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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Juristeninnung vom Tempel. Hinter Temple Bar begann die City, das eigentliche London jener Tage. Hier, mit ihrem selbstgewählten City-Monarchen, dem Lord-Mayor, welcher seinen Hof und seinen Hofgarten so gut hatte wie die Königin auf der andern Seite der Barre, wohnten alle die guten Bürger von London. Hier hausten die reichen Kaufleute, deren fast fürstlicher Luxus gleichen Schritt hielt mit dem Wachsthum der Colonien, des Handels und der ostindischen Compagnie. Ihre Häuser, aus eichenen Balken gezimmert, mit gothischen Fenstern und Giebeldächern, gaben den Straßen, obgleich sie eng waren, eine malerische Perspective. Nur noch sehr wenige von diesen Elisabeth’schen Häusern sind übrig geblieben in der City von London, um uns einen Begriff zu geben von der reichen Bauart und dem bessern Geschmack jener Zeit. Das große Feuer von 1666 hat sie fast sämmtlich zerstört. Aber damals standen sie noch in all ihrer pittoresken Schönheit, mit ihren geschnitzten Balkenenden und ihren Blumen von Eichenholz über der Thür und an den Fenstern. Ein jedes Haus hatte, ganz ebenso wie zu jener Zeit in Deutschland und heute noch vielfach in den Schweizer Städten, sein besonderes Zeichen, nachdem es hieß; denn Häusernummern gab es dazumal noch nicht. Da waren Zeichen nach den Gewerben und Zünften, und da waren Zeichen, die auf den Handel und die Schifffahrt und die fernen Länder Bezug hatten. Da war ein Mohrenkopf und ein Griechenkopf in seinen natürlichen Farben (oder wenigstens, was man dafür hielt), und da war ein goldener Ball und ein goldenes Kreuz. Dieses Haus hieß „zum schwarzen Bullen“ und jenes Haus hieß „zum rothen Löwen“. Alle diese verschiedenen Marken und Figuren und Kennzeichen mit ihren bunten Farben und starken Vergoldungen waren auf den Straßen zu sehen. Es muß ein sehr fröhlicher Anblick gewesen sein. Und auch die Brücken hatten ihre Häuser auf beiden Seiten, und in der Mitte von London-Bridge stand sogar eine Kirche.

Und so malerisch wie die Straßen selber war auch das Treiben der Menschen darin. Da war nicht der eiserne Lärm von tausend Rädern in Bewegung: „da war (wie der alte Chronist Stowe sagt) allerweg ein lustiger Lärm von gastlichen Zubereitungen. Die Köche riefen heiße Rippen von geröstetem Rindfleisch, wohlgebackene Pasteten und andere Lebensmittel aus; da war ein Klingen von zinnernen Krügen, von Harfe, von Flöte und Psalter“. Die Namen von Pudding-lane, Weinstraße und Hahn- und Pastetengäßchen im heutigen London erinnern noch an die leckeren Bissen von ehedem. Und so wenig, als an den Häusern, war unsere Monotonie von Braun und Grau in den Trachten jener Zeit. Das war damals Alles phantasie- und farbenreich, angenehm und unterhaltend für das Auge. Es war mehr Individualität und mehr Heiterkeit in der Welt und in den Kleidern. Das Zeitalter, welches die erhabene Pracht der Münster aufzuthürmen und die stattlichen Söller der Edelsitze, die traulichen Erker der Bürgerhäuser zu bauen verstand, das hatte auch eine staunenswerthe Erfindung für das Costüm. Welch’ ein ungeheurer Reichthum von Phantasie ward auf die Schuhe, die Hüte, die Hosen und die Mäntel verschwendet! Auf jene Schuhe, deren Spitzen sich bald aufwärts drehten, wie ein Widderhorn, bald ausbreiteten, wie ein geöffneter Fächer; auf den Kopfputz, welcher variirte von dem Barett bis zu dem Hut mit thurmartiger Spitze; auf die Mäntel, welche sich von dem kurzen normännischen Spenser bis zu dem weiten und faltenreichen spanischen Mantel abstuften. Lustige Cavaliere in Sammet, Seide und feinem Tuch, welches von Gold- und Silberstickerei funkelte, paradirten durch die Straßen, und ebenso wie der Adel, hatte auch der Bürgerstand seine Farbe und seinen Putz, und jede Gilde, jedes Handwerk, jede Profession ihre Wappen und Zeichen. Schwarz war ganz aus der Mode; und inmitten dieses fortwährenden Gepränges von Spitzen und Atlas, von grünen, scharlachen, nelkenrothen oder himmelblauen Röcken, von pflaumenfarbenen Mänteln und gelben Ueberwürfen bezeichnete ein Anzug von dunklem Stoff den Kopfhänger, den Augenverdreher, den Frömmler, den Puritaner. –

In dieses London, so lebenslustig damals, so kräftig in dem Gefühl des nationalen Aufschwunges, so schimmernd von den neuen Reichthümern, so rauschend von den Festen des Hofes, den Aufzügen und Vergnügungen der Bürger, in dieses London kam um das Jahr 1586 William Shakespeare aus seiner ländlichen Heimath in Warwickshire. Er war dreiundzwanzigjährig und hatte daheim eine Frau, welche acht Jahr älter war, als er, und drei Kinder gelassen. Ob er aus Stratford am Avon geflüchtet, der Wilddieberei und der Abfassung eines Spottgedichtes auf den Friedensrichter Sir Thomas Lucy beschuldigt, oder ob er ausgewandert, mit der Absicht, in London sein Glück zu versuchen, das wissen wir so wenig, wie es uns bekannt ist, ob er seine dramatische Laufbahn damit begonnen, vor dem Theater die Pferde zu halten oder auf das Theater die Stühle zu stellen. Aber seht, da ist er; sein Genius hat ihn zur rechten Zeit an den rechten Ort geführt. Aus den Händen der Zünfte und Gewerbe, welche das Drama Jahrhunderte lang, in der Gestalt von Mirakelspielen und Mysterien, auf den Straßen und dem offenen Marktplatze aufgeführt hatten, war es nun endlich in die Hände der Dichter und der Künstler, in den Palast der Königin und die Halle der Edlen gelangt. Die Lust, zu spielen und Schauspieler zu sehen, ward allgemein. Jeder große Lord hatte seine Truppe von Schauspielern, welche sich seine „Komödianten und Diener“ nannten und die Provinzen durchzogen, wenn sie in der Hauptstadt keine Beschäftigung fanden. Das erste öffentliche Theater in London, das Blackfriars-Theater, ward 1576 eröffnet; zu Ende des Jahrhunderts gab es schon siebzehn Theater, auf welchen täglich gespielt ward. Außerdem spielten die Studenten auf den Universitäten, die Juristen in ihren Innungsgebäuden, sogar die Lehrburschen von London spielten, so daß es wahr wurde, was das Sprüchwort sagte und was man später als Inschrift an da Globe-Theater setzte: „Totus mundus agit histrionem“. (Die ganze Welt macht den Schauspieler.) Shakespeare trat in die Truppe von Blackfriars ein, welche, ursprünglich im Dienste des Grafen von Leicester, später von der Königin patronisirt ward und den Namen der „Schauspieler der Königin“ annahm. Dieser Titel hat sich erhalten und es führen ihn gegenwärtig die Schauspieler von Drurylane, welche sich immer noch „Ihrer Majestät Diener“ nennen. Das junge Mitglied der Blackfriarstruppe zeichnete sich sehr bald aus: schon 1589 ward er zum Mitbesitzer, zum „sharer“ des Theaters gemacht, welches, wie es der Zeit nach das erste war, so auch dem Range nach, hinsichtlich seines Werthes, das erste der Hauptstadt blieb. „Shakespeares dramatische Unterhaltungen wurden,“ wie sich ein gleichzeitiger Schriftsteller ausdrückt, „die größte Unterstützung unseres Haupt-, wenn nicht jeden Theaters in London.“ Er hatte noch sein dreißigstes Jahr nicht erreicht, da war „unser freundlicher Willy“, der „honigzungige Shakespeare“, ein populärer und ein berühmter Mann. „Er ist unser Plautus und unser Seneca, der beste Mann in England für das Lustspiel und die Tragödie,“ sagt Francis Meres im Jahre 1598.

Wo aber haben wir ihn zu suchen in diesem London, das für die Begriffe jener Zeit schon so groß war? Nun, es gab drei Plätze in dem damaligen London, wo man sicher sein konnte, im Verlaufe eines bürgerlichen Tages einen jeden Mann, der zur guten Gesellschaft gehörte, wenigstens einmal zu treffen, entweder im St. Pauls-Dome, oder in der Taverne, oder im Theater.

Die St. Paulskirche war damals die große und fashionable Promenade von London. Was gegenwärtig der Reitweg Rotten-Row im Hydepark ist und im 17. und 18. Jahrhundert der Mall war, das war im 16. Jahrhundert St. Paul, die alte Metropolitankirche von London, nicht der Platz vor der Kirche, sondern die Kirche selber. Es gingen überhaupt wunderbare Dinge in den Kirchen vor; sie waren die Theater, die Gerichtshöfe, die politischen Kampfplätze und die Lotteriehäuser jener Tage. Das alte Drama, das Mirakelspiel, bevor es auf die Straßen gewandert war, hatte Jahrhunderte lang seinen Sitz in den Kirchen gehabt, und noch aus dem Jahre 1592 hören wir, daß bei einem Besuch der Königin Elisabeth in Oxford der Gottesdienst in der Universitätskapelle nicht so bald vorüber war, als man auch die Kapelle schon in ein Theater für die Vergnügungen des Nachmittags verwandelte. Um dieselbe Zeit verbot die akademische Obrigkeit derselben Universität das Rauchen in den Kirchen „wegen der zu großen Masse des Qualmes“. Die Gemeindewahlen wurden fast überall in den Kirchen vollzogen und sehr häufig, besonders in Zeiten von ansteckenden Krankheiten, wurden auch die Assisen daselbst gehalten. Am Ungenirtesten jedoch benahm man sich in der genannten Metropolitankirche von London, derjenigen, welche, im großen Feuer zerstört, auf derselben Stelle stand, wo jetzt der Dom von St. Paul sich erhebt. Das St. Pauls des heutigen London ist ein Kuppelbau, nach dem Muster der Peterskirche in Rom; St. Paul in Shakespeare’s London war ein gothischer Dom, mit einem schmalen Thurm, der aber durch Feuer im Jahr 1561 halb zerstört war, mit Kreuzgängen und einem Todtentanz an den Außenwänden. Im Innern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_246.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)