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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

kein[WS 1] Behagen. Die Cigarre flog bald zur Erde. Er warf sich wieder in den Lehnstuhl.

„Alles in Allem,“ sagte er sich nach tiefem Sinnen, „ist eine grelle Wahrheit erträglicher, als dumpfer Verdacht; Gewißheit ersprießlicher, als zagende Ungewißheit. Man kann sich einrichten – man handelt. Eine merkwürdige Geschichte! Todte werden lebendig, oder vielmehr Lebendige gelten für todt. Nun, wie immer die Sache zusammenhängen mag: ich ward betrogen und beschimpft, jedes von Beidem Grund genug, mich zum Aeußersten zu treiben. Und so denn, theurer Cousin, setz’ ich Deinen mystischen Launen mein ganzes Sein entgegen: Jugend und Kühnheit, Stephaniens Liebe und meinen Haß. Ich denke, ich bin ein respectabler Gegner. Gieb Acht, daß Du, mit dem Tode spielend, nicht den Teufel an die Wand maltest!“

Wieder zog ihn der Aufruhr am Himmel an. „Pest!“ dachte er, „was ich nur immer nach den Wolken luge?! … Wie sie wachsen und wallen! Es ist mir, als sollte ich dort eine Wahrheit für mich entdecken, als wollte das tolle Gebräu mir etwas sagen …“

Später begab er sich auf die Terrasse und fand dort Fräulein Fanny mit wehenden Kleidern an der Balustrade stehen. Sie sah aufmerksam in den Park hinab.

„Ei, meine blonde Mignonne,“ redete Montigny sie an. „Bei diesem Wind wagen Sie sich ohne Hut und Shawl in’s Freie? Wie leichtsinnig!“

Fanny kehrte flüchtig das angstvolle Gesicht ihm zu, dann wies sie mit der Hand auf den Grafen Heinrich, der langsam einen Gartenpfad hinabwandelte. „Dort!“ sagte sie, „dort, sehen Sie Herrn Stein?“

„Ich sehe ihn.“

„Denken Sie, er geht in die Berge, geht bei diesem Wind und Wetter nach der Heinrichswand, will auf die Alm und vor Abend wieder zurück.“

„Woher wissen Sie das?“

„Von ihm selbst. Ich traf ihn im Corridor, und weil er einen Gebirgsstock trug, fragt’ ich ihn, wohin er denn wolle. Ich bin des Todes erschrocken über seine Absicht; ich bat und beschwor ihn, doch heute nicht das Wagniß zu unternehmen, aber er ließ es sich nicht ausreden.“

„Der Teufel lohne dir deine Gutmüthigkeit!“ dachte Edgar, aber laut sagte er: „Das war recht, das war hübsch von Ihnen, mein Fräulein. Sie haben ein gutes Herz. Der Kaplan ist toll. Ich hätte dem Bücherwurm das Wagstück gar nicht zugetraut. Was will er denn auf jener Alm? Die Sennerin dort ist alt und häßlich.“

„Pfui, Herr von Montigny,“ versetzte das Mädchen unwillig. „Der arme Mensch ist ein Sonderling. Er dauert mich. Am ersten Abend möcht’ ich ihn gar nicht leiden, weil Pater Angelo ihn uns brachte. Aber jetzt fühle ich anders. Ich habe eine Ahnung, daß er sehr unglücklich ist.“

„O, das sollte mir leid thun!“ sagte der Andere und verwünschte innerlich das Ahnungsvermögen der Weiber.

„Wenn Herr Stein nicht schwermüthig wäre, würde er bei solchem Wetter nicht so schaurige Spaziergänge wählen. Der arme Mann, er wird verunglücken!“

Montigny zuckte. „Er kann verunglücken,“ erwiderte er langsam, und plötzlich schien sein Körper die gewohnte Elasticität zu gewinnen, seine verdüsterten Züge heiterten sich auf; er ward beredt und lebendig. Mit umständlicher Genauigkeit, fast Schritt für Schritt, begann er Fanny den Weg zu schildern, den sein Todfeind jetzt ging. Erst den Pfad an den Bergen hinter Waldenburg empor, nicht bequem, aber ungefährlich. Schlanke Lärchen schießen empor, und Alpenrosen trifft man in Hülle und Fülle. Den senkrechten Felswänden entlang windet sich der Steig hinan, zuweilen führt er über schiefeinstreichende Lagen. Plötzlich dann steht man auf der sogenannten Teufelsmauer, auf einer schmalen Felsenplatte vor einem tiefen Abgrund, durch dessen Rinnsal der wildbrausende Fluß dahinschießt. Gegenüber steigt die graue Heinrichswand himmelhoch empor.

„Aber wie kommt man hinüber?“ fragte Fanny.

„Auf zwei rohen Baumstämmen, die quer über den Abgrund gelegt und an beiden Enden mit Eisenklammern in das Gestein festgefügt sind. Eine derbe, sichere Brücke, nur darf man nicht an Schwindel leiden. Wer in den Schlund fiele, würde rettungslos am Gestein zerschellen und vom Fluß verschlungen werden.“

„Und ist man glücklich drüben?“

„So beginnt die eigentliche Gefahr.“

„Ich dächte –“

„Nun, den luftigen Steg nennen Sie doch nicht gefährlich? Deren giebt’s Hunderte im Gebirg. Ich will über ihn tanzen. Aber jenseits heißt es vorsichtig und doch fest die Füße setzen, den Pfad hinan, der kaum für Einen Platz hat; immer aufwärts, daß der Fluß drunten zuletzt nur ein kochender Milchstrahl erscheint. Aufwärts! aufwärts! …“

„Sie schildern mit solcher Lebhaftigkeit“ sagte Fanny zum Erzähler, der eine Weile starr vor sich in’s Leere blickte. „Ich stehe auf der Teufelsmauer und sehe gegenüber unsern armen Kaplan emporklimmen.“

„Bald nur als einen schwarzen Punkt. Dann verschwindet er um die schroffe Ecke der Heinrichswand. Die Gefahr ist vorüber. Man hat noch eine breite Schieferlage zurückzulegen; durch wildes Gezack dann geht es eine Weile wieder abwärts, und endlich tritt man aus diesem unfruchtbaren, rauhen Klippenwirrsal auf eine schöne, grüne Matte, wo die Sennhütte steht.“

„Mögen alle Engel und Heiligen Herrn Stein beschützen,“ rief tiefaufathmend das Mädchen.

„Alle Engel und Heiligen,“ sagte Montigny.

Sie wechselten noch einige Worte und trennten sich dann. Und jetzt sang und pfiff Edgar, während er im Park sich erging, lustig mit dem Wind um die Wette. Stephanie, die in ihrem Schlafzimmer am Fenster stand und ihn zwischen den Bäumen sich tummeln, über Beete springen und andere jugendliche Kraftübungen vollführen sah, lachte aus voller Seele über den lustigen, ausgelassenen, übermüthigen Mann. Aber in Wahrheit barg sich unter Edgar’s scheinbarer Lustigkeit nur die Aufregung seiner Seele. Er wußte jetzt, was ihm die Wolken sagen wollten.

Beim Diner, das er mit den Aßpergs einnahm, war er von hinreißender Liebenswürdigkeit. Die Baronin konnte keinen Blick von ihm verwenden, ihr Gemahl strich sich vergnügt den Backenbart, und die aufwartenden Diener nickten sich hinter seinem Rücken beifällig zu. Nachdem der Kaffee servirt war, stand Edgar auf und küßte Josephinen die Hand. „Wohin wollen Sie denn?“ fragte Aßperg. „Bei diesem Wetter denken Sie doch nicht auf die Jagd zu fahren?“

„Nein, ich will mir einen kleinen Streifzug nach dem Wendelsteinerwald unternehmen, einen Spaziergang, weiter nichts.“

„In einer Stunde haben wir ein Gewitter.“

„Um so besser. Ein Gewitter im Gebirge, das ist ein Schauspiel!“

„Das Sie aber von meinem Zimmer aus, bei einer ausgesuchten Havanna, viel bequemer haben können.“

„Ein nahes Gewitter bringt mein Blut in Wallung. Ich habe zu Hause keine Ruhe; ich muß in’s Freie, muß mich austoben wie der Sturm.“

„Adieu denn, junger Roland! Kommen Sie vor Abend noch zurück?“

„Gewiß, denn heute Abend heißt es:

Le vin dans tous les verres,
L’amour dans tous les yeux.

Es soll eine Götternacht werden! Die Damen sollen uns mit bekränzen, und wir wollen dagegen zärtlich und galant sein, wie die Ritter aus des „Minnesanges Zeilen“. Schloß Waldenburg soll wie eine Burg von Sternen strahlen, und im Dorf Keiner sein, der nicht, in Wonne taumelnd, ein Hurrah auf Josephine und Stephanie, als die Schönsten aller Schönen, ausbringt. O, ich komme; heute käme ich als Todter!“ Er empfahl sich.

Als er, die Flinte über die Schulter gehangen, aus dem Schloß in den Vorhof trat, hatte sich der Wind gelegt. Im Süden stauten sich die schwarzen Wolken auf und rückten langsam näher.

Diane, der Lieblingshund des Grafen, stand vor seiner Hütte, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, den Kopf erhoben und heulte jämmerlich. „Machen Sie doch den dummen Hund los,“ rief Montigny ärgerlich dem Thorwärter zu, der seine Nachmittagspfeife schmauchte. „Das Vieh fürchtet sich vor dem Wetter.“

„Das muß wohl so sein, Euer Gnaden,“ sagte der Diener, während er die Kette löste, „denn er heult wohl seit ’ner Stunde schon.“

„Geben Sie ihm die Peitsche. Ich will kein Hundegeheul.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sein
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_274.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)