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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

passiren lassen? Wo in einer einzigen Straße und innerhalb nur dreier Stunden, von 1–4 Uhr Nachmittags, eine halbe Million, im Durchschnitt, auf verhältnißmäßig engem Raume, aber mindestens eine volle Million Menschen tagtäglich, d. h. blos in der oben angeführten Geschäftszeit, auf den Beinen ist, die gefährlichen Vierfüßler sammt ihren rollenden Anhängseln gar nicht gerechnet, – ein ungefähr ebenso erfolgverheißendes Beginnen, als wenn man die Wasser der Themse mit einem Theelöffel ausschöpfen wollte.

Wie also sollen dieser bedrohlichen Ueberfülle Schranken gezogen werden, – ohne dem Verkehr die freie Bewegung zu weiterer Ausdehnung zu hemmen? Es bleibt kein anderes Auskunftsmittel, als durch neue Eisenbahnen einen Theil der Verkehrsströmung über oder unter das Niveau der Straßen zu verweisen. Diese Ueberzeugung hat sich jetzt des Publicums bemächtigt. Und so ist plötzlich jener Wetteifer von Abhülfsprojecten angestachelt worden, die, wie Alles in London, sofort in’s Ungeheuere und Ungeheuerliche geschossen sind.

Man stelle sich vor, daß die für die City in Aussicht genommenen Schienenwege allein die Länge von mehr als vier deutschen Meilen erreichen werden. Ihr Bau berührt mittel- und unmittelbar ein Areal von nahe an vierzig deutschen Meilen und etwa dreihundert der begangensten und befahrensten Straßen und Communicationen, so daß schwer abzusehen ist, wie er überhaupt ausführbar wird. Wohin in der Zwischenzeit, auf Jahre vielleicht, mit dem Menschen- und Wagenstrome? Doch der Brite, wenn er einmal ein Ding in’s Auge gefaßt hat, pflegt nicht der Mann zu sein, der vor Schwierigkeiten oder Opfern zurückbebt. „Durch“ ist seine Losung. Englischer Unternehmungsgeist, englische Willenskraft, das Genie englischer Ingenieure und Techniker sind bewundernswerth. Hier haben wir von den Briten noch unendlich viel zu lernen. Man darf daher mit Sicherheit behaupten, daß die meisten der dem Unterhause eingereichten Pläne in Angriff genommen und verwirklicht werden, überkühn wie sie sind, welche kolossalen Geldmittel sie beanspruchen und ob dadurch auch die gesammte Physiognomie der Stadt eine derartige Umwandelung erfährt, daß man, nach Verlauf weniger Jahre, selbst die Lage der jetzt bekanntesten und meistgenannten Londoner Localitäten, die Plätze und Oertlichkeiten, an welche sich die interessantesten und theuersten Erinnerungen knüpfen, nicht mehr zu bezeichnen im Stande sein wird. Mit einem Worte, noch nie ist eine Stadt in der Welt von solch’ einem radicalen Umsturze bedroht gewesen. Die Prachtbauten, die Anlage von Straßen, von Boulevards und ganzen Stadtvierteln, womit der dritte Napoleon ein neues Paris geschaffen hat, all das, an sich imposant und gewaltig, schrumpft in’s Unbedeutende zusammen, der völligen Umgestaltung gegenüber, welcher die Metropole an der Themse entgegengeht. Und wie verschieden sind die Ursachen dieser Umgestaltungen der beiden „Hauptstädte der Welt“, so verschieden wie Geist und Charakter der beiden Nationen selbst! An der Seine kommt die Metamorphose wesentlich nur auf Rechnung der Laune und Eitelkeit eines Autokraten, der das neue Paris nach dem Principe „tel est mon plaisir“ octroyirt und dabei auf das Streben nach Glanz und Luxus seiner Pariser richtig speculirt, – jenseit des Canals ist’s allein das bürgerliche Regen und Rühren, das geschäftliche Gedeihen, die mit der Arbeit wachsende Ausdehnung der Stadt und umgekehrt der mit dem endlosen Umfange dieser letztern in’s Endlose anschwellende mercantilische und gewerbliche Verkehr, die freie Vereinigung von Privatleuten, kein Impuls von oben, was London seine neue wunderbare Physiognomie verleiht. –

Es ist unmöglich, auch hier nicht am Orte, alle die Projecte aufzuzählen, die London zu oberst zu unterst kehren sollen; wir wollen nur einiger der hervorragendsten gedenken. Da machen sich unter andern zwei verschiedene Pläne zu einer Weiterbeführung und nutzbringenden Ausbeutung des jetzt als trübselige Curiosität lediglich von den Fremden aufgesuchten, nie aber seiner Bestimmung gemäß als Verbindung von einem zum andern Ufer gebrauchten, völlig inproductiven Themsetunnels anheischig; zwei Compagnien erbieten sich zwischen dem Tower und Londonbridge zwei neue grandiose Brücken über den Strom zu schlagen, jede von 800 Fuß Bogenspannung und das Hochwasser der Themse über mehr als 100 Fuß überragend; außerdem soll noch weiter ostwärts, in der Nähe der Westindia-Docks, eine dritte Brücke errichtet und das Westend gar mit fünf neuen Brücken auf einmal beschenkt werden. Mehrere Bahnen werden dicht am nördlichen, einige andere drüben in Southwark und Borough längs des Südufers der Themse hinlaufen, eine als das Wunder der Wunder, gar mitten im Strombette in langem Tunnel unter den rauschenden Wässern! Viele Parks und zahllose Plätze werden durchschnitten, unterminirt oder überbrückt, so daß hoch über und tief unter dem Menschen- und Wagengetümmel zugleich und unaufhörlich die schweren Locomotiven schnauben und pusten werden. Kaum ein Winkel der City ist sicher vor der Revolution, die sich vorbereitet; nur die Kirchen wird man nicht antasten. Um sie zu schonen, sollen hier und da selbst die weitesten Curven nicht gescheut werden, während man dagegen den mitten in der Stadt noch immer nicht überall beseitigten Friedhöfen wenig Rücksicht zudenkt und somit endlich einmal aufräumen wird mit einem von Londons schreiendsten Mißständen. So wird schließlich das eigentliche Herz Londons und des gesammten Großverkehrs der Erde überhaupt ein Gepräge erhalten, für das uns bis jetzt jedwede Vorstellung gefehlt, dem zu keiner Zeit irgendwelche Stadt auf diesem oder dem andern Continente Analoges an die Seite zu stellen gehabt hat. Ein Unicum, wie es eben nur London sein kann.

Der Anfang zu diesem neuesten London, das in seiner Vollendung das größte bauliche Wunder der Welt wie den Gipfelpunkt menschlicher Verkehrsthätigkeit repräsentiren wird, ist seit Jahren bereits gemacht. Schon sind viele Straßen zweiten und dritten Ranges völlig andere und neue geworden, abermals Tausende von Wohnungen, die noch den Armen und Aermsten Obdach boten, von der Erde weggefegt und ihre unglücklichen Insassen auf’s Neue in entlegene Winkel oder Gott weiß wohin verjagt, freilich aber auch durch Abbruch einer Menge von düstern unsaubern Gängen, Höfen und Gäßchen eine beträchtliche Anzahl von grausigen Schlupfwinkeln des Trunks und des Verbrechens beseitigt worden, und die Umwandelung dauert stetig fort und nimmt mit jedem Jahre kolossalere Dimensionen an, so daß sich der ortserfahrenste Londoner oft schon mitten auf den ihm von Kindesbeinen an geläufigsten Gassen und Plätzen nicht mehr mit Sicherheit „auszukennen“ im Stande ist. Wer mag’s ihm daher verargen, wenn er zu manchen dieser Wandelungen bedenklich den Kopf schüttelt und gern dem sich vollziehenden Umstürze Halt geböte, welchem so viele seiner Anschauungen und Gewohnheiten zum Opfer fallen sollen?

Was britischer Unternehmungsgeist und britische Ausdauer in Verbindung mit britischem Capitale vermögen, beweist vor vielem Andern die obenerwähnte Untergrund-Eisenbahn, die seit vierzehn Monaten als eine gelungene Thatsache dasteht und in nicht vollen zwei Jahren eine Strecke von ziemlich einer deutschen Meile mit täglichen 170 Zügen befährt. Ein nächstes unserer „Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben“ wird diesem Meisterstücke menschlicher Technik gewidmet sein und, nach einer trefflichen Originalzeichnung, an einem der interessantesten Knotenpunkte des Straßenverkehrs einen Einblick in die mit genialer Kühnheit dem Dienste der Oberwelt tributpflichtig gemachte Unterwelt gewähren. Wir begnügen uns also hier einfach mit der Bemerkung, daß die Weiterverzweigung des unterirdischen Schienenstranges nach bis jetzt von ihm noch nicht berührten Stadttheilen auch unter den zwei Dutzend neuen Londoner Projecten figurirt.

Zwar nicht in die unheimlichen Regionen der finstern Tiefe tauchend, vielmehr, im diametralen Gegensatze, meist hoch in der Luft schwebend, doch durch Gedanken und Ausführung kaum minder großartig, ist ein anderes Actienunternehmen, das, ebenfalls dem alle Banden sprengenden Verkehrsstrome seine Entstehung verdankend, seit einigen Jahren das Londoner Publicum in Aufregung versetzt und den englischen illustrirten Blättern zum permanenten Ideenmagazine für Text und Bilder herhalten muß. Wir meinen die sogenannte Charing-Croß-Eisenbahn, die ihren Ausgang nimmt unweit dem alten Platze von Charing Croß, der heutzutage, nach Nelson’s Siege, zum Trafalgar-Square avancirt ist und in seiner Einfassung von Statuen und Denksäulen eine wahre Blüthenlese englischen Ungeschmacks vorstellt. Die ganze Linie dieser Bahn ist zwar kaum eine halbe deutsche Meile lang, macht aber nicht weniger als einhundert und neunzig Brückenbogen nothwendig, von denen allein achtzehn lebhafte Straßen überspannen, während sich ein eiserner Viaduct von über 400 Fuß Länge quer über einen vielbesuchten Marktplatz in den am Südufer des Stromes gelegenen industrieerfüllten Borough schwingt. Schon folgen sich von sieben Uhr Morgens bis halb ein Uhr Nachts die Züge dieser luftigen Bahn in nur viertelstündigen Intervallen, um nach und von Greenwich allein 140 Mal des Tags ihre lebendige und todte Fracht ein- und auszuladen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_200.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)