Seite:Die Gartenlaube (1864) 310.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

beseelen. Für den Schwaben ist es ein classischer Boden; hat ihn doch sein Nationalheld, Eberhard der Greiner, betreten und haben ihn doch seine besten Dichter besungen. Die schönen Spaziergänge längs der Enz stammen vom Herzog Carl oder, wie man ihn hier nennt, von Carl Herzog, und dieser Name wieder erinnert an Schiller, an Schubart . Und wohin man sich von Wildbad aus wendet, nennen wir z. B. nur Kloster Hirsau, überall schöne, tiefe, ernste Natur, überall Sagen und Erinnerungen, die in romantischem Dämmer weben, überall für ein offenes, anschließendes Gemüth Zusammenhang mit Gott, Natur, Geschichte.

Dahin mußten sich Dichter gezogen fühlen, von dorther mußte ein Dichter kommen. Seeger’s Vater war Reallehrer in Wildbad. Da seit Generationen immer ein Seeger Geistlicher war und weil diese Laufbahn, Dank dem Tübinger Stifte, in Würtemberg die billigste ist, sollte wieder einer der vier Söhne des Lehrers diesem Stande gewidmet werden, und die Wahl fiel auf Ludwig. Mit zwölf Jahren wurde er in das lieblich gelegene, heute durch seinen Gewerbfleiß aufblühende Städtchen Calw, in der Nähe von Hirsau, auf die lateinische Schule und 1824 in das evangelische Seminar nach Schönthal geschickt. An beiden Orten zeigte er schon einen widerspenstigen, revolutionären Geist, der sich gegen die hergebrachte Pedanterie und die eingerosteten Formeln, gegen den todten Buchstaben auflehnte. Trotz dieses deutlichen Fingerzeigs, trotz dieses Protestes seiner Natur mußte er aus dem Regen in die Traufe, aus dem Fegefeuer in die Hölle, aus dem Seminar in das Tübinger Stift, aus der frischen, lebendigen Welt, mit einem achtzehnjährigen, um sich greifenden, suchenden, strebenden, lebendigen Geiste in dieses Stück verrotteten Mittelalters, in dieses Nest officieller, formulirter, kopfhängerischer, am tödtlichen Wort klebender Orthodoxie.

Trösten wir uns im Angesicht solcher Anstalten mit der Frage: ob an dem, der in ihnen zu Grunde geht, auch viel verloren ist? ob die Springfedern eines lebendigen Geistes dadurch, daß man sie zusammendrückt, nicht gekräftigt werden? ob in solchem Dunkel nicht die natürlichen Farben, in solcher Kellerluft nicht die Frische der Säfte erhalten wird? Aus dem Tübinger geisttödtenden Stifte sind hervorgegangen: Hegel, Schelling, David Strauß, Hölderlin, Zeller, Bauer, Vischer, Reinhard, Waiblinger, W. Hauff, Schwegler, Gustav Schwab, Mörike, Herwegh, Hermann Kurtz, wahrlich Stiftler, von denen man nicht sagen kann, daß sie in der Stickluft verkommen sind. Es sind Geister unter ihnen, die zu den freiesten nicht nur der Nation, sondern der Welt gehören, obwohl die Meisten wohl einen oder den andern Ring der Kette, die sie zerrissen, ihr Leben lang nachgeschleppt haben mochten. Wie der Wald der Axt, die ihn umhauen soll, den Stiel liefert, so liefern derartige Verfinsterungsinstitute die Mineure, die ihre tiefsten Grundlagen durchwühlen. Diese haben die Sclaverei des Geistes und ihre Schmerzen kennen gelernt. Jene Mineure sind aus dem Kloster des Tübinger Stiftes hervorgegangen, wie Schiller aus der Kaserne der Carlsschule hervorging, wie Luther aus der Augustinerzelle. Haben nicht auch Lamennais und Renan ihre Jugend in Seminaren verbracht? – Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit eines Nachtessens bei der Gräfin d’Agoult, der unter dem Namen Daniel Stern bekannten Schriftstellerin und Verfasserin der Geschichte der Revolution von 1848. Viele Berühmtheiten von Paris waren geladen, doch schweben mir nur noch die Namen Frelon’s, des republikanischen Ministers, Ponsards, des Dichters der „Lucretia“, der „Charlotte Corday“, von „Ehre und Geld“ etc., und Jules Simon’s des Philosophen, Verfassers der „Pflicht“, der „Gewissensfreiheit“ etc. und jetzigen republikanischen Mitgliedes des gesetzgebenden Körpers, vor. Man sprach von den Jesuiten, die damals, nach dem Staatsstreich, in Frankreich wieder mächtig wurden, und von der Infamie ihrer Erziehungssysteme. Jeder hatte etwas darüber zu sagen und einige Erfahrungen über diesen Punkt mitzutheilen – und im Laufe des Gesprächs stellte es sich zur allgemeinen Heiterkeit heraus, daß beinahe alle Mitglieder dieser hier versammelten jesuitenfeindlichen, nichts weniger als kirchlich und rechtgläubig gesinnten Gesellschaft von den Jesuiten erzogen worden.

Aber ist es gleich ein Trost, daß im Sumpfe auch die Heilpflanze gegen das Sumpffieber wächst, daß man durch die Unterdrückung zur Freiheit, durch Nacht zum Licht gelangt; mag es vom größten Nutzen für die Menschheit sein, daß aus einem „Stift“ Menschen wie Hegel und Strauß und der ganze Bankospiegel ihrer unendlichen Nachfolger hervorgeht – für diejenigen, welche die trostlose Disciplin durchzumachen haben, ist und bleibt sie im Momente schrecklich, niederschlagend, im Hinblick auf ihre Zukunft voll Beängstigung. Wir haben Ludwig Seeger oft die Plagen seiner Stiftzeit schildern hören; er war dann unerschöpflich und noch in der Erinnerung graute ihm vor jenen Prüfungen. Oft meldete er sich krank, nur um während der Tischzeit das Glück der Einsamkeit genießen zu können, und in der Nacht ließ er sich am Seile zum Fenster hinuntergleiten und durchwanderte die öden Straßen Tübingens, um sich, wenn auch verlassen und in der Wüste, der verbotenen Freiheit zu freuen, sich selbst zu gehören. Länger als zwei Jahre konnte er es nicht ertragen; er verließ das Stift, wenn er auch die Theologie nicht verlassen durfte. Nunmehr konnte er doch neben dieser sein sollenden Wissenschaft wirkliches und lebendiges Wissen sammeln, er durfte mit Menschen menschlich leben, studiren wie es ihm gefiel und seine Lehrer wählen. Damals hörte er Uhland, der die Begabung seines Schülers bald erkannte und liebevoll den jungen Dichter aufmunterte. Indessen hatte er noch eine ähnliche Prüfungszeit wie im Stift durchzumachen, denn einmal Theologe mußte er auch die Laufbahn antreten, und drei Jahre lang quälte er sich als Pfarrvicar in einem kleinem Städtchen. Aber nunmehr war er in jeder Beziehung mündig, und entschlossen, lieber Jahre zu verlieren als ein ganzes Leben, lieber ein Stück Laufbahn drein zu geben, als eine ehrenhafte, freie, seinem ganzen Denken angemessene Wirksamkeit, warf er den Zwang ab und den Stand, für den sein grader, wahrhaftiger Sinn nicht geschaffen war. Schon ein Mann, begann er ein neues Leben und betrat er einen neuen Weg. Er ging nach Stuttgart und studirte, um gleich praktisch mit der lebenden Welt anzuknüpfen, zu den alten Sprachen, deren er Herr war, die neuen, während er, um ein kümmerliches Leben zu fristen, Lectionen gab. Eine Hauslehrerstelle rief ihn in die Schweiz, wo er bald an das Realgymnasium von Bern als Lehrer der alten Sprachen gezogen wurde. Zugleich las er an der Universität als Docent über alte und neue Literatur. So viel er auch in der Schweiz lehren mochte, so lernte er doch noch mehr als er lehrte. Er lernte ein Volk kennen, das sich zum Theil mit größter Freiheit selbst regierte und das zum Theil noch damit beschäftigt war – es war in den dreißiger Jahren – seinen alten Regierungen den Zopf abzuschneiden, die letzten Reste von Privilegien, Ständeunterschieden, Bevormundungen mit der Wurzel auszurotten; er lernte, wie man ruhig, mit dem Gesetze in der Hand, mit Wort, Ueberzeugung und Belehrung daran geht, Verbesserungen einzuführen, friedliche Reformen durchzusetzen – und wie man, wo sich trotz dieser Mittel der Vernunft die Unvernunft und die brutale Gewalt entgegenstellt, als Mann die Waffen ergreift und für seine Freiheit einsteht.

Wir haben es in neuerer Zeit erlebt, wie selbst ein König, der verstorbene König von Dänemark, es aussprach: er habe seine Jugend in der Schweiz verlebt und er wisse, welch’ gutes Ding es um die Republik sei. Wir wissen ferner, daß ein anderer König, der Landesvater Seeger’s selbst, als er vor nicht gar langer Zeit aus der Schweiz in sein Land zurückkehrte, in einem Zeitungsartikel die Schweizer Republikaner seinen Unterthanen als Muster anrühmte – wie hätte Ludwig Seeger, ein geborener Republikaner, nicht die Segnungen der Republik erkennen sollen? Mit ganzer Seele betheiligte er sich an den damaligen vielfachen politischen Vorgängen der Schweiz. Indessen - die Freiheit ist ein göttlicher Schatz, man liebt sie überall, man kann in jeder Fremde für sie bluten und sterben, – aber die Heimath ersetzt sie nicht ganz, und hat man ihre Süße gekostet, strebt man noch eifriger als zuvor, sie auch dem Vaterlande zu erringen. Als das Jahr 1848 herankam, das Jahr, das sie durch ein Decennium zu verleumden strebten und das trotz alledem und alledem Samen ausgestreut hat, die früher oder später aufgehen und über ihre Häupter zusammenschlagen werden, – als dieser große Moment herankam, fand er in Ludwig Seeger keinen Sohn eines schwachen Geschlechtes. Nach zwölfjährigem Aufenthalt in der Schweiz gab er seine gesicherte Stellung auf, brach, obwohl er sich indessen verheirathet und Kinder bekommen hatte, sein Haus ab, und eilte aus seinem ruhigen Hafen herbei mitten in den Sturm, aus gesicherter Häuslichkeit mitten in’s Ungewisse, nur um beim Kampfe für Freiheit und Vaterland nicht zu fehlen. Mögen sie verleumden! Solcher unbekannter Opfer wurden damals viele gebracht, wenn sie die Geschichte auch nicht in ihre Bücher aufgezeichnet hat. Sie sind um so größer und heiliger.

Ludwig Seeger entfaltete jetzt im Vaterlande eine große

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_310.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)