Seite:Die Gartenlaube (1864) 389.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Das Rauchen aus Pfeifen ist in den Vereinigten Staaten selten geworden. Nur auf dem Lande sieht man hin und wieder noch ein altes Mütterchen, das in Gesellschaft ihres alten Mannes ihre Pfeife schmaucht. Die deutschen Einwanderer mit ihren Pfeifen sind für die Amerikaner eine auffallende und Abneigung erregende Erscheinung.“

Und so war es; aber schon während Herr Tiedemann diese Acht und Aberacht, in welche die Pfeifen von Vollblut-Amerikanern erklärt worden, registrirte, bereitete sich ganz im Stillen eine Revolution gegen solche Tyrannei vor, eine Revolution, die sich dadurch verrieth, daß immer mehr Pfeifen und endlich sogar prächtige Meerschaums importirt worden, ja daß im Lande selbst nicht nur Pfeifen-, sondern auch Tabak-Fabriken entstanden, die sich schnell ausdehnten und in welchen nicht blos alle Sorten Rauchtabak, sondern auch der früher wenig beliebte Schnupftabak in enormen Quantitäten fabricirt werden.

Mit der großartigsten dieser Fabriken, die, von unternehmenden Deutschen in kleinem Maßstabe gegründet, in kurzer Zeit durch Umsicht und rationelle technische Leitung das größte Etablissement dieser Art in Nordamerika und vielleicht auch in Europa wurde, will ich jetzt den Leser bekannt machen.

Tabakfabrik von Gail und Ax in Baltimore.
Nach einer Originalzeichnung von A. Weidenbach in Baltimore.

Im südlichen Theile von Baltimore, der Hauptstadt des tabakreichen Staates Maryland, ganz nahe am Hafen und nicht weit von der großen Baltimore-Ohio-Bahn, erhebt sich ein imposantes, aus fünf Stockwerken (Mansarden-Räume ungerechnet) bestehendes Gebäude, an das sich zwei Flügel schließen, die im Hintergrunde durch ein zweistöckiges Maschinenhaus verbunden werden. Das Gebäude, das eine Front von 144 und eine Tiefe von 183 Fuß hat, ist nicht, wie sonst bei amerikanischen Fabriken der Fall, unansehnlich oder bunt zusammengeflickt, sondern vereint mit Großartigkeit und Zweckmäßigkeit, so viel hier möglich, Schönheit der architektonischen Form und ist mit einem Thurm geschmückt, auf den wir später zurückkommen werden.

Treten wir jetzt durch das große Portal in das Innere der Fabrik. Im Thorweg hält auf einer horizontalen Thür, unter der sich eine große amerikanische Brückenwage befindet, ein mit Rohtabak beladener Wagen. In einigen Minuten wird das Brutto-Gewicht der Last bestimmt, das bekannte Gewicht des Wagens abgezogen und das auf diese Weise erhaltene Netto-Gewicht in einer kleinen Kanzlei verbucht. Ebenso wird aller Rohtabak, bevor er in’s Innere des Hauses gelangt, abgewogen. Gehen wir nun in das Hauptcomptoir, welches durch eine geräumige Halle mit dem Expeditionslocal verbunden ist. Es besteht aus zwei geschmackvoll decorirten Zimmern, in welchen Mundstücke von einer Menge von Sprachrohren, wie in Reih und Glied gestellt, von den Wänden schimmern. Durch diese Sprachrohre werden die nöthigen Befehle in alle Arbeitssäle, Magazine, Privatbüreaux etc. gerufen. Ebenda ist ein feuerfestes Gewölbe mit einem kunstvollen Schloß, das unter 32,000 Combinationen versperrt werden kann und daher dem größten Diebesgenie eine schwer zu lösende Aufgabe böte. Im Erdgeschoß befinden sich drei große Aufziehmaschinen, die theils kolossale Oxhoftfässer, theils kleinere Quantitäten des Rohmaterials in die obern Räume bringen und sich so sicher bewegen, daß treppenscheue Arbeiter oder Besucher der Fabrik sich auf denselben in alle Stockwerke heben lassen. Sie schaffen auch den Rohtabak, nachdem er von Arbeiterinnen assortirt und in einem Nebenzimmer eingeweicht

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_389.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)