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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Sensen zusammen, die Stalldirne öffnete ihnen die Thür und Alles eilte in die Stube. Dort nahmen sie den Schelm in Empfang, und während ihn Einige beim Waschel über die Treppe schleppten, trat Hans zum Bette der Baronin, welche ängstlich zitternd unter der Decke kauerte. „Haben sie Dir nichts than?“ fragte er voll Sorge.

„Mir fehlt nichts,“ erwiderte sie, „Nachbarn, ich danke Euch für Eure Hülfe. Bist Du nicht verwundet?“ setzte sie leise bei.

„Nein,“ erwiderte er, „weil nur Du g’sund bist!“

Sie bat jetzt die Versammelten, das Zimmer zu verlassen, und blieb mit ihrer Magd allein. Hans legte sich jedoch, um ja jedem Falle zu begegnen, mit dem Knüttel vor die Thürschwelle. Sie konnte nicht schlafen, tausend Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopfe, endlich faßte sie wie auf höhere Eingebung einen Entschluß. Unterdeß war schon der Tag angebrochen, sie kleidete sich an und wollte das Zimmer verlassen. Da lag Hans ruhig schlafend auf dem Boden, in der Rechten den Knüttel, den linken Arm unter den Kopf gelegt; sie berührte sanft seine Stirn, er fuhr rasch empor.

„Hans,“ sagte sie, „ich verdanke Dir mein Leben und vielleicht noch mehr. Deswegen muß ich mit Dir aufrichtig sein. Vor zwölf Stunden konnte Dir meine Hand nicht ganz unerwünscht scheinen; besaß ich doch so viel, um Dir und mir ein sorgenfreies Dasein zu bereiten. Nun bin ich aber ausgeraubt; denn um meine Staatspapiere zu retten, kamst Du zu spät; — die Schelme warfen sie aus dem Fenster —, ich besitze nichts mehr, als dieses Gütchen, welches beim größten Fleiß nur ein Leben von der Hand in den Mund gestattet. Es wäre schlecht von mir, wollt’ ich Dich halten, ich gebe Dir Dein Wort zurück.“

Hans starrte sie einen Augenblick an, dann stürzte ein Strom von Thränen aus seinen Augen. Als er sich gefaßt hatte, sprach er mit tiefem Schmerz: „Wär’s mir doch lieber, Dich auf der Todtenbahr zu sehen, als so zu verlieren. Daß Du mich für einen schlechten Kerl hältst, der sein Wort umsteht, das hat mir noch am wehesten gethan von all dem Leid, das ich erfahren. Schau, ich bin gesund und stark, Dich und mich kann ich noch ernähren, das Gütchen ist ja nicht so schlecht, und Du hast mittlerweile auch schon was gelernt. Zuerst hast Du mir die Hand geboten, jetzt thu’ ich’s, denn jetzt sind wir gleich!“

„Ja, gleich,“ rief sie freudig, „ich brauche nicht zu Dir herunter, Du bist zu mir emporgestiegen. Jetzt erst bin ich Dein für immer!“

So standen sie und guckten sich fest in die Augen, da sagte Hans mit g’schämigen Backen: „Jetzt darf ich Dir aber auch ein Bussel geben!“ Früher hatte er sich kaum erlaubt, sie mit einem Finger anzurühren.

Ein Kuß beschloß den Bund für das ganze Leben. Daß die Baronin ihr Vermögen nicht verloren hatte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Ihre Rede war ersonnen, nicht um die Liebe ihres Bräutigams, an der sie ohnehin nie zweifelte, zu prüfen, sondern um die Schranke, welche zwischen Beiden bestand, für immer niederzureißen.“




Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.
1.
Das Ungeheuere des Londoner Verkehrs. – Die nothwendig werdenden neuen Verkehrsmittel. – Achtzehn neuprojectirte Eisenbahnen durch die Stadt, über und unter den Straßen. Eine mitten unter der Themse. – Die Untergrund-Eisenbahn. – Die Charing-Croßbahn mit ihrer achtzehnfachen Straßenüberbrückung. – Die pneumatische Brief- und Paketbeförderung und ihre Hauptstation.


Wer weiß nicht, daß um das Jahr 4000 unserer Zeitrechnung der berühmte neuseeländische Tourist des seligen Lord Thomas Babington Macaulay auf seiner alterthumsforschenden Weltfahrt kommen wird, um auf dem meilenweiten Trümmerfelde, wo dereinst die Stadt der Städte, das Ungeheuer London, sich gebrüstet hat, seine philosophisch-elegischen Monologe über das „Sic transit gloria mundi“ vom Stapel laufen zu lassen? Der hochcivilisirte und urgelehrte australische Staatsbürger der Zukunft wird sich aber in die Lüfte aufschwingen oder unter die Wellen der Themse hinabsteigen müssen, wenn er die merkwürdigsten Ruinen der alten britischen Herrlichkeit, die Reste der kühnsten und gewaltigsten Stein- und Eisenschöpfungen aufstöbern will, welche die englische Riesenmetropole mit ihren Millionen von Bewohnern und ihrem unerschöpflichen und unendlichen Verkehre dereinst zum Wunder der Welt gemacht haben.

Der Leser fühlt schon heraus, daß wir nicht eigentlich vom heutigen London sprechen, mindestens nicht von dem, wie es heute schon fix und fertig dasteht, wohl aber von einem London, zu dem der Plan auf’s Papier geworfen und zum Theil bereits in Verwirklichung begriffen ist. Doch was sagen wir von Plan? Nein, Pläne, ein paar Dutzend Pläne in Eins muß es heißen; denn volle dreiundzwanzig Projecte für die umfassendste Umgestaltung Londons, insbesondere der lebenwimmelnden City, – der Alt- und eigentlichen Großgeschäftsstadt, die politisch allein als „Commune London“ betrachtet wird, am östlichen Nordufer der Themse – liegen dem gegenwärtig tagenden Parlamente zur Begutachtung und Genehmigung vor. Wie in den dreißiger und Anfangs der vierziger Jahre ist John Bull mit einem Male von einem neuen tollen Eisenbahnfieber ergriffen worden; nur beziehen sich alle die Schienenwege, die er jetzt ausheckt, lediglich auf London selbst. Daß, was seither auch in den größten anderen Städten, selbst in Paris, noch nicht zu geschehen brauchte, die einzelnen Theile dieser häuserbedeckten Provinz durch Eisenbahnen verbunden sind, welche die meilenlange Peripherie der Stadt umgürteln, weil sich trotz aller der unzähligen Omnibusse, Cabs, Frachtkarren und anderen Vehikel, die sich auf den Straßen zu einem permanenten Chaos zusammenstopfen, trotz der Menge von Dampfbooten, welche unablässig themseauf und themseab schießen, das Bedürfniß neuer Verkehrsmittel dringend geltend machte; daß mehrere Bahnen ihre tosenden Züge hoch über die Dächer der südöstlichen und südwestlichen Vorstädte hinwegjagen; daß eine andere selbst in die geheimnißvolle Tiefe hinabgeklettert und in das noch geheimnißvollere Geflecht der Abzugs- und Wasserleitungscanäle gedrungen ist, um halb London zu untertunneln: das ist schon nichts Unerhörtes mehr, wenn gleich uns, die wir an minder überschwängliche Verhältnisse und ruhigern Lebensfluß gewöhnt sind, der Kopf schwindelt bei dergleichen Ungeheuerlichkeiten. Alles dies aber erscheint blos wie ein schüchterner Anfangsversuch gegen die fabelhaften Ungethüme von Unternehmungen, welche plötzlich in’s Werk gerichtet werden sollen.

Von den dreiundzwanzig Projecten, meist mit pompösen Namen, über deren Verwirklichung die Herren am Westminsterplatze entscheiden sollen, streben zwei Drittel den Bau neuer Stadteisenbahnen an. Allerdings hat die mit der Prüfung dieser Pläne betraute Parlamentscommission davon einen und den andern als gar zu chimärisch und abenteuerlich ad acta verwiesen, einige sind von ihren mittlerweile ernüchterten Schöpfern selbst zurückgezogen worden, indessen mehr als anderthalb Dutzend, man denke sich weit über ein Dutzend neue Eisenbahnen in und über und unter der Stadt, sollen wirklich dem Parlamente zur Sanctionirung empfohlen werden, zum Schrecken manches guten Londoner Spießbürgers – denn auch in London giebt es Spießbürger – der im buchstäblichen Sinne des Worts sich den Boden unter den Füßen weggezogen sieht und nicht weiß, wohin er sich in Sicherheit bergen soll.

Wer während der eigentlichen Geschäftszeit, von zehn Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags, wo der Verkehr zwei Mal zu seiner Fluthhöhe anschwillt, jemals nur einen einzigen Tritt in die City gethan hat, der begreift, wie man nachgerade darauf sinnen muß, dem mit jedem Jahre wachsenden Menschen-, Wagen- und Roßgewirr in Fleetstreet und Ludgatehill, um den St. Paulsdom herum, in Cheapside und namentlich auf Londonbridge, das mit seinen täglichen anderthalbtausend Omnibus und seinen 20,000 sonstigen Vehikeln schließlich jede Ortsbewegung paralysirt und immer lebensbedrohlichere Collisionen in Aussicht stellt, irgendwie einen Ausweg zu schaffen. Soll man etwa Compagnien blaufräckiger Constabler an jede Straßenecke und auf alle Plätze postiren, damit sie die in der Richtung der City heranbrausenden Menschenwogen stauen, indem sie dieselben sectionsweise abtheilen und immer nur ein wohlabgezähltes Menschen- und Wagenquantum auf einmal

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_199.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)