich kann es nicht. Mir versagt die Stimme.“

Herrn von Wartenburg versagte die Stimme wohl nicht.

„Nein, nein!“ sagte er aber, „Du siehst falsch, sprichst im Fieber.“

„Und was sehe ich falsch?“ rief der Andere, „hat er sie nicht gefaßt? Steht er nicht mit ihr unmittelbar an dem Abgrunde? Sieht sie ihn nicht an? Und wie sollte sie ihn ansehen, wenn nicht bittend, bittend um ihr Leben? Und – ha, er läßt sie los! Er läßt den Arm sinken. Er tritt von ihr zurück. Aber er tritt wieder hinter sie. Er streckt den Arm wieder nach ihr aus! Sie beugt sich nach vorn herüber! Sie schwankt – sie – Heiliger Gott! – sie fällt – sie sinkt. Siehst Du sie noch, Wartenburg? Meinen Augen ist sie entschwunden. Aber ich glaube, der Wahnsinn blendet sie mir, faßt mich.“

„Dich nicht!“ sprach die bebende Stimme des Herrn von Wartenburg.

Der besonnene Mann stand unbeweglich leichenblaß; seine Augen starrten nach drüben, nach der Felsenwand, an der die unglückliche Frau nicht mehr zu sehen, in den Abgrund, in dem sie verschwunden war; wieder nach dem Felsen, an dem der finstere Mann ebenfalls leichenblaß und unbeweglich stand. Die Sonne war untergegangen.

„Dich nicht,“ wiederholte er tonlos. „Aber die Unglückliche war von ihm erfaßt.“

„Die Todte? Die Ermordete?“ rief der Andere.

„Todt ist sie –“

„Und gemordet!“

Herr von Wartenburg sah den Grafen an, als wenn er aus einem Traume erwache.

„Gemordet? Von wem?“

„Von dem Elenden – von ihrem eigenen Gatten!

„Nein, nein!“

„Mensch, sahest Du nicht? Hattest Du keine Augen?“

„Aber nicht die Augen des Wahnsinns, mein Freund.“

„Der Wahnsinn hat Dich ergriffen –“

Der leidenschaftliche Mann konnte nicht fortfahren. Die beiden Flüchtlinge hatten an alles Andere, aber nicht an sich, nicht an ihre Sicherheit, nicht an ihre Verfolgung gedacht. Dicht unter ihnen, in dem Gebüsch, das zu ihren Füßen die Bergkuppe bedeckte, war leises Geräusch laut geworden. Sie hatten es nicht gehört. Es war näher gekommen; die Blätter an den Zweigen der Sträucher hatten leise gerauscht; auf dem Moose an dem Boden hatte es gescharrt; sie hatten es nicht wahrgenommen.

Zwei Bewaffnete, zwei Gensdarmen, standen vor ihnen, plötzlich, wie sagenhaft aus dem Berge, aus dem alten Gemäuer herausgewachsen. Sie standen an der Seite des Grafen Golzenbach. Er sah sie und griff nach dem Pistol, das er neben sich liegen hatte; er spannte den Hahn, sprang auf und zielte nach einem der Gensdarmen. Der Gensdarm zielte mit seiner Waffe nach ihm, drückte sie ab, war ihm zuvorgekommen. Der Graf Golzenbach fiel, durch den Schuß in die Brust getroffen. Das Blut spritzte aus der Wunde hoch auf.

Herr von Wartenburg hatte sein Pistol ergriffen, gespannt. Er drückte es ab auf einen der Gensdarmen. Der Schuß ging los; die Kugel riß dem Gensdarmen die Kopfbedeckung fort; der Mann stand unversehrt. Der Flüchtling wollte sich auf ihn werfen, auf die beiden Gensdarmen, den Freund zu befreien.

„Rette Dich, Wartenburg,“ rief der Graf. „Ich habe die Kugel in der Brust, ich sterbe.“

Herr von Wartenburg wollte dennoch zuspringen. An der anderen Seite der Kuppe stiegen zwei andere Gensdarmen herauf. Er besann sich rasch. Zu retten, zu befreien war nichts mehr. Dem sterbenden Freunde die Augen zudrücken? Man hätte ihn nicht einmal zu ihm gelassen. Er flog den Berg hinunter. Schüsse fielen hinter ihm, trafen ihn nicht. Die Gensdarmen setzten ihm nach, erreichten ihn nicht.



5. Ein Blutzeuge und ein Hochverräther.

Es hatte schon angefangen zu dunkeln, als der Wagen der Reisegesellschaft angespannt vor dem Gasthause auf dem Weißen Stein hielt.

„Ob wir noch etwas warten?“ sagte Herr Milden. „Es ist

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_403.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)