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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Eine russische Carriere.[1]

Im Jahre 1822 suchte die russische Regierung einen deutschen Forstmeister für die Umgebung Petersburgs an sich zu ziehen, um junge Leute praktisch in der Forstwissenschaft auszubilden. Der Auftrag wurde einem höhern deutschen Beamten in russischen Diensten gegeben, und dieser empfahl aus seiner eigenen Heimath, einem der kleinsten Fürstenthümer, einen erfahrenen, ihm wohlbekannten Mann. Der Forstmann war nicht wenig überrascht von solch einem Antrage, der seinen bisherigen Gehalt von 300 Thalern auf 2000 erhöhte, aber ihn auch 300 deutsche Meilen von seiner Heimath entfernte. Ein Mann von 47 Jahren, Wittwer, Vater von zwei Söhnen, konnte er sich nicht sofort zur Annahme des sonst so verlockenden Anerbietens entscheiden; namentlich beunruhigte ihn das Schicksal seiner beiden Kinder. Endlich entschloß er sich doch nach Rußland zu gehen, den ältern seiner beiden Söhne, Gustav, einen siebzehnjährigen Jüngling, dem man, als einem ausgezeichneten Lateiner, ein glänzendes Loos, das des ersten Geistlichen des Fürstenthums oder gar eines Professors, prophezeite, aber in der Heimath zu lassen und nur den jüngern, Eduard, über dessen klassische Befähigung der Conrector des Gymnasiums sich minder günstig aussprach, mitzunehmen. So erreichten denn Vater und Sohn Ende September die große nordische Hauptstadt, fanden bei dem freundschaftlichen Vermittler eine gastfreie Aufnahme, waren aber Beide recht niedergeschlagen, ja von der Größe der neuen Verhältnisse fast erdrückt und sehnten sich ernstlich nach Hause zurück. Vor Allem, meinte der treue Landsmann, gälte es nun, Russisch zu lernen und zwar wo möglich im Laufe eines Jahres. „Nur nicht die Zeit mit der Grammatik verloren," sprach der Landsmann, „sondern fort mit Eduard auf ein Jahr in ein Dorf, wo er nicht einen andern Laut hört. Wenn er so gut Russisch spricht, wie ein Bauer, so spricht er es besser, als der größte deutsche Philolog je das Latein gesprochen hat; denn in Rußland giebt es keine verschiedenen Dialekte, auch keine Volks- und höhere Mundart, wie in Deutschland, sondern Bauer und Fürst, Herr und Diener, Nord und Süd reden vollkommen dieselbe Sprache." Beide waren über den Vorschlag bis zu Thränen entsetzt, doch es konnte eben nichts helfen.

Nach Ablauf eines Jahres sahen sich Vater und Sohn wieder, und Eduard war gewachsen und sprach Russisch, zwar noch nicht vollkommen, aber mit großer Leichtigkeit und Verständlichkeit. „Jetzt in ein Cadettencorps," mahnte der treue Landsmann, „und zwar in das der Ingenieure." — „Aber um Gotteswillen," entgegnete der Forstmeister, „wir sind ja nicht adligen Ursprunges!" — „Für die russische Regierung," fiel der Landsmann ein, „giebt es weder Adlige noch Bürgerliche, sondern nur brauchbare oder unfähige Staatsdiener."

Der Vater widersprach diesem Vorhaben anfangs auf das Entschiedenste, ließ sich doch aber allmählich durch den Landsmann aufklären. „Legen Sie," sprach derselbe, „in unserm Weltstaate Ihre deutschen kleinstädtischen und kleinstaatlichen Begriffe von Adel und Bürger, von Militär und Civil ab. Freilich dürfen Sie nicht darauf rechnen, daß Eduard hier in Petersburg sein Leben ruhig verbringen wird. Von Archangelsk bis Tiflis, von Kalisch bis nach Nordamerika ist hier ein ebenso lebhafter Verkehr, wie zwischen Weimar und Gotha, und der brauchbare Officier muß immer darauf gefaßt sein, einige Tausend Werst weit verschickt zu werden."

Nach einigen Wochen trat denn Eduard in das Ingenieurcorps, in derselben Zeit, wo sein Bruder Gustav die Universität Jena bezog. Er fühlte sich nicht so fremd, wie er gefürchtet hatte; mit ihm traten gegen zwanzig junge Männer ein aus den verschiedensten Theilen des großen Reichs, aus Moskau, Kiew, Kasan, Simbirsk, aus den deutschen Ostseeprovinzen, Fürsten und Grafen, Adlige und Bürgerliche, und er merkte, daß hier kein Standesunterschied gelte. Alle Wissenschaften wurden in russischer Sprache vorgetragen, nicht ohne Schwierigkriten für ihn in den ersten drei Monaten; aber nach einem Jahre war ihm die neue Sprache fast geläufiger, als die deutsche, weil alle neuen Kenntnisse in der erstern in seinem Kopfe Platz nahmen. Er verwandte die Sonntage dazu, französisch zu lernen, und zwar nur durch den Umgang mit einem jungen Franzosen, der sein Mitschüler war. Den alten Vater sah er wenig, aber auch dieser hatte sich besser in die neuen Verhältnisse gefunden, als zu erwarten stand.

Alle Monate kam ein Brief aus Jena von Gustav, und dann überfiel Vater und Sohn eine Art Heimweh, wenn sie in dem Briefe von deutscher Gemüthlichkeit, von deutschen Eichenwäldern und deutscher Freiheit hörten. Beide machten den stillen Plan, den Candidaten der Gottesgelahrtheit doch vielleicht nach Rußland kommen zu lassen. Auf eine leise Anfrage, die der Vater in einem Briefe that, antwortete aber Jener mit Widerwillen und sprach aus, wie glücklich er sich unter gelbledernen Folianten, rothen Mützen und deutschem Himmel fühlte.

Drei, vier Jahre gingen jetzt pfeilschnell an der Saale, wie an der Newa vorüber, und 1827 erschien Eduard als Officier vor seinem Vater, und zwar mit der goldenen Medaille, d. h. nicht allein als der Fähigste und Ausgezeichnetste, sondern als einer, der gleich beim Beginn seiner Laufbahn einen Rang überspringt und von der Regierung sechs Jahre auf Reisen geschickt und währenddem jährlich mit tausend Thalern unterstützt wird. Das ging über die kühnsten Träume des Vaters hinaus, und er fing leise an, das richtige Urtheil des Conrectors seiner Vaterstadt über die beiden Söhne in Zweifel zu ziehen; denn Gustav hat im Gegentheil noch um ein Jahr Zeit, um sein Examen machen zu können, während der Vater von ihm Wunderdinge erwartet hatte. Im nächsten Jahre sollte Eduard seine Reise antreten und hoffte, den gelehrten Bruder selbst zu besuchen, da brach der Krieg zwischen Rußland und der Türkei aus, und Eduard mußte Petersburg im Gefolge eines Geniegenerals noch früher verlassen, als die Garden auszogen. Furcht und Hoffnung pochten in dem Herzen des Vaters, und er konnte die Zeit kaum erwarten, wo der erste Brief des jungen


  1. Den vorstehenden Artikel verdanken wir der Feder eines Mannes, welcher, Deutscher von Geburt, im Hause des verstorbenen Kaisers Nikolaus eine der hervorragendsten und einflußreichsten Stellen bekleidete und auch als Schriftsteller eines wohlverdienten Rufes genießt. Wir äußerten dem Verfasser unsere Bedenken über die parteiische „Verherrlichung Rußlands", die wir, dem deutschen Vaterlande gegenüber, in dem sonst vielfach instructiven Aufsatze mit Recht zu erblicken glaubten und an der wir unsererseits uns nicht betheiligen mochten, am allerwenigsten in einem Augenblicke, wo das russische Verfahren gegen das unglückliche Polen die ganze civilisirte Welt mit Unwillen erfüllt. Darauf ward uns von dem Einsender des Artikels eine zwar ebenfalls ziemlich russophilisch gefärbte, doch im Ganzen so interessante und vielfach den Nagel auf den Kopf treffende Antwort, daß wir, mit Autorisation ihres Schreibers, uns nicht versagen können, einige der charakteristischesten Stellen seines Briefes wörtlich zu veröffentlichen: „Eine Verherrlichung Rußlands fällt mir dabei ebenso wenig ein, als das Lob des Herkules zu singen. Die Zustände Deutschlands Rußland gegenüber verherrlichen sich ja in diesem Augenblicke ganz von selbst, so daß, wenn die europäischen Großmächte nicht dadurch erschüttert werden, jedenfalls das Zwerchfell des Auslandes in Bewegung gesetzt wird. Was die grausame Härte Rußlands betrifft, womit es Polen behandelt, so kommt sie nicht derjenigen gleich, mit welcher einst der erste Napoleon auf Deutschland lastete, womit der dritte Napoleon das große Frankreich aussaugt, oder mit welcher einst Ludwig XIV., die Pfalz verwüstete. Der Deutsche hat immer Thränen für fremdes Unglück, nach dem seinigen fragt er nicht. Ist es einer Zeitung eingefallen, sich zu erkundigen, mit welchem Muthe die Großfürstin Alexandrine, eine deutsche, sachsen-altenburgische Prinzessin, ein Jahr lang den Dolchen, Giften, Revolvern und andern Mordversuchen ausgesetzt war? Jener englische Staatsmann hatte vollkommen Recht, als er 1814 zum Kaiser Nikolaus in London sagte: „Die Deutschen glauben an ihre Hirngespinste und ihre Bibliotheken –, sie werden weder Ihnen noch uns schaden." Rußland wird in meinem Artikel insofern verherrlicht, als es zu jeder Zeit verstanden hat, das Talent aus der Menge herauszufinden, zu fördern, zu belohnen. Die Wittwe Karamsin’s erhielt 50.000 Rubel Pension; vergleichen Sie das mit unsern Historikern, deren Ruhm und Wirksamkeit unendlich größer ist und die sich leider oft schon sehr geehrt fühlen, wenn ein Oberst oder Hofmarschall mit ihnen spricht. In Rußland ist der Mensch in einem ewigen Kampfe und er fällt oder siegt; in Deutschland endigt er ganz sicher als Philister, und würde er Bundespräsidialgesandter. Nehmen Sie diese Zeilen nicht für Kinder meiner Galle, sondern nur als eine rein deutsche Ansicht, freilich ohne jede Spur von Provinzialismus." Unseren Lesern anheimstellend, sich selbst ein Urtheil über die in diesen Mittheilungen, wie in dem Aufsatze selbst documentirte, mehr als realistische Anschauung zu bilden, müssen wir doch bekennen, daß der Brief uns viel zu denken giebt und daß jedenfalls auf Beachtung Anspruch machen kann, was ein Mann über die Zustände Deutschlands urtheilt, der nach so langer Wirksamkeit im Auslande in die Heimath zurückkehrt.
    D. Red. 
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_270.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)