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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 14.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Der Schatten.
Erzählung von Carl August Heigel.
1.

… Er stieg aus dem Sarge.

Angelo unterstützte ihn, mit seiner Linken das Windlicht haltend, das auf die gewölbten grauen Wände und Metallsärge einen matten Schimmer warf.

Es war in der Familiengruft derer von Waldenburg. Eine Nacht und ein Tag waren verflossen, seitdem der Sarkophag mit dem letzten männlichen Sprossen des Geschlechts, dem Grafen Heinrich von Waldenburg, beigesetzt worden. Aber Graf Heinrich war nicht gestorben, er stand um Mitternacht auf von den Todten. Er that einen tiefen Athemzug und blickte schaudernd auf die geheimnißvollen Mauernischen, die übereinander geschichteten Truhen, auf den eignen Sarg.

„Hilf mir!“ sagte Angelo, hob mit des Andern Beistand den schweren Deckel auf den leeren Sarkophag, befestigte die Schrauben und verschloß ihn. Dann stiegen Beide aus der Gruft zur Capelle empor und gelangten von ihr in die Vorhalle.

Auch dort walteten die Einsamkeit und Stille der Mitternacht. Als sie an der mondbeglänzten Haupttreppe vorüber in den Corridor eines Seitenflügels bogen, hörten sie nichts, denn ihre eignen leisen Schritte. So erreichten sie ungestört Angelo’s Thurmzimmer … Durch das breite Bogenfenster schien der Mond. Verblaßte Gobelins bedeckten die Wände; Bücherschränke und einige schwerfällige Möbel waren das Geräth, ein großes Crucifix in der Nische der Schmuck des Zimmers.

Schweigend vertauschte Heinrich sein Sterbekleid mit dem Gewand eines katholischen Priesters, das für ihn bereit lag. Als dies gethan war, ließ er sich in einem Lehnstuhl nieder und senkte nachdenklich das Haupt.

Es war ein Mann von dreißig und einigen Jahren, aber ein schwermüthiger, träumerischer Zug um den Mund, eine gewisse Müdigkeit in der Haltung des Körpers, der Anlage zur Fülle hatte, ließen ihn älter scheinen. Das Haar braun und dünn, die Stirn hoch und schmal, die Augen von feuchtem Blau, die Nase leicht gebogen – so war das Gesicht des Grafen von sanfter Schönheit, ohne aufzufallen. Ganz anders dagegen waren Angelo’s Züge, streng, fest, bedeutend. Das kurzverschnittene schwarze Haar mit der Tonsur des katholischen Geistlichen spitzte sich inmitten der Stirn, während die hohen Schläfe bloß lagen. Der fanatische Blick der tiefliegenden Augen, die dünnen Lippen, die blasse Gesichtsfarbe und der abgemagerte Körper in schwarzer Priestertracht, Alles an ihm verrieth herben, der Welt und ihren Freuden unholden Sinn.

„Wie fühlst Du Dich?“ fragte Angelo.

„Müd, sterbensmüd,“ antwortete der Andere. „Wie lange schlief ich?“

„Vor drei Tagen nahmst Du meinen Trank. Seit drei Tagen ist Graf Heinrich von Waldenburg todt für seine Frau, für die Welt.“

„Todt!“ sagte Heinrich schaudernd; dann fragte er mit ängstlicher Spannung: „Wie trägt Stephanie den Verlust ihres Gemahls?“

„Wie ein Weib; sie jammert und weint.“

„Sie weint!“ seufzte der Graf und barg das Gesicht in beide Hände. „Ihre schönen Augen weinen. Und ich, ich nannte sie herzlos. Ach, Angelo, wozu hast Du mich überredet! Jetzt erscheint mir unsere That ein Frevel gegen Gott und Menschen. Mit den heiligsten Gefühlen, mit Liebe und Treue spielen wir.“

Der Priester zuckte verächtlich die Schultern. „Wenn Du Deinen Entschluß bereu’st, geh’ hin, stürze Dich Deiner Frau zu Füßen, erzähle Deinen staunenden Leuten irgend ein Märchen von Starrkrampf und Scheintod. Sie beweinten Dich drei Tage lang; damit bist Du zufrieden, schwacher, schwankender Mensch!“

Angelo schwieg, um den Eindruck seiner Rede zu beobachten. Aber Heinrich starrte schweigend vor sich hin. „Freilich,“ fuhr Jener fort, „wenn Du das jetzt thust, war unser Beginnen thöricht, vermessen und nutzlos, ein verächtliches Spiel, eine rohe Täuschung. Folgst Du aber auch fernerhin mir, handelst Du in meinem Geist, dann vollbrachtest Du eine große That, die Dich vom Staub der Welt zum Herzen Gottes trägt.“

„Heinrich,“ sagte er mit sanfterer Stimme und legte die Hand auf des Grafen Schulter. „Erkennst Du noch immer nicht Dein besseres Selbst? lauschest Du noch dem Sirenensang? Entschließe Dich! Entweder leere den Becher der Genüsse mit kühnem Zug, sei wie die Andern ein eitler, gottvergeßner, aber lachender Thor, ein ganzer Sünder; oder mach’ es gleich mir, knechte die Sinne, verachte die Menschen und sieh die Welt als einen Traum an!“

„Ach, Freund,“ sprach der Andere schmerzlich lächelnd, „wenn die Welt ein Traum ist, warum schilt mich die Welt einen Träumer?“

„Weil Du Stunden hast, in denen Du wach bist. O daß sie dauern möchten! Denk’ an mich! Wir wuchsen zusammen auf, wir hatten einen Lehrer, eine Erziehung; mein Geschlecht ist so adelig wie das Deine, und wie Du könnte ich jetzt reich, angesehen und, was die Menschen so nennen, glücklich sein. Trotzdem mein Blut rascher fließt als Deines, hab’ ich entsagt. Arm, namenlos, einsam stehe ich – und tausche doch mit Keinem Eurer Glücklichsten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_209.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2021)