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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

3. Die Steile Wand.

Sie standen auf dem schönsten Punkte, den die Höhe des Berges darbot, und genossen eine freie und weite Aussicht über den langen Kamm des Gebirges, in die Thäler und Ebenen zu dessen beiden Seiten. Die reinste Abendsonne beleuchtete die schöne Doppellandschaft. Sie war noch ziemlich hoch am Himmel, erst in einer Stunde war ihr Untergang zu erwarten; aber leichtes Abendgewölk zog ihr schon hinten am fernen Horizont entgegen.

Sie standen Alle in stummer Bewunderung des herrlichen Schauspiels. Selbst aus der Brust des finsteren Oberstaatsanwaltes schien der wundervolle Anblick für einige Zeit die leidenschaftlichen Regungen verbannt zu haben, und seine blasse Frau – sie schaute an dem Arme der Frau Milden mit träumerischem, sanft und weich glänzendem Auge in die schöne Natur hinein, in die weite Ebene nach Westen, die so klar, so ruhig und so still in dem Lichte der Abendsonne dalag; sie sah der Sonne nach, die sich tiefer und tiefer senkte, um in der Nacht zu verschwinden. Das Auge der blassen Frau behielt seinen weichen, träumerischen Glanz. Die Frau Milden sah es und drückte still die Hand der Freundin.

Freundinnen waren sie geworden, die beiden Frauen, in der kleinen halben Stunde, die sie allein auf dem Wagen beisammengesessen hatten. Wie es nicht anders hatte sein können, als daß ihre Herzen sich hatten verstehen, sich gegen einander öffnen, sich hatten lieben müssen, so zeigte das auch so natürlich jeder ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen. Man sah ein Paar Schwestern, von denen die ältere und stärkere die jüngere, schwächere, tief und schmerzlich leidende mit um so heilenderem Troste umfassen konnte, als ihr eigenes Herz ihr ein so klares Verständniß, ein so inniges Mitgefühl für jene tiefen und schmerzlichen Leiden gab.

Dem scharfen, mißtrauischen Auge des Gatten der leidenden Frau war das am wenigsten entgangen. Die fast ewig finsteren Wolken auf seiner Stirn waren drohender geworden. Aber seine Gattin konnte ihm frei in das Auge blicken. Er hatte sich wieder beruhigt; es hatte wenigstens so geschienen. Er sah auch jetzt den Händedruck der beiden Frauen. Es zog dem leidenschaftlichen, eifersüchtigen Manne krampfhaft die Hände, die Gesichtsmuskeln zusammen.

Die Gesellschaft ging weiter, denn der Berg bot noch manche andere schöne Punkte dar. Herr Milden, der schon öfter hier gewesen war, machte den Führer. Sie verließen die offenen Plätze, welche die weiten, freien Aussichten gaben, und kamen in ein Gehölz, und am Ende desselben vor einen mächtigen, breiten, hohen Felsen. Er lag vor ihnen, als wenn er die Welt, eine andere, unbekannte Welt, vor ihnen verschließen wolle.

„Hm,“ sagte Herr Milden geheimnißvoll, „hier werden wir wohl umkehren müssen.“

„Warum?“ wurde er gefragt.

„Es ist gefährlich dort, und der Mensch verlange nimmer und nimmer zu schauen, was sie, die Götter nämlich –“

„Onkel,“ rief die Braut, „wir stehen an der Steilen Wand?“

„Ja, Mädchen, und da müssen wir zurück.“

„Da müssen wir hin, Onkel! Sie haben mir so viel davon erzählt! Es soll so schön dort sein.“

Auch der Bräutigam und Herr Eisen baten, und der Domherr gab endlich den Ausschlag. „Herr Milden, lassen Sie die Jugend der Gefahr in’s Auge schauen. Sie tritt später noch oft an den Menschen heran, an jeden und in jeder Form. Es ist gut, wenn sein Auge sie schon kennt.“

„Nun denn, so folgen Sie mir,“ sagte Herr Milden. „Aber Du, Emchen, willst doch nicht mitgehen?“

„Wir beiden Frauen bleiben zurück,“ erwiderte die Frau.

Der Felsen, an dem sie standen, hatte mehrere Vorsprünge; einer von diesen verbarg einen breiten Einschnitt. Sie gingen durch diesen, sie waren auf der Steilen Wand.

Der Oberstaatsanwalt hatte einige seiner finsteren, mißtrauischen Blicke auf die beiden zurückbleibenden Frauen geworfen, dann war er mit den Anderen weiter gegangen. Man hätte an seinem Muthe zweifeln müssen, wenn er zurückgeblieben wäre.

Die Steile Wand war eine lange, senkrechte Wand, die der schroff vorspringende Felsen bildete; längs der Wand lief ein schmaler Raum, der kaum drei bis vier Fuß breit war, unter dem sich unmittelbar ein tiefer Abgrund aufthat, und den man nur einzeln, Mann für Mann, betreten durfte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, in den Abgrund zu stürzen; eine Brustwehr hatte in dem harten und spröden Gestein des Felsens sich nicht anbringen lassen. Der Besuch des Platzes war in der That gefährlich, und wie viele Reisende auch alljährlich die Höhe des Weißen Steins erstiegen, um sich an seiner reizenden Aussicht zu erfreuen, auf die Steile Wand begaben sich nur wenige, und diese wenigen nicht ohne große Vorsicht. Und doch war es ein so eigenthümlicher, wie unheimlicher, so auch heimlicher Platz. Man stand dort völlig abgeschieden von der Welt, auf einem Raume, der nicht vier Fuß breit war, hinter sich die steile, kahle Felswand, vor sich unmittelbar den tiefen Abgrund, dessen Tiefe man nicht wagen durfte ermessen zu wollen, wenn man sich nicht zugleich der Gefahr des rettungslosen Sturzes aussetzen wollte. Man konnte nur eben in eine unergründliche Tiefe hinunterblicken, in der das Auge nach oben hin nur starre Felsenzacken und wildes Gestrüpp, dann aber nichts mehr unterschied, in der das Ohr aber tief, tief unten das Rauschen eines Wassers vernahm. Jenseits der dunklen Tiefe erhob sich ein hoher, steil und spitz zulaufender, mit Holz bewachsener Berg, oben auf seiner Spitze erblickte man graues Gestein; man konnte nicht unterscheiden, ob es Felsenstücke oder Ruinen eines alten Burggemäuers waren. Zwischen dem spitzen Berge und der steilen Wand des Felsens befand sich ein kleiner offener Zwischenraum; man sah durch ihn in eine endlose Ebene, und in deren Mitte gerade auf eine Stadt, auf ihre dunkle Häusermasse, auf ihre Gruppe hoher Kirchenthürme.

Die Reisenden standen auch hier in stillem Anschauen. Nur des Staatsanwaltes hatte sich eine eigenthümliche Unruhe bemächtigt. Herr Milden, der für Alles Augen hatte, bemerkte es.

„Sieh’ ihn Dir einmal an, Idchen,“ sagte er leise zu der Braut.

„Ja, Onkel, er sieht so unheimlich aus, wie die finstere Tiefe hier unter uns.“

„Ja, ja, Idchen, und als wenn er in der dunklen Tiefe etwas suchte, so etwas recht Entsetzliches.“

„Vorhin suchten seine Augen da drüben.“

„Wo, wo, Ida?“

„An den Steinen da oben, auf der Spitze des Berges. Er sah starr und scharf hin, als wenn er das alte Mauer- oder Felsenwerk mit seinen Augen durchbohren wolle. Auf einmal zuckte er und fuhr zusammen. Er mußte da oben etwas gesehen haben. Ich blickte schnell hin und meinte noch wahrzunehmen, daß sich etwas zwischen den Mauern bewege. Als ich schärfer hinsah, war es fort. Ich dachte, ich hätte mich getäuscht.“

Herr Milden schwieg einige Minuten. „Idchen,“ sagte er dann leicht, „mir kommt da ein sonderbarer Gedanke! Wenn seine mißtrauischen Staatsanwaltschafts- und Ehemannsaugen da oben die beiden Flüchtlinge …“

„Ich mußte wahrhaftig auch daran denken, Onkel,“ unterbrach ihn Idchen.

„Aber was sucht er denn jetzt da unten?“

„Ein Grab, Onkel.“

„Ein Grab? Mädchen, wie kommst Du darauf? Ein Grab und für sich? Danach sieht er mir nicht aus.“

„Nein, nicht für sich, aber –“

„Um Gottes willen, Mädchen, schweig. Er sieht auf uns. Sind seine Ohren so scharf, wie seine Augen, so hat er am Ende gehört, was wir sprachen.“

Sie brachen ihr Gespräch ab.

„Aber er sucht doch ein Grab da unten,“ sagte das Mädchen für sich, „und ich muß es wissen.“

Sie schüttelte sich, als wenn ein Grausen sie erfaßt habe, und trat zu dem Studenten.

„Herr Eisen, was blicken Sie so tiefsinnig in die Tiefe hinein?“

„Ich, mein Fräulein?“

„Ja, Sie. Woran dachten Sie?“

„Ich dachte gerade, wie diese tiefe, undurchdringliche Schlucht einen herrlichen Schlupfwinkel für Verbrecher abgeben könne.“

„Ei, ei, sind Sie denn überall vorzugsweise Criminalist?“

Der Oberstaatsanwalt sah sich plötzlich nach ihr um. Den Studenten hatte er schon bei dessen Antwort fixirt, und dieser hatte es bemerkt. Er war roth geworden und antwortete nicht.

„Und an was für Verbrecher dachten Sie?“ fragte ihn das Mädchen weiter. „An eine Räuberbande oder an – Ah, es

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