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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

als einem seiner Begleiter, dem Deputirten Lacrosse, einfällt, es wäre doch wohl besser, wenn der Marschall dem Volke eine förmliche Abdankungsurkunde entgegenhalten könnte. Herr Lacrosse eilt in das königliche Cabinet zurück und theilt sein Anliegen dem jüngsten Sohne Louis Philipp’s mit. Montpensier legt ein Blatt Papier auf den in der Mitte des Zimmers stehenden Schreibtisch und sagt zu seinem Vater: „Sire, Sie müssen Ihre Thronentsagung unterzeichnen.“

Der König steht auf und geht langsam zu dem Schreibtisch, vor welchen sein Sohn einen Stuhl hinstellt. Da macht die Königin noch einen Versuch der Gegenwehr, indem sie ihrem Gemahl mn den Hals fällt mit dem Ausrufe: „Schreiben Sie nicht, Sire, schreiben Sie nicht! Weichen Sie einer Emeute nicht! Man will Ihnen bange machen!“

Der alte Mann hält inne, aber Montpensier zeigt mit einer Gebehrde der Ungeduld auf das Blatt Papier. „Wohlan, da man es will … sagt der König, setzt sich an den Schreibtisch und beginnt langsam zu schreiben.

„Beeilen Sie sich, Sire,“ sagt eine Stimme, man weiß nicht, wessen, „schon wird auf dem Carrouselplatze geschossen.“

Das ist dem alten Manne doch zu viel. Er blickt auf, forscht mit einem Blicke der Entrüstung nach dem Sprecher und entgegnet: „Man wird mir wohl Zeit lassen. Komme, was da wolle, ich kann nicht schneller machen.“ Und er schrieb mit großen Buchstaben in langsamen Zügen:

„Ich entsage der Krone, welche zu tragen die Stimme der Nation mich berief, zu Gunsten meines Enkels, des Grafen von Paris. Möge er die große ihm heute zufallende Aufgabe lösen!“ (J’abdique cette couronne, que la voix nationale m’avait appelée à porter, en faveur de mon petit-fils le comte de Pairs. Puisse-t-il réussir dans la grande tâche qui lui échoit aujourd’hui!)

Am 24. Februar 1848.

Louis Philipp. 


Man sieht, er übereilte sich nicht; er nahm sich Zeit, einen dummen Schreibfehler (appelée statt appelé) zu begehen.

Nachdem der König die Urkunde aufgesetzt und unterzeichnet hatte, las er sie halblaut vor. Die Königin umarmte ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit und sagte: „Füge hinzu, daß Du wünschest, Dein Enkel möge Dir gleichen. Denn, Messieurs, der König ist doch ein redlicherer Mann als Ihr Alle.“ Und sie hängte dieser Beleidigung noch die grollenden Worte an: „Ihr habt jetzt, was Ihr gewollt; aber Ihr werdet es bereuen!“ … Der entkönigte alte Mann sagte: „Da ist meine Abdankung; man bringe sie dem Marschall Gérard.“ Nach einigem Zögern nahm Herr Baudin das Papier und eilte damit dem Marschall nach.

Zu spät! … Es ist, als hörte man in dieser Tragödie vom 24. Februar 1848 einen äschyleischen Eumenidenchor das schicksalsschwere Wort hohnlachend immer und immer wieder anstimmen.

Die Abdankungsurkunde war zur Stunde nur noch ein werthloser Papierfetzen, welcher nicht einmal in die Hände des Marschalls Gérard gelangte, sondern unterwegs in denen des Republikaners Lagrange hängen blieb. Die Mission des Marschalls selbst that gar keine Wirkung. Im Begriffe, das letzte Hinderniß auf ihrem Wege zu den Tuilerien, das Châtean d’Eau, nach mörderischem Kampfe zu bewältigen, blieb die Revolution für alle vermittelnden Stimmen taub, wie das ja so hatte kommen müssen. Denn es ist dafür gesorgt, daß abermalen und abermalen in Erfüllung gehe, was beim Anastasius geschrieben steht:

„Mild und bittend sprach sie einstens; eure Taubheit zwang sie jetzt,
Daß sie in Kanonendonner ihre Bitten übersetzt.“ …

Im Schlosse hegte man kaum einen Zweifel, daß die Worte der Abdankungsurkunde wie sänftigendes Oel auf die Aufstandswogen träufeln würden. Auch die Regentschaft der Herzogin von Orleans galt für selbstverständlich. Sie selbst rief, verstört durch die Zornblicke ihrer Schwiegermutter und das feindselige Gebahren ihrer Schwägerinnen, weinend aus: „Großer Gott, welche Last! Ohne Stütze, ohne Beistand … Verlaßt mich nicht!“ …

Es war 121/2 Uhr, als Herr Thiers auf den Carrouselplatz hinabging, um seinem „intimen Freunde“ Bugeaud zu sagen, wie sich droben die Dinge entwickelt hatten. Der eisenfresserische Soldat, welcher wenige Stunden vorher seinem kleinen Freunde geschrieben hatte, daß sie Beide „berufen seien, mitsammen die Monarchie zu retten“, schrie fluchend: „So ist also Alles zum Teufel!“

Worauf der Andere: „Ja, man hat uns eben zu spät berufen.“

Der Herzog von Nemours kam, dem Marschall das Commando abzunehmen, was dieser widerwillig geschehen ließ.

Der Prinz gab hierauf den Befehl, daß die Truppen den Carrouselplatz räumen und sich in den Tuilerienhof zurückziehen sollten. Diese Bewegung wurde ausgeführt, und hinter den abgezogenen Soldaten schlossen sich die Eisengitter des Palasthofes. Unterdessen gab es eine große Bewegung in den Corridoren und auf den Treppen des Schlosses: der Vollstrom der Rattenauswanderung ergoß sich. Die mit Macht grassirende Angst ließ Herren in Uniformen und Hoffräcken und Damen in Seidenroben und Sammetmänteln schaarenweise davongehen, Bestürzung auf den Gesichtern und auf den Lippen den nicht mehr verhaltenen Angstruf: „Alles ist verloren!“

So hatte sich die Menge auch im königlichen Cabinet beträchtlich gelichtet, als die Botschaft dahin gelangte, daß die Sendung des Marschalls Gérard vollständig gescheitert und der General Lamoricière vom Volke zum Gefangenen gemacht worden sei. In demselben Augenblicke Schüssegeknatter auf dem Carrouselplatz, wohin die Insurrection bereits ihre Plänkler vorgesandt hatte. Diese sahen einen Zug königlicher Reisewagen, welche man auf den Fall einer Flucht hin aus den Ställen in der Rue Saint-Thomas du Louvre herbeibefohlen, über den Platz fahren, schossen darauf, tödteten einen Vorreiter, sowie mehrere Pferde, und zwangen die Wagen zur Umkehr nach den Remisen.

Das Knattern dieser Schüsse macht die Prinzessinnen Schreckensschreie ausstoßen. Louis Philipp schnellt in höchster Unruhe aus seinem Fauteuil empor. Herein stürzt, die Kleider in Unordnung und in äußerster Fassungslosigkeit, Herr Cremieux: „Sie haben keinen Augenblick mehr zu verlieren, Sire! das Volk kommt! Noch etliche Minuten und es wird in den Tuilerien sein!“ Der König sagt kein Wort, aber er hastet sich, sein Ordensband und seinen Degen abzuthun. Dann zieht er seine Uniform aus, schlüpft mit Hülfe der Königin in einen Civilrock und ruft suchend und bebend: „Meine Uhr? Meine Uhr? Ach, ich hab’ sie! Da, nehmt dies Portefeuille! Und wo ist mein Schlüsselbund?“ Es war Etwas wie Wahnsinn in den Bewegungen und Worten des Greises, aber Nichts vom Wahnsinn eines Lear, wohl aber von dem eines zu Grunde gerichteten Bankiers.

Die Prinzessinnen brachen in Schluchzen aus und die Kinder der königlichen Familie staarten mit ängstlicher Neugier auf das für sie unbegreifliche Schauspiel. Die Königin – so will eine Ueberlieferung, die aber nicht fest verbürgt ist, da es zweifelhaft, ob Thiers es für gut gefunden, zu dieser Zeit noch im königlichen Cabinet anwesend zu sein – die Königin, die Tochter Karolina’s von Neapel und Enkelin Maria Theresia’s, diese Frau, in welcher der lothringisch-habsburgische Stolz mit dem bourbonischen Hochmuth sich verband, sie soll selbst in diesen letzten Minuten ihrer Königinschaft nicht umhin gekonnt haben, ihren Groll und Zorn auszulassen. Mit vor Ingrimm bebenden Lippen soll sie zu dem armen kleinen Geschichtschreiber, welcher doch wahrlich an der Februarrevolution sehr unschuldig war, gesagt haben: „Sie haben uns zu Grunde gerichtet! Sie haben die Volksleidenschaften zu einem Brande geschürt, dessen Flammen jetzt über dem Throne zusammenschlagen! Sie sind ein Undankbarer und verdienten keinen so guten König!“

Louis Philipp, in schwarzem Frack und Hut, nahm den Arm der Königin, sagte im Vorbeigehen zur Herzogin von Orleans: „Helene, Sie bleiben da!“ und gab durch sein Weggehen das Zeichen zur Flucht. Von Mitgliedern der Familie folgten dem greisen Königspaar der Herzog von Montpensier und seine Frau, eine spanische Infantin, dann die Herzogin von Nemours mit ihren Kindern und der Prinz August von Sachsen-Coburg mit der Prinzessin Clementine, seiner Frau. Etliche Hofdamen, etliche Adjutanten, Palastbeamte und Diener schlossen den Zug, der mittelst eines mit dem Arbeitscabinet des Königs in Verbindung stehenden unterirdischen Ganges unter dem Pavillon de l’Horloge hinweg in’s Freie gelangte, in den Tuileriengarten, welcher leer und still war, während der Schall des Kampfgetöses ven rechts herüber grollte und drohte. An der Ausmündung des unterirdischen Ganges fand man Herrn von Montalivet, welcher, seinem Gebieter treuer als viele Andere, zwei Schwadronen Gardekürassiere unter den Befehlen des Generals Regnauld bereit hielt, die Flucht des Entkrönten

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