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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

einer Kutsche. Es war 4 Uhr Nachmittags, und Madame Sand fuhr zur Indre, in’s kalte Bad. Nach einer starken halben Stunde kehrte sie in’s Schloß zurück. Hier wurden bereits Anstalten zum Diner gemacht. Es sollte im Garten, auf dem freien Platze servirt werden, den man beim Herabsteigen aus dem ersten Salon betritt. Die Tafel stand, anmuthig gedeckt, unter einem duftenden Bogen von Clematis. Um sechs Uhr kamen die Damen in frischer, leichter Sommertoilette herab.

Madame Sand, weit entfernt darin irgend einen Luxus zur Schau zu tragen, weiß doch jederzeit elegant, einfach und ihrem Alter angemessen zu erscheinen. Sie giebt selbst den Schnitt und die Verzierung ihrer Kleider an, die immer nur geringen Aufwand erfordern. Das Haar trug sie wie am Morgen, doch diesmal in einem etwas reicheren, dunkelrothen Netze und um die Stirn einen Epheuzweig. Bei einer anderen Matrone hätte das ein bischen prätentiös ausgesehen, aber bei dieser anspruchslosen, ursprünglichen Natur erscheint alles ungesucht. Wahrscheinlich hatte das liebe Schwiegertöchterchen die angebetete Mutter bekränzt.

Das Diner war aufgetragen. Wir nahmen unsere Plätze ein und machten ihm Ehre, denn die Wahl der Speisen und ihre Zubereitung waren auf gleicher Höhe. Doch die sorgsame Hausfrau blieb mehr Zuschauerin als Mitwirkende. Ein großes, schlankes Mädchen bediente uns; es war mir schon des Morgens beim Frühstück aufgefallen. Marie, so hieß es, hatte eines jener feinen, echt französischen Gesichtchen, das, von einem niedlichen Bauernhäubchen eingerahmt, an die bekannte Chocoladiere in der Dresdner Gallerie erinnert. Ihr übriger Anzug war städtisch, doch gab die Schürze, die über das ganze Kleid herabfiel, dem Ganzen einen fast klösterlichen Charakter. Hinter ihr her humpelte ein zweiter dienender Geist, ebenfalls ein Mädchen, das nun freilich in Gestalt und Art mit der graziösen Marie bedeutend contrastirte. Als ich Madame Sand mein Wohlgefallen an dem ländlichen Ariel äußerte, theilte sie mir Folgendes mit: „Marie, die Tochter eines Bauern, ist unter meinen Augen aufgewachsen, hat mancherlei gelernt und ist ein entschiedenes Bühnen-Talent. Sie spielt gewöhnlich die Hauptrollen in den Stücken, die ich für mein Haustheater schreibe, und übertrifft an Wahrheit und natürlicher Grazie alle ihre Rivalinnen. Wie schade, daß Sie das Mädchen nicht auf den Bretern sehen können! Sie wären gewiß derselben Meinung.“

Da das Thema des Theaters angeschlagen war, so frug ich sie, ob sie von der Bearbeitung ihrer Fadette für die deutsche Bühne etwas wisse. Sie verneinte es, freute sich aber sehr, als ich sie von dem Erfolge der „Grille“ unterrichtete.

„Ja, Marie ist ein entschiedenes Genie für’s Theater,“ fiel Manceau ein; „wir sind übrigens alle Kraftgenies und Tausendkünstler, die wir in der Atmosphäre von G. Sand leben, von père Matthieu angefangen. In diesem verzauberten Schlosse geschieht Alles durch die Hände seiner Bewohner. Der Nagel, der in die Wand geschlagen wird, und das Bild, das daran hängt, sind Werke unserer eigenen Geschicklichkeit. So ist der junge Mann, der Ihnen heute Morgens bald die Thür vor der Nase zugeschlagen hätte, unser Tapezierer, Vergolder, Theaterschneider, Decorateur und zur Noth dramatischer Künstler selbst. Mit père Matthieu hat es aber eine eigene Bewandtniß. Der ist blos Zimmermann, hat sich aber zum Haustischler emporgeschwungen. Jeden Monat macht er schweigend die Runde im Schlosse, untersucht die Möbel, Fensterrahmen und sonstiges Holzwerk, die schadhaften Stücke werden mitgenommen und reparirt; findet er aber, daß irgendwo ein Tisch oder ein Kasten am Platze wäre, so macht er sie neu, so gut es eben geht, und stellt sie, immer schweigend, hin. Ende jeden Monates bringt er seine Rechnung, läßt sie sich zahlen und geht, ohne den Mund geöffnet zu haben, fort. Nun, das wäre Alles noch in der Ordnung. Was sagen Sie aber dazu, daß er blos seinem Willen folgt? Wehe Ihnen, verlangen Sie irgend ein Möbel oder eine Reparatur von ihm, er giebt Ihnen kein Gehör; Sie bleiben so lange auf Ihrem zerbrochenen Stuhle, an Ihrem wackligen Tische sitzen, bis er selbst einmal es für gut findet, die Patienten in die Cur zu nehmen.“

„Und ein solches Original behalten Sie?“ frug ich die Sand.

„Was ist zu thun?“ antwortete sie. „Der Mann ist über siebzig Jahre und hat mich zur Welt kommen sehen. Kann man dem zürnen? Im Gegentheil – mich amüsirt sein Treiben.“ Die Tafel war unter Lachen aufgehoben, und schnell wurden hölzerne Kugeln herbeigebracht, mit denen man ein Spiel im Freien begann.

Ich begnügte mich mit dem Zusehen, staunte aber über die Geschicklichkeit der Sand, die fast immer am glücklichsten und sichersten warf. Das hereinbrechende Dunkel machte der Sache ein Ende. Die Lampe im Salon brannte bereits, und die Gesellschaft ließ sich in lautem Gespräch um den langen Tisch nieder. Madame Sand zog Spielkarten hervor und begann eine Patience. „Sehen Sie, lieber Freund, dieses Spiel treibe ich nun über 30 Jahre und lege noch dazu immer die nämliche Patience – freilich habe ich eine Menge Finessen dazu erfunden. Aber Sie können etwas Besseres spielen, als das – öffnen Sie das Pianino, ich lechze nach Musik, nach Mozart, Beethoven, Weber – nur ja keine Zeit verloren, wir sind ein andächtiges Publicum.“

„Don Juan! Don Juan!“ schrie man von allen Seiten. Ich mußte mich zum Clavier setzen und spielte so ziemlich die ganze Oper unter Jubeln und Jauchzen meines Auditoriums.

„Und jetzt den Freischütz!“ rief die Sand, die längst die Patience bei Seite geschoben hatte und deren Augen leuchteten. –

„Nun genug für heute, mein alter Freund,“ sprach die liebenswürdige Hausfrau, als der letzte von Weber’s süßen Klängen verhallt war; „Sie bedürfen der Ruhe. Mögen Ihnen die Schatten Mozarts und Weber’s Rosenblätter auf das Lager streuen! Oder ohne Poesie: schlafen Sie süß, bis in den hohen Tag hinein!“

Alles ging auseinander und Jeder suchte sein Zimmer auf.

Gewöhnt, am frühen Morgen aufzustehen, verließ ich mein Lager, als noch Alles im Haust fest schlief. Die Hitze war erträglich, und so konnte ich die Partien des Gartens aufsuchen, die uns in späteren Stunden der „angenagelte Sonnenschein“ (um mit dem uns unlängst entrissenen Hebbel zu sprechen) unnahbar machte. Ich betrat den Blumengarten, der dieses Jahr wohl gelitten hatte, aber noch immer des Schönen vielerlei bot.

„Ich mache Ihnen mein Compliment,“ redete ich den Gärtner an, „daß Sie bei dieser afrikanischen Hitze so Schönes und Mannigfaltiges geleistet haben.“

„Unsere Dame liebt die Blumen leidenschaftlich,“ erwiderte er, „ist selbst eine tüchtige Botanikerin und hütet ihre Pflanzen wie die Kinder.“

„Also daher mag es wohl kommen, daß ich keine Bouquets und Blumentische im Hause entdeckte?“

„Sie würde böse werden, wollte ich die Zimmer damit versorgen. Das blüht und verblüht an seinem Orte und seiner Stelle. Doch nun sehen Sie sich auch den Küchengarten und unsere Obstbäume an. Alles, was nur das Haus davon bedarf, wird da gezogen.“ Und da mußte ich von Kohlstaude zu Rübe, von Aprikose zu Pfirsiche wandern, bis wir endlich an ein kleines Wäldchen kamen, das Mad. Sand, wie ich später erfuhr, ihr „petit Trianon“ nennt. Kaum giebt es auf Erden ein anmuthigeres Bosquet, als dieses. Man ließ es wild heranwachsen und zog nur schmale Wege durch, die mit feinem Kies belegt sind. Den Boden bedeckt dichter Waldepheu; er umspinnt die Bäume und fällt an hundert Orten malerisch von ihnen herunter. Man glaubt in einem Urwalde zu sein, denn kein Strahl der Sonne erhellt dieses Gewirr von Baum und Schlingpflanze. Aller Augenblicke wird das Auge von irgend einem mit Geschmack, aber höchst einfach ausgeführten besonderen Gegenstande überrascht. Da giebt es enorme Lehnstühle, zu denen sich die Zweige und Stämme der Bäume hergeben mußten, kleine Brücken führen über ein Bächlein, das diese Wildniß durchzieht; plötzlich bildet es ein niedliches Becken, das von Farren und blauem Agapanthus eingerahmt und mit blühenden Nymphäen bedeckt ist. Hier ladet ein einfacher Kiosk, dort eine Eremitage zum Ausruhen ein.

„Sehen Sie,“ sagte der Gärtner, „diese abscheuliche Einsiedelei hätte uns vor einigen Jahren bald unsere gute Frau geraubt. Sie saß da lange, lange, bis in die Nacht hinein, wahrscheinlich um zu dichten, und als sie in’s Schloß zurückkam, war sie todtenbleich, hatte das Fieber und verfiel sogleich in schreckliche Phantasien. Der Arzt von La Châtre erklärte den Zustand für höchst gefährlich, man schrieb um drei der größten Aerzte nach Paris – doch als die kamen, – und das geschah wunderbar schnell – war das Fieber verschwunden und Madame auf dem Wege der Besserung. Ja, die hat eine starke Natur, und Gott wird sie uns gewiß noch lange erhalten! Aber die Folgen der Krankheit dauerten lange, und ich glaube, sie ist noch immer etwas leidend davon, nur gesteht sie es nicht, wenn man sie fragt. Sie ist dann nur immer etwas ernster.“

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