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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Das Unglück am Haut de Cry im Wallis.
Ein Winterbild aus den Schweizer Alpen.
Von Abraham Roth.

Wer auf der Eisenbahn von Martigny nach Sion, der Hauptstadt des Kantons Wallis, fährt, gewahrt links, unmittelbar hinter dem Dorfe Ardon, einen ziemlich isolirten, 2956 Meter (9755 par. Fuß) hoch in die Luft strebenden Kalkkegel, auf den Karten als Haut de Cry verzeichnet, im Munde des anwohnenden Volkes aber Pic d’Ardon genannt. Es ist ein vorgeschobener Posten der vergletscherten Kette, welche von den Diablerets bis zur Dent de Morcles den westlichen Ausläufer der Berner Alpen bildet. Zwischen dem Haut de Cry und den in gerader Linie nördlich von ihm liegenden Diablerets hindurch führt der Cheville-Paß, welcher nicht selten von Touristen begangen wird, die durch das Gebirge von dem vielbesuchten Bex nach Ardon und weiter nach Sion gelangen wollen. Der Haut de Cry ist gletscherfrei und zeigt während des Sommers nur in der Tiefe seiner verdeckten Schluchten etliche Schneegruben; er kann daher in der schönen Jahreszeit ohne Gefahr bestiegen werden. Allein die Berge dieser Gattung sind just die gefährlichsten im Früh- und Spätwinter: sie sind hoch genug, um, wenn die Novemberstürme durch die Alpen brausen, gewaltige Schneeladungen an ihren Hängen und in ihren Schluchten aufzunehmen, diese luftigen Massen aber finden nicht Halt genug, um jene compacte Verbindung einzugehen, welche das Gletschereis oder der über dem Gletscher festgefrorene Schnee zeigt. An solchen Bergen gehen auch meist die Gemsenjäger zu Grunde, welche im Sturme der Waidmannsleidenschaft vergessen, daß der lose Schnee an Berghängen und in Tobeln das allerperfideste Element in der Alpenwelt ist.

Daß die Expedition, welche am 26. Februar dieses Jahres sich die Besteigung des Haut de Cry zum Ziele gesteckt hatte, diesen, obgleich durch die Erfahrung genugsam erhärteten Satz nicht gehörig beachtete, muß als die Hauptursache ihres Unglückes bezeichnet werden, – eines Unglückes, von dem die Mehrzahl unserer Leser bereits durch die Zeitungen erfahren haben werden. Doch sei zugleich bemerkt, daß die Urheber des Unternehmens, die beiden jungen Schweizer Ingenieure G. und B., daneben nichts weniger als blindlings in die Sache hineintappten und noch weniger blos zur Befriedigung einer touristischen Eitelkeit ihr Vorhaben in’s Werk setzen wollten. Ihr Zweck war ein wissenschaftlicher, insofern sie beabsichtigten, thermometrische und barometrische Beobachtungen anzustellen, wie G. mit Glück in einem Winter auf dem Niesen im Berner Oberlande und nicht minder B. im vergangenen November und December auf dem Aeggischhorn im obern Wallis gemacht hatte. Bei ihren vorgängigen Erkundigungen in Ardon mußten sie vernehmen, daß am Haut de Cry niemals Lawinen vorkämen, und obwohl Beide tüchtige, G. ein erprobter Bergsteiger, wollten sie nicht ohne einen Führer vom ersten Rang vorgehen. Zu dem Ende beschieden sie, außer drei Mann aus Ardon selbst, vom Oberwalliser Dorfe Lax herab den bewährten Johann Bennen, welcher schon beinahe alle höchsten Gipfel der Berner und Walliser Alpen betreten hatte, auf mehreren der schwierigsten, wie z. B. auf dem Weißhorn, der Erste gewesen war und am gefürchteten, noch unbezwungenen Matterhorn mit englischen Kletterern bis dahin am weitesten vordrang. Jetzt freilich, nachdem das Unglück erfolgt ist und der Arme schwer gebüßt hat, muß man es wohl gelten lassen, was ihm hier und da ein Berner Oberländer Führer nachsagte: Bennen sei zu keck, er nehme es mit seiner Verantwortlichkeit zu leicht oder er kenne die Beschaffenheit des Schnees und Firns nicht genug; man werde erleben, daß es ihm einmal schlecht gehe. Gleichwohl wird man aus der nachfolgenden Erzählung ersehen, daß Bennen gerade diesmal nicht der Fehler der Tollkühnheit vorgeworfen werden kann, sondern umgekehrt der der Schwäche, insofern er seine Autorität und Erfahrung als Hauptführer zu wenig geltend machte und sich allzusehr auf die specielle Ortskenntniß der Führer aus Ardon verließ.

Doch nun zur Sache.

Die Expedition brach am Morgen des 28. Februar sehr frühzeitig, kurz nach zwei Uhr, von Ardon auf. Es war eine klare Nacht und der Himmel versprach einen schönen Tag, wie er auch wirklich erfolgte. Nur die Temperatur der Luft war für diese Jahreszeit zu warm: das Thermometer zeigte beim Aufbruche ein bis zwei Grad Réaumur unter Null.

Da der Haut de Cry nach Süden ungangbar steil nach dem Rhonethal abfällt, so muß man ihn von hinten anpacken. Die Karawane bog deshalb in das Thal der Lizerne ein und hielt links an, hoch über dem rechten Ufer des entgegenströmenden Waldbaches, der in der Sohle des Tobels sich durch die Felsen wühlt. Es war ein sehr beschwerlicher Marsch wegen des vielen und weichen Schnees, welcher beständig und tief durchwatet werden mußte. Schon während dieser ersten Etappe äußerte G. Zweifel über die Thunlichkeit der Unternehmung, und Bennen schien ihm beizustimmen, allein die Männer aus Ardon vertrösteten auf die höheren Lagen, wo der dem Biswind (Nordwind) ausgesetzte Schnee fester sein werde, und sie behielten mit ihrer optimistischen Meinung die Oberhand.

Nach etwa fünf Stunden anhaltenden Marsches, um sieben Uhr herum, erreichte die Expedition eine Sennhütte, deren Höhenlage die barometrische Messung auf circa 7000 Fuß herausstellte und die sich am Ausgange der ersten Schlucht des Haut de Cry befindet. Zur Spitze dieses Berges führen nämlich von Nordosten her, vom Hochplateau des rechten Ufers der Lizerne, drei Felsengrate: ein mittlerer, in ziemlich gerader Richtung ungangbar steil; zur Linken ein zweiter, fast parallel mit jenem und kurz vor dem Erreichen der Spitze in scharfem Winkel nach Süden abbiegend; zur Rechten endlich der dritte, in weitem Bogen ausholend, so daß er der höchsten Höhe von Nordwesten zustrebt. Auf dem Gipfel des Berges begegnen sich alle in spitzem Dreieck und erzeugen damit die schmale und steile Spitze. Die Zwischenräume zwischen den drei Graten bilden zwei tiefe Tobel oder Schluchten, in welchen sich des Winters der Schnee massenhaft ansammelt. Einer dieser Tobel, der zwischen dem erst- und zweiterwähnten jener Grate liegende, ist der Schauplatz unserer Katastrophe, und an seinem Ausgange liegt die oben erwähnte Sennhütte.

Die Temperatur der Luft war an dieser Stelle und zu dieser Stunde auf + 0,5° R. gestiegen. Dies machte natürlich den Schnee nicht fester. Schon vorher, wo der Weg durch einen Wald führte, hatte der Sennhütte etwa eine Stunde lang im Zickzack zugestrebt werden müssen, und von der Hütte aufwärts war wieder Zickzack geboten, bei welchem die Mannschaft beständig einsank, mindestens bis an die Kniee, sehr häufig noch tiefer. Man bewegte sich bereits inmitten der Schlucht. Als die Beschaffenheit der Bahn immer nicht günstiger werden wollte, lenkte die Karawane endlich nach der linksseitigen Felsenkante ab, in der Hoffnung, durch Klettern am Gestein rascher vorwärts zu kommen. Sie gewann dadurch einen Punkt, welcher sich bei der Messung als circa 8000 Fuß hoch erwies. Um diese tausend Fuß Distanz von der Sennhütte weg zurückzulegen, waren drei Stunden nöthig gewesen. Es war also bereits zehn Uhr des Vormittags.

Auf dem Felsengrate ließ sich wegen seiner Steilheit doch auch nicht viel weiter kommen, die Rückkehr nach der Schlucht wurde bald wieder als räthlicher erachtet; und merkwürdiger Weise, obschon das Thermometer mittlerweile auf + 1,5° R. gestiegen war, fand sich auf der neuen Bahn eine lange Strecke festen, leicht gangbaren Schnees. Dann aber ging er in raschem Wechsel wieder in weichen über, und es war von da an nur in ganz kleinen Zickzacks hinanzusteigen. Die Leute sanken häufig so tief ein, daß von Schreiten keine Rede mehr sein konnte: den Alpstock mit den ausgestreckten Armen quer in den Schnee vorgeschoben, kletterte man gleichsam an ihm empor, während von unten die Kniee statt der Füße nachschoben.

Dies ging so bis Mittags zwölf Uhr, indeß auch die warme Sonne ihren höchsten Stand erreichte, und schon befand sich die Expedition auf ungefähr 9400 Fuß, also nur noch wenige Hundert Fuß von der Spitze. Allein von da war wegen der zu steil ansteigenden Kehle der Schlucht in bisheriger Weise nicht zum Gipfel zu gelangen, das leuchtete Allen ein. Entweder noch einmal nach links den Felsengrat gewinnen oder – umkehren, das war hier die Frage. Obschon die noch übrige Strecke bis zum Grat nicht so weit reichte, als das mitgebrachte Seil, so erhoben sich doch ernste Bedenken gegen den Vorschlag, überzusetzen; denn gerade bei diesem Uebergange sah der Schnee am gefährlichsten aus und drohte am leichtesten zu brechen. Nicht nur G., auch Bennen bezeugte die Neigung zur Umkehr, und B., der als weniger Erfahrener bisher die drohenden Gefahren geringer geschätzt hatte, als sein Freund, war doch seit ungefähr einer Viertelstunde in eine auffallend ernste, melancholische Stimmung gerathen, gleich als

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