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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England.
Die Processe Townley und Wright in England.

„Ein Mörder begnadigt und ein Todtschläger gehängt,“ – „Zweierlei Recht für den Armen und für den Reichen“, – so las man im Januar dieses Jahres in den Londoner Blättern, und brausend drang der Wiederhall dieser Anklage durch die Straßen der Weltstadt.

Im December vorigen Jahres waren nämlich vor den englischen peinlichen Gerichtshöfen zwei Criminalfälle verhandelt worden, die ein ganz außerordentliches Aufsehen auf sich gezogen und das Publicum in fieberhafte Aufregung versetzt hatten.

Der eine dieser Processe führt uns einen modernen Othello vor, der, den besseren Ständen der englischen Gesellschaft angehörig, unter einem gesetzten Aeußeren und feinen Manieren einen unbeugsamen Willen und unerbittliche Rachsucht bergend, mit kalter Berechnung und entsetzlichem Vorbedacht die Ermordung seiner ihm untreu gewordenen Desdemona beschließt und ausführt, während im andern Proceß ein armer Arbeiter, der immer für einen gutartigen Gesellen galt, in einem Anfalle ungezügelter Leidenschaft die mit ihm in wilder Ehe lebende Geliebte ergreift und in augenblicklicher Wuth tödtet. Beide Verbrecher wurden des Mordes angeklagt und dieser Anklage nach den Gesetzen für überführt erklärt, der Erstere durch das Verdict der Jury, der Zweite auf seine eigene Schuldigerklärung hin; – gegen Beide mußten Todesurtheile ausgesprochen werden; aber nur eines derselben wurde vollzogen, das gegen den armen Arbeiter, während der Reichere dem Vollzug dieser Strafe entging. Beide Processe sind von höchstem psychologischen Interesse und werfen so charakteristische Streiflicher auf die englische Justiz, daß wir nach den stenographischen Aufzeichnungen unseren Lesern das culturgeschichtlich merkwürdige Bild zu zeichnen versuchen wollen. –

Die Verhandlungen des ersten Processes, die am 11. und 12. December vor der Jury zu Derby vor sich gingen und denen mit höchster Spannung eine dichtgedrängte Menge lauschte, gaben folgendes Resultat:

George Victor Townley, 25 Jahre alt, der älteste Sohn eines Commissionshändlers von Hemdhamvale bei Manchester, ein Mann von guter Erziehung, sanftem Charakter und angenehmen Manieren, der in der Schule mit Leichtigkeit fremde Sprachen lernte und durch eine bedeutende musikalische Begabung sich auszeichnete, hatte vor etwa vier Jahren in Manchester Miß Elisabeth Goodwin, die damals neunzehnjährige Tochter des Herrn Henry Goodwin und Enkelin des nunmehr vierundachtzig Jahre alten, angesehenen Capitains Goodwin zu Wigwellhall in Derbyshire, kennen gelernt, bei welch Letzterem das Fräulein wohnte.

Die jungen Leute liebten sich und verlobten sich miteinander trotz der Warnungen der Freunde und Verwandten des Mädchens, denen nicht unbekannt war, daß der begabte Musiker weder Geschick noch Lust hatte zu einem ernsten praktischen Beruf und eben darum keinen festen Fuß im Leben fassen konnte. Vier Jahre dauerte das Verlöbniß, vier Jahre lang schrieben sich die Verlobten die zärtlichsten Briefe, – noch immer aber war keine Aussicht da, das ersehnte Ziel zu erreichen, George hatte weder eine Anstellung, noch Hoffnung auf solche. Da, am Mittwoch den 12. August 1863, wurde er von einem Briefe seiner Geliebten überrascht, in welchem sie ihm mittheilte, sie habe vor einigen Wochen in Wigwellhall einen Geistlichen kennen gelernt, „den liebenswürdigsten Mann, den sie je gesehen; der Großvater meine, dieser Geistliche wäre eine passende Partie für sie, aber das gehe ja nicht …“ Der Brief schließt mit der Versicherung ihrer unveränderten Zärtlichkeit. Schon am Samstag, den 15., erhielt George indeß einen neuen Brief von Elisabeth, in welchem sie sagt: „sie habe ihm Vieles zu schreiben, der Großvater habe ihre Correspondenz mit ihm entdeckt und sei ungehalten darüber, daß seinem Plan etwas im Wege stehe; George sollte sie deshalb ihres Versprechens entbinden, damit sie sagen könne, sie sei frei. Sie werde trotzdem nicht heirathen, wenn sie anders dem entgehen könne ...“

Dieser Brief versetzte George in die höchste Aufregung. Er „erschütterte“, wie seine Mutter vor den Geschworenen aussagte, „das Gehirn meines Sohnes“. George nahm den ganzen Tag so gut wie nichts zu sich und ging am Samstag Nacht nicht in’s Bett. Am Sonntag, den 10., aber schrieb er an „seine theuerste Bessie“: „er sei furchtbar niedergeschlagen, werde ihren Wünschen aber nicht im Wege stehen; nur wolle er noch aus ihrem eigenen Munde vernehmen, was sie beschlossen. Er habe einen Antrag erhalten, England zu verlassen, wolle sie aber vorher, zum letzten Male, sehen, sie möge bestimmen, wo.“ „Dein Dich stets liebender George.“

Nachdem er den Brief abgeschickt, legte er sich auf’s Sopha, fand aber keine Ruhe. Seine Hände und Füße zuckten krampfhaft, so daß seine Mutter ihm etwas Morphium gab. Am Sonntag aß George wieder nicht zu Mittag, schrieb aber nach Tisch einen zweiten Brief an seine Geliebte, in welchem er den Wunsch aussprach, daß die Zusammenkunft am Donnerstag, den 20., Abends, oder Freitag, den 21., Morgens stattfinden möge, – „nach der letzten Zusammenkunft werde es Beiden besser zu Muthe sein.“

Am Dienstag Vormittag ging George Townley nach einer schlaflosen Nacht nach Manchester, wo er eine französische Stunde gab. Schweißtriefend kam er zurück. Am Mittwoch erhielt er einen Brief von Bessie, in welchem sie ihm (unwahrer Weise) „in größter Eile“ mittheilte, sie reise heute ab von Wigwellhall und wisse nicht, wann sie zurückkehre, sie wolle ihn nicht mehr sehen; es sei besser für Beide, auf diesem Wege sich Lebewohl zu sagen. Nach Verfluß von drei Tagen könne er ihr nicht mehr schreiben, da von dieser Zeit an Briefe an sie abgefaßt und erbrochen würden.

Dieses letzte Schreiben seiner Braut empfing George am Donnerstag. Am nämlichen Tag reiste er mit der Eisenbahn nach Derby, um daselbst zu übernachten und am andern Tag Bessie in Wigwellhall aufzusuchen. Am Freitag Morgen, den 21., fuhr Townley von Derby nach Whatstandwell, der letzten Station vor Wigwellhall, ging an jenem Ort in ein Wirthshaus, trank nach einander zwei Glas Brandy mit Wasser, bestellte ein Bett für die Nacht und machte sich dann auf den Weg. Dieser führte ihn nach Wirksworth, 11/2 englische Meilen von Wigwellhall, wo er den Pfarrer, den Hausfreund und Vertrauten seiner Bessie, aufsuchte und ihm bemerkte: „Elisabeth habe ihm geschrieben, sie wolle ihn nicht mehr sehen, er aber müsse aus ihrem eigenen Munde hören, daß sie von dem Verlöbniß zurücktrete; er wisse wohl, daß er keine gute Partie sei, und wolle ihr daher nicht im Wege stehen.“ Der Pfarrer, welchem George „ganz ruhig und gefaßt“ erschien, gab ihm den Rath, Miß Goodwin zu Hause aufzusuchen. Auf das Begehren Townley’s ihm den Namen des Geistlichen mitzutheilen, der vor drei bis vier Wochen in Wigwellhall gewesen sei, ging der Pfarrer nicht ein.

Abends gegen fünf Uhr verließ George Townley den Pfarrer. Zwanzig Minuten vor sechs Uhr kam er in Wigwellhall an und wurde daselbst von der Dienerin in’s Besuchszimmer zu Miß Goodwin gewiesen. Beide gingen miteinander in den Garten und setzten sich auf eine Bank nahe beim Hause. Nach einer halben Stunde holte das Dienstmädchen Miß Goodwin in’s Haus. Hier blieb dieselbe bis ein Viertel vor sieben Uhr, wo sie sich wieder zu George in den Garten begab. Wiederum saßen die Beiden beisammen auf der Bank. Was sie aber miteinander verhandelten, ist Geheimniß geblieben. Ein Viertel nach sieben Uhr wurde Miß Goodwin zum Thee gerufen. Die jungen Leute saßen noch immer am gleichen Ort. Bessie erwiderte, sie werde gleich kommen. George Townley benahm sich ruhig und gefaßt, „wie andere Leute“.

Elisabeth aber kam nicht zum Thee. Sie verließ vielmehr mit ihrem früheren Geliebten den Garten, und Beide spazierten miteinander auf die Landstraße und in einen engen Heckenweg. Hier sah sie um halb neun Uhr in eifriger Unterhaltung ein Arbeiter. Gleich darauf vernahm in derselben Richtung ein anderer Arbeiter einen Jammerruf, eilte darauf zu und – welch’ schrecklicher Anblick! – Miß Goodwin, mit einer furchtbaren Halswunde, Gesicht, Hände und Kleider mit Blut überzogen, tastete sich an der Mauer Wigwellhall zu. Das Mädchen bat den Mann, sie nach Hause zu führen, und sagte, „es sei ein Gentleman da, der sie umgebracht habe.“ Townley war etwa siebzig Schritte hinter seinem Opfer, kam jetzt heran und erwiderte auf die Frage des Arbeiters, wer Miß Goodwin ermordet habe: „Ich habe sie erstochen.“ Von dem Arbeiter um den Leib, von ihrem Mörder am Kopfe gestützt, wurde das verblutende Mädchen weiter dem Hause zu geführt. George Townley nannte Elisabeth mehreremale seine arme Bessie und sagte zu ihr: „Du hättest mir nicht untreu werden sollen.“ Bessie gab

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_216.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)