Seite:Die Gartenlaube (1864) 393.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

zu decken. Nationalgarden von der ersten Legion, sowie ausharrende Freunde der königlichen Familie, die Herren Lasteyrie, Scheffer und Andere, reihten sich ebenfalls dem Zuge an, welcher sich die große Avenue des Gartens entlang so rasch bewegte, wie der alte Mann, dessen dem völligen Bruche nahe physische und moralische Kraft nur noch durch die Seelenstärke seiner Gemahlin nothdürftig aufrecht erhalten wurde, zu gehen vermochte. Ein wahrer Leichenzug der Julimonarchie! Man konnte denselben von der Rue Rivoli aus zwischen den blätterlosen Baumzweigen dahingleiten sehen, schemenhaft schwarz, da die Mitglieder der Familie Louis Philipp’s die Trauer um die kurz zuvor gestorbene Prinzessin Adelaide noch nicht abgelegt hatten.

Der mit Herrn Cremieux vorangehende Herzog von Montpensier kehrte sich von Zeit zu Zeit um und sagte: „Beschleunigen Sie Ihre Schritte, Sire!“ In der Mitte der Avenue überschlug sich das Pferd eines der reitenden Nationalgardisten und fiel auf seinen Reiter. „Armer junger Mann!“ rief die Königin aus, Louis Philipp aber nur: „Schafft mir das Pferd aus dem Wege!“ Am Gitter der aus dem Garten auf den Concordeplatz führenden Drehbrücke angelangt, blieb er stehen und richtete an Herrn de Montalivet die Frage: „Hat man die Gewißheit, mich in Sicherheit nach Saint-Cloud zu bringen?“

„Ja, Sire.“

Der Entkrönte passirte das Gitter und betrat den Platz. Da er gesenkten Hauptes einherschritt, bemerkte er Blutspuren auf dem Boden und machte eine Bewegung des Abscheus. Aber der Concordeplatz war nicht so verlassen wie der Tuileriengarten. Eine Menge von Neugierigen wogte darauf hin und her. Darunter Gruppen von Bürgerwehr, da und dort auch ein Häuflein Blousen, Gewehre in den Händen, die Gesichter von Pulverrauch geschwärzt.

Der Fluchtzug stockte, der König schien erkannt, das Anfluthen der Menge wurde stärker. Eine Stimme aus dem Gefolge rief: „Messieurs, Schonung, Gnade für den König!“

„Die soll er haben; wir sind keine Mörder; aber schnell auf und fort mit ihm!“ eine Antwort, welche das hundertfache Echo fand: „Ja, schnell auf und fort mit ihm!“

Die Königin zog ihren Gemahl mit sich fort, dahin, wo am Fuße des Obelisken drei schlechte, einspännige Miethwagen hielten, genau auf der Stelle, wo vor Zeiten, in der Sprache von damals zu sprechen, „La Sainte-Vierge Guillotine“ ihren „Altar“ gehabt.

War es nicht ein furchtbarer Schicksalshohn, daß der vom Throne gestürzte Sohn von Philipp Egalité gerade von dieser Stelle aus in’s Exil geschleudert wurde? Von der Stelle aus, wo sein Vater am 6. November 1793 in weißer Weste, gelben Lederhosen und zeisiggrünem Frack auf besagtem „Altar“ erschienen war, „pour faire le saut de carpe en avant.

Aber der alte Mann ist von der Angst der Gegenwart zu sehr erfüllt, um des Schreckenn der Vergangenheit zu gedenken. Er öffnet die Thüre eines der schmutzigen Fuhrwerke und findet dasselbe bereits mit Prinzessinnen und Kindern vollgestopft. „Heraus! Steigt alle heraus!“ ruft er, in der Selbstsucht des Alters und der Furcht des zärtlichen Familienvater für den Augenblick ganz vergessend. Die Prinzessinnen gehorchen. Louis Philipp wirft sich hastig in den Wagen, die Königin folgt ihm, drei ihrer Enkel haben den Vordersitz inne. Die anderen Mitglieder der Familie pressen sich, so gut es gehen will, in die beiden anderen Wagen; aber die Prinzessin Clementine und die Herzogin von Montpensier finden keinen Platz mehr und werden durch die Herren Thierry und Lasteyrie aus dem Gedränge und in ein sicheres Asyl gebracht. Die schöne Infantin – geborene Muñoz, wie die bösen Zungen sagen – ist eine jugendlich muntere Dame. Sie fängt an, die Sache „amüsant“ zu finden und äußert gegen ihren Ritter Lasteyrie, das sei doch auch mal eine der Mühe werthe Abwechslung in der ewigen Langeweile des Hoflebens.

„Mein Portefeuille! mein Portefeuille!“ schreit Louis Philipp aus dem Innern des Wagens. Der „König der Börse“ vergaß selbst in dieser äußersten Angst nicht seiner „Werthpapierchen“. Herr Cremieux schiebt die umfangreiche Mappe mit Mühe durch die Wagenfensteröffnung, und, im Besitze seines Theuersten, ruft der alte Mann in höchster Ungeduld: „Partez! Partez donc! Partez vite!“ Der Kutscher peitscht auf sein Pferd, und im Galopp fliegt der Wagen davon, daß der flüssige Koth darob zusammenspritzt.

Also verschwand des Königs Majestät und Herrlichkeit. Im Julistaube war er gekommen, im Februarkoth ist er gegangen.

Aber seht, was thun denn jetzo die beiden Nothhelfer, welche „berufen waren, die Monarchie zu retten,“ Monsieur Thiers und Monsieur Bugeaud? Sie thun, was kluge Leute unter so bewandten Umständen zu thun pflegen: – sie retten sich selbst. Der Marschall ist übrigens martialisch genug, nur von einem einzigen Adjutanten gefolgt, in seinem Marschallsanzug langsam davon zu reiten. Herr Thiers schlängelt sich zu Fuße durch den Tuileriengarten und über die Concordebrücke in’s Palais Bourbon hinüber, in dessen Räumen die Repräsentanten der Corruption – officicll heißen diese Herren „Vertreter des französischen Volkes“ – rathlos hin- und herrennen. Selber rathlos und bis zur Besinnungslosigkeit bestürzt, geht der kleine Ex-Nothhelfer durch einen der Säle. Corrupte umdrängen ihn mit stürmischen Fragen. „Messieurs, es gehen Dinge vor, Dinge, Dinge! Die Fluth steigt, steigt, steigt! Alles ist verloren!“ erwidert er stotternd und verschwindet, um nicht mehr zu erscheinen, bevor die politische Temperatur wieder so ist, daß Ränkespinner mit ziemlicher Sicherheit aus ihren Schlupfwinkeln sich vorwagen können …

Dieser beiden Stützen also sah sich die arme Herzogin von Orleans beim Antritt ihrer Regentschaft beraubt, und es war überhaupt kläglich bestellt mit den Stützen dieser Regentschaft. Der Deputirte Lacrosse sagte nach der Flucht des Königs zu der Prinzessin: „Madame, gehen Sie mit Ihren beiden Knaben sofort nach der Deputirtenkammer. Dort ist jetzt der Sitz der Autorität, das Volk wird Ihnen Platz machen; denn Sie sind die Frau des Herzogs von Orleans und tragen Wittwentrauer um ihn.“ Ein wohlgemeinter, aber schlechter Rath; denn die Entscheidung war nicht im Palais Bourbon … Die Herzogin zog sich für eine Weile in ihre Gemächer im Pavillon Marfan zurück, wo Herr Dupinauch eine Säule des Orleanismus, später aber eine Säule des Bonapartismus – zu ihr kam und sie in der Absicht, ihr Heil in der Deputirtenkammer zu versuchen, bestärkte. Er sprach noch für seine Meinung, als der Adjutant Touchard hereinstürzte, um eiligst zu melden, der Herzog von Nemours lasse seine Schwägerin bitten, sich ohne allen Verzug durch den Pavillon de l’Horloge in den Garten und durch die große Avenue desselben zur Drehbrücke zu begeben. Es sei kein Augenblick zu verlieren. Die Prinzessin brach alsbald auf und machte sich, ihre beiden Knaben, den Grafen von Paris und den Herzog von Chartres an den Händen, mit einem kleinen Gefolge auf den bezeichneten Weg.

Sie gelangte glücklich in den Garten. Aber es war in der That kein Augenblick zu verlieren gewesen, maßen inzwischen die Tuilerien eingenommen worden und zwar durch einen einfachen Lieutenant von der 5. Bürgerwehr-Legion, Herrn Aubert-Roche. Als nämlich die Truppen den Carrouselplatz geräumt hatten, war derselbe sofort von Nationalgarden besetzt worden. Kaum war dies geschehen, als nach Bewältigung des Château d’Eau die siegreiche Volksmasse mit dem Donnerruf: ,Aux tuileries!“ über die Rue Rivoli gegen den Platz vorbrach, und alsbald schlugen die Flintenkugeln an die Nordseite des Schlosses. Der Herzog von Nemours, erkennend, daß jeder Versuch, den Palast zu vertheidigen, blos ein unnützes Blutbad zur Folge haben würde, und edelmüthig nur darauf bedacht, den Gang seiner Schwägerin zum Palais Bourbon zu decken, befahl den Truppen, zum Abzug durch das Thor des Pavillon de l’Horloge sich bereit zu halten. Derweil mühten Bürgerwehr- und Blousenmänner in buntem Gemische sich ab, das Eisengitter, welches den Schloßhof gegen den Carrouselplatz absperrte, niederzubrechen, und befürchtend, diese Mühwaltung möchte die Wuth der Stürmenden steigern, wußte sich der genannte Bürgerwehrofficier durch das Thor des an die Rue Rivoli stoßenden Pavillon Eingang zu verschaffen und den Gouverneur des Palastes, Oberst Bilfeld, zu bewegen, ihm die Schlüssel auszuliefern. Dann eilte er, das nach dem Carrouselplatze führende Hofgitterthor aufzuschließen, und die Menge strömte in den Schloßhof. Der Herzog von Nemours vernahm, unter dem Thor des Pavillon de l’Horloge im Kreise seiner Officiere stehend, das Herannahen des Volkes. „Was, jetzt schon?“ rief er aus, gab geflügelte Befehle, die sämmtlichen Truppen, welche noch vorhanden, durch die große Mittelpforte in den Garten debouchiren zu lassen, und stellte sich an die Spitze des 1. Bataillons vom 10. leichten Regiment, um damit der Herzogin von Orleans auf ihrem Wege zu folgen. Der Prinz hat dann, wie bekannt, mit äußerster Hingebung und Selbstverleugnung bis zuletzt seine Pflicht gethan, er und nur er war es, der an diesem „Tag des Zorns“ dem Namen Orleans Ehre machte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_393.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)