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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Wirklichkeit, die heute wieder zerrinnen sollte wie ein Traum. Der alte feine Herr, in dessen mit einer wohlfrisirten Perücke bedecktem „Birnenkopf“ eine ganze Rotte von Reineken ihr Malepartus gegraben hatte, war zu dieser Stunde weit entfernt, zu ahnen, daß, lange bevor der Tag zu Ende, seines „Bürgerkönigthums“ ganze Macht und Pracht, in einen schlichten Fiaker verpackt, kläglich-flüchtig davongestoben sein würde. Der vielerfahrene Odysseus des Constitulionalismus hatte doch zuletzt den Wirkungen des Taumelkelchs, welchen Circe Gewalt ihm kredenzte, nicht widerstehen können, und die boshafte Zauberin hatte sich demgemäß beeilt, den Reineke der Reineken in ein – es ist hart und respectwidrig zu sagen, aber wahr – in einen obstinaten anderen Vierfüßler zu verwandeln. Die Ereignisse der zwei letzten Tage hatten zwar dem nahezu Fünfundsiebzigjährigen körperlich tüchtig zugesetzt – er lag überwacht und schachmatt, ganz in Flanell gewickelt, in einem Fauteuil – aber sie hatten ihn vom Rausche des Besitzes der Macht keineswegs ernüchtert. Die Berufung von Thiers, wozu er sich um Mitternacht entschlossen, war ein seinem Stolze schwer abgerungenes Zugeständniß, und als der Gerufene jetzt gemeldet und eingeführt wurde, gab dem Greise sein gekränkter Stolz und seine üble Laune die Kraft, rasch aufzustehen und den kleinen Nothhelfer mit den barschen Worten zu empfangen: „Sie kennen die Sachlage. Ich ließ Herrn Molé rufen. Er will nicht. Ich sah mich also genöthigt, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Haben Sie ein Ministerium parat? Ich brauche auf der Stelle ein solches.“

„Sire, ich erwartete nicht, gerufen zu werden, und habe daher keine Ministerliste bereit.“

„Ah so! Ja, man sagt, daß Sie nicht mehr in’s Cabinet treten wollten.“

„Allerdings, Sire, war das meine Absicht.“

„Sie müssen sich unverweilt nach Collegen umsehen. Sie kennen das Unliebsame, was sich vor dem Ministerium des Auswärtigen begeben hat. Die Regierung kann Nichts dafür, es war ein Zufall, aber die Wirkung eine sehr unglückliche. Ich muß also ein Ministerium aus der Opposition nehmen. Was für Leute werden Sie mir geben? Ich errathe, daß Sie Barrot fordern werden, und habe Nichts dagegen. Er ist ein guter Mensch, obzwar ein schlechter Musikant, will sagen Politiker. Aber die Präsidentschaft des Cabinets müssen Sie und darf nicht Barrot übernehmen. Es bedarf der Festigkeit, ich zähle nur auf Sie.“

„Herr de Remusat?“

„Einverstanden.“

„Herr Duvergier de Hauranne?“

„Ah, Duvergier?“

„Das ist ein Mann von Festigkeit.“

„Von Festigkeit, ja, auf meine Kosten. Doch sei es. Die Herren sind Ihre Freunde, lassen Sie dieselben kommen. Wir wären also hinsichtlich des Persönlichen im Reinen. Was verlangen Sie in Betreff des Sachlichen?“

„Die Wahlgesetz- und Parlamentsreform ist eine unumgängliche Nothwendigkeit. Ich zwar für meine Person war für die Reform des Wahlgesetzes nie sehr eingenommen. Indessen muß man gestehen, daß der Kreis der Wahlfähigkeit und der Wählbarkeit wirklich ein etwas zu enge gezogener ist. Er gestattet einer allzu kleinen Anzahl von Leuten, die Vortheile der Verwaltung auszubeuten.“

„Wie, Sie wollen mir also eine enorm große Kammer und eine enorme Wählerschaft geben?“

„Behüte, fünfzig Deputirte mehr und 150.000 Wähler mehr werden vollkommen genügen.“ (Und das nannte Herr Thiers dem Könige „die Wahrheit sagen“!)

„Nun, wir wollen sehen.“

„Das ist noch nicht Alles.“

„Was denn sonst noch?“

„Mit der gegenwärtigen Kammer können ich und meine Freunde nicht regieren.“

„Ach, Sie wollen die Auflösung der Kammer? Niemals! Nein, niemals werde ich dazu meine Einwilligung geben. Niemals! Um keinen Preis!“ Und dies sagend ging der König in höchster Aufregung im Zimmer hin und her. Mühsam sich beherrschend äußerte er dann: „Was ich für den Augenblick brauche, sind Minister. Suchen Sie mir welche. Wir werden uns später wohl verständigen. Ich willige in alle Ihre Forderungen, die Kammerauflösung ausgenommen.“

„Diese gerade aber ist das, worauf meine Freunde entschieden bestehen werden.“

„Jedenfalls will ich im Moniteur anzeigen, daß ich Sie berufen habe.“

„Es wäre zweckdienlich, meinem Namen den von Barrot beizugesellen.“

„Gut.“ Und der König setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ sich von Thiers Folgendes dictiren: „Der König hat Herrn Thiers berufen und mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt. Herr Thiers hat verlangt, sich Herrn Barrot beigesellen zu dürfen, und der König diesem Wunsch entsprochen.“ Soweit war man, als es 3 Uhr schlug.

„Wann werden Sie zurückkommen?“ fragte Louis Philipp.

„Sire, ich mache mich auf, Minister für Sie zu suchen, und hoffe bis zum Tagesanbruch welche zu finden.“

„Wohl, bis dahin will ich schlafen. Also zwischen 8 und 9 Uhr?“

„Wir sind noch nicht einig über den Hauptpunkt.“

„Das weiß ich.“

„Selbstverständlich werden wir, falls wir uns nicht mit Ihnen verständigen können, nicht in’s Cabinet treten. Wir haben dann freie Hand.“

„Freilich, freilich, und auch ich habe dann freie Hand.“ Er zog die Klingel, befahl die geschriebene Note in die Druckerei des Moniteur zu senden, und sprach hierauf zu Herrn Thiers, der seine Abschiedsverbeugung machte: „Warten Sie, ich muß Ihnen noch sagen, daß ich Bugeaud zum Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht ernannt habe. Gehen Sie zu ihm, er befindet sich im Generalstabsquartier. Sie werden sich, da er Ihr intimer Freund ist, leicht mit ihm verständigen.“

Thiers schwieg verlegen.

„Was haben Sie denn? Man sollte glauben, die Ernennung Bugeaud’s mißfiele Ihnen.“

„Sire, ich liebe den Marschall sehr und halte ihn für den ersten Krieger unserer Zeit. Aber, aber … die Ernennung Bugeaud’s ist ein schroffer Widerspruch gegen Ihre durch die Berufung eines Ministeriums aus den Reihen der Opposition angezeigte Absicht, die aufgeregte öffentliche Meinung beruhigen zu wollen.“

„Sie werden mich doch in einem so kritischen Augenblick nicht meines Degens berauben wollen?“

„Nein. Ich will versuchen, den Marschall meinen Collegen annehmlich zu machen.“




Beim Weggehen aus dem Schlosse sprach Herr Thiers im Generalstabsquartier vor, welches sich in dem Pavillon der Tuilerien befand, der, damals noch nicht völlig ausgebaut, an die Rue Rivoli stößt. Der halbe Premierminister – denn er war noch weit entfernt, ein ganzer zu sein – vernahm aus Bugeaud’s Munde Klagen über die Unzulänglichkeit der Streitkräfte und die Unausgiebigkeit der zur Verfügung stehenden Munition. Dessenungeachtet war jedoch der Marschall voll Zuversicht und traf seine Anordnungen mit Sicherheit und Bestimmtheit. Sein guter Muth ermuthigte auch Herrn Thiers, so daß der kleine Nothhelfer ziemlich beruhigt auf die Ministersuche ging.

Die Zahl der Truppen, über welche Bugeaud verfügte, betrug in runder Summe 25.000 Mann, die Nationalgarde nicht mitgerechnet. Der Marschall, welchem die Stimmung der Bürgerwehr von Paris nicht unbekannt war, rechnete auch gar nicht auf dieselbe, sondern verließ sich nur auf die Linie, für welche mittelst Telegrammen Verstärkungen aus dem der Hauptstadt naheliegenden Garnisonen herbeigerufen wurden. Zur Stunde, als Bugeaud in der Nacht den Oberbefehl übernahm, war die Hauptmasse seiner Streitkräfte in den Höfen und Umgebungen der Tuilerien und des Louvre vereinigt, während schwächere Abtheilungen den Platz der Bastille, das Hôtel de Ville, die Polizeipräfectur und das Pantheon besetzt hielten. Das ganze Centrum der Stadt, der Raum zwischen der Rue de la Paix, den Boulevards, der Rue St. Honoré, der Rue Rambuteau und dem Bastilleplatz, befand sich in den Händen des Aufstands, welcher seit der verhängnißvollen Abendstunde des 23. Februars, wo auf dem Boulevard des Capucines vor dem Hôtel Guizot’s (Ministerium des Auswärtigen) das eine Reform-Demonstration in eine Revolution verwandelnde Blutbad stattgefunden, an Umfang, Energie und Rüstung unermeßlich gewonnen hatte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_361.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)