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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

gänzlich. Hier erhob sich eine ungeheure Barrikade, auf deren Brustwehr eine rothe Fahne flatterte. Die Vertheidiger dieser Barrikade gaben, als der liberale Schönredner vortrat und zu gesticuliren anhob, ihre Stimmung und Gesinnung sehr deutlich zu erkennen: – sie schlugen die Gewehre auf ihn an. Dann erhob sich wie Meeresgebrause der wilde Ruf: „A bas Louis-Philippe! Aux Tuileries! aux Tuileries!“ und die Friedensstifter sahen sich von einer drohenden Volksmasse umfluthet. Ihr Unternehmen war fehlgeschlagen. Sie mußten umkehren, und in der Rue de la Paix angelangt, trat Odilon Barrot niedergedrückt und erschöpft in sein Haus, wo er eine Menge seiner Bekannten versammelt fand. Darunter auch Herrn Garnier-Pagès, welcher zu dem gänzlich Entmuthigten sagte: „Man muß rasch vorgehen, Barrot, wenn uns die Ereignisse nicht überholen sollen. Heute sind Sie an der Reihe“ – (d. h. gewesen) – „morgen werden meine Freunde und ich es sein, übermorgen ist es Ledru-Rollin.“ Genau zu derselben Stunde that der Letztgenannte im Conferenzsaal des Palais Bourbon zu einer Anzahl orleanistischer Deputirten die Aeußerung: „Sie haben keine Zeit zu verlieren, Messieurs. Falls binnen einer Stunde die Abdankung des Königs und die Regentschaft (für den minderjährigen Grafen von Paris) nicht proclamirt ist, wird das Volk hierher kommen, die Kammer sprengen und die Revolution zu einer vollständigen machen.“

Also auch einer der vorragendsten Führer der republikanischen Partei ging dermalen noch nicht weiter als bis zur Abdankung des Königs. Der um Barrot versammelte Kreis wollte aber in seiner Mehrzahl von diesem „Aeußersten“ Nichts wissen, und nachdem sich der Hausherr wieder etwas erholt hatte, machte er sich, dem Drängen seiner Freunde nachgebend, auf, um sich im Ministerium des Innern zu installiren. Dem Reiz einer Ministerschaft vermögen Leute wie Herr Barrot unter keinen Umständen zu widerstehen, und nachdem es ihm nicht gelungen, der Minister Louis Philipp’s zu sein, hat er sich, wie bekannt, möglichst beeilt, der Minister Louis Bonaparte’s zu werden. …

In Wahrheit, als es gegen Mittag zuging, mußte es von allen im Sinne des Verbleibens von Louis Philipp auf dem Throne gemachten Zugeständnissen heißen: Zu spät! Aber war es denn nicht möglich, zu dieser Zeit noch mit Gewalt, mit rücksichtsloser Anwendung aller militärischen Kräfte und Mittel die Revolution niederzuschmettern? Diese Frage ist häufig gestellt und selbst von nicht unkundigen Leuten bejahend beantwortet worden. Der Aufstand, wurde gesagt, verdankte seinen Sieg nur der Milde oder, wenn man will, der Schwäche des greisen Königs; denn Bugeaud hatte Alles in Bereitschaft, die Insurrection bis zum letzten Funken im Blute der Insurgenten zu ersticken. Dem aus unbefangener Anschauung der Sachlage entspringenden kühlen Urtheil vermag jedoch diese Behauptung nicht standzuhalten. Es ist wahr, die Hartnäckigkeit, womit Louis Philipp an der Behauptung seiner Gewalt hing, war weiter Nichts als eine impotente Altersgrille; es fehlte ihr jedes thatkräftige Wollen, jeder mannhafte Entschluß, und der alte Mann war in ein klägliches Schwanken, in ein mitleidswerthes Tappen und Tasten verfallen, in einen Nachlaß der Natur, welchem so ein Aeußerstes, wie z. B. das Bombardement der Hauptstadt von den Forts aus gewesen wäre, abzuringen nicht nur eine moralische, sondern auch eine physische Unmöglichkeit war. Aber gesetzt auch, der König wäre grausam genug gewesen – er war bekanntlich überhaupt nicht grausam – den „Schlächter von der Straße Transnonain“ sein altes Handwerk wieder treiben und zwar im weitesten Umfange treiben zu lassen, die Situation war schon so, daß der Marschall Wenig oder Nichts ausrichten konnte. Die Nationalgarde wollte sich für die Reform und die Linie wollte sich nicht gegen die Bürgerwehr schlagen. Das war der Entscheidungsknoten. Der Rückzugsbefehl hatte vollends die abgemüdeten, hungernden und verdrossenen Soldaten, wie man zu sagen pflegt, „demoralisirt“, d. h. ihren Widerwillen, sich als willen- und herzlos gegen das Volk gebrauchen zu lassen, gesteigert.

Dazu kam die nicht „angebliche“, sondern sehr wirkliche Unpopularität Bugeaud’s, welche einen Theil seiner Thätigkeit von vornherein lahm legte. Der von seinem vergeblichen Ausflug nach den Boulevards in’s Schloß zurückgekehrte General Lamoricière verschwieg dem Marschall die entschiedene Wider-Bugeaud-Stimmung der Bevölkerung nicht, und der Herzog von Isly mußte endlich wohl daran glauben, da er gerade zuvor in eigener Person einen sprechenden Beweis dafür erhalten hatte. Als er nämlich vorhin zwei in der Rue Rivoli aufgestellte Bataillone der zweiten Bürgerwehrlegion mustern gegangen, hatten ihm Officiere und Mannschaft den Gehorsam verweigert und geradeheraus erklärt: „Herr Marschall, die Nationalgarde will von Ihnen Nichts wissen!“

Nein, nein, die rollenden Wogen der Fluth waren nicht mehr aufzuhalten. Um 111/4 Uhr befand sich das Hôtel de Ville, allzeit das Hauptziel der Kämpferin und das Prätorium der Siegerin Revolution, mit seinen Umgebungen in den Händen des Volkes. Dann fiel auf beiden Seiten des Flusses ein wichtiger Punkt nach dem andern der vorschreitenden Insurrection anheim, während da und dort eine Truppe von Soldaten capitulirte und die Ueberreste der am Morgen von den Tuilerien ausgesandten Colonnen sich mühsam in die nächsten Umgebungen des Schlosses zurückzogen. Nur da und dort hielten Abtheilungen der verbissenen Municipalgarde das Gefecht lebhaft aufrecht. Sonst wälzte sich der Blousenstrom mehr oder weniger rasch den weichenden Truppen nach, durch die Rue Vivienne auf das Palais Royal, die Boulevards entlang auf die Place de la Concorde, durch die Rue Rivoli und den rechten Seinequai hinab auf die Tuilerien, den linken entlang auf das Palais Bourbon zu.

Um die zwei letztgenannten Bauwerke, um das Schloß und die Deputirtenkammer her, schürzten sich die Entwicklungsknoten des großen Tagesdrama’s enger und enger. Bald wird die ausberstende Katastrophe dort den Königsthron umstürzen und hier die Republik improvisiren oder wenigstens die bereits auf den Barrikaden improvisirte anerkennen.

Denn schon schwankte das Schiff des Louis-Philippismus so bedrohlich im brausenden Sturm, daß es den Ratten an der Zeit schien, nach Rattenart zu thun. Auch Guizot fand es jetzt rathsam, das Schloß zu verlassen. Er begab sich zu seinem Collegen Duchâtel, wo es aber bald nicht mehr geheuer war. Unter dem Schutz und Schirm der resoluten Madame Duchâtel entflohen die beiden Minister dem heranbrandenden Volkszorn und fanden zuerst in der Rue Vanneau eine Zuflucht. In der folgenden Nacht rettete sich Guizot in ein mehr Sicherheit versprechendes Asyl, indem er als Frauenzimmer verkleidet zu seiner Freundin, Madame de Mirbel, eilte.




Zur gewohnten Frühstückszeit versammelten sich die in Paris anwesenden Mitglieder der königlichen Familie im Speisesaale des Schlosses. Louis Philipp, obzwar etwas aufgeregt, war weit entfernt, zu ahnen, daß er der letzten Mahlzeit der Seinigen in den Tuilerien vorzusitzen im Begriffe sei. Er wähnte sich einstweilen hinter dem Schilde der angeblichen Popularität von Leuten wie Thiers und Barrot geborgen; er bildete sich ein, es würde und müßte ein aus den Reihen der „dynastischen Opposition“ gewähltes Ministerium zwischen seinem Thron und der Emeute eine unübersteigliche Schranke aufrichten. Und doch war der verblendete alte Mann inmitten einer Revolution aufgewachsen und konnte, mußte gelernt haben, wie rasch Revolutionen marschiren. Doch die Menschen wollen ja nie und nirgends Weisheit lernen, und wie sollte auch die altjungfersäuerliche, herbäugige, bitterzungige Magisterin Erfahrung gegen die verführerisch geschminkte und geschmückte, honigsüß lispelnde Buhlerin Illusion aufkommen können?

Aber sie, „die wilde Maid das Kind der Bastille,“ die Revolution, sie zaudert nicht, ihr Herannahen merkbar, recht merkbar kundzuthun. In dem Augenblick, wo der König seinen Platz an der Frühstückstafel einnimmt und seine Familie nach gewohnter Ordnung um den Tisch sich reihen will, schlägt der Wiederhall rasch sich folgender Gewehrsalven vom Tuileriengarten her an die Fenster. Es ist das Gekrache der Schüsse, womit die vom Madeleine-Platz durch die Rue Royale nach dem Concorde Platz fluthende Volksmasse von der am letztgenannten Ort aufgestellten Municipalgarde empfangen wurde. Wenige Secunden darauf treten die Herren Remusat und Duvergier mit verstörten Mienen ein. Die Königin, bleich, die Augen durch Schlaflosigkeit geröthet, Blicke der Beunruhigung und des Argwohns umherwerfend, ruft den Eintretenden entgegen: „Hat sich etwas Ernsthafteres ereignet?“ Die arme Frau! In der Verblendung ihrer absolutistischen Neigungen hatte sie, was diese Tage her in Paris geschehen, nicht für etwas „Ernsthaftes“ angesehen, sondern nur für eine künstlich zu einem „Skandal“ aufgeblasene „Intrigue“ der Herren Thiers, Barrot und Consorten. In fürstlichen Kreisen ist es nun einmal so häufig der Fall, sich den ganzen Proceß der Weltgeschichte nur als eine Reihe von

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