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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

gebe Ihnen aber zu bedenken, daß Sie mich in diesem Falle zur Liquidation treiben. Was alsdann auf Ihre Forderung herauskommen dürfte in einer Zeit, wo wir keine Stunde sicher sind, daß uns die Kanonen der Citadelle die Häuser über den Köpfen anzünden, stelle ich abermals Ihrem Ermessen anheim. Das Aeußerste, was ich thun kann,“ schloß er seine für Alfred niederschmetternde Rede, „ist, daß ich Ihnen ein Abfindungsquantum anbiete für den Fall, daß Sie über das Ganze quittiren. Verschmähen Sie diese von der Noth gebotene Summe, so weiß ich nicht, ob ich in Kurzem auch nur diese noch zu leisten im Stande sein werde.“

Da der Betrag der angebotenen Summe mit der Schuldforderung in zu grellem Widersprüche stand, fuhr der junge Kaufmann empört von seinem Sitze auf, griff nach seinem Hute und verließ ohne Abschied rasch das Zimmer. Spöttisch schaute der Pole dem Davoneilenden nach und brummte für sich: „Das fehlte noch, in der jetzigen Klemme auch noch dem Schwaben das Geld in den Rachen zu werfen.“

Alfred war in seiner Verzweiflung zu einem Rechtsanwalt geeilt, den ihm sein Vater für gewisse Fälle namhaft gemacht. Das Resultat hier konnte nicht trostloser sein. Der Mann des Rechts zuckte mit den Achseln und gestand, daß Alfred allerdings zu keiner unglücklicheren Zeitperiode in Warschau hätte eintreffen können. Die Situation sei in der That der Art, daß Alles auf dem Spiele stehe, und der Fall, daß sie von zahlungssäumigen Gläubigern benutzt werde, um ihrer Verbindlichkeiten quitt zu werden, stehe leider nicht vereinzelt da. Dieselbe Resolution erhielt er selbst von mehreren einflußreichen Persönlichkeiten, wo er seine Empfehlungsbriefe abgab.


Wir finden am Spätnachmittag unsern Landsmann nach seinem Hotel zurückgekehrt und beschäftigt, auf einem aus der Brieftasche gerissenen Stück Papier ein Telegramm zu redigiren, um seinen Vater von dem unglücklichen Stande der Angelegenheit zu benachrichtigen und um anderweite Verhaltungsbefehle zu bitten. Es begann bereits dunkel zu werden, Alfred hatte darum an dem obern noch lichthellen Theile der langen Tafel Platz genommen. Die nahen Fenster gingen nach der Straße hinab. Er vernahm, während er schrieb, die dumpfen Schritte und das Geklirr der Waffen der vorüberziehenden starken russischen Patrouillen, war jedoch in seine Arbeit so vertieft, daß er nicht bemerkte, wie inzwischen ein hoher stattlicher Herr in den Saal getreten war, der, sowie er einen Blick auf den jungen Kaufmann geworfen, eine freudige Ueberraschung ausdrückende Erregtheit nicht zu verbergen vermochte. Alfred bemerkte es auch nicht, wie der Fremde ihn fixirend wiederholt auf und ab ging.

Endlich war das Telegramm fertig. Alfred erhebt sich; allein wer beschreibt seine Ueberraschung, als sein alter Bekannter aus Straßburg vor ihm steht. „Wache ich oder träume ich?“ ruft endlich Letzterer und schließt den Deutschen auf das Herzlichste in seine Arme. Doch kaum hat er einen Blick auf Alfred’s Gesicht geworfen, als er betreten einen Schritt zurücktritt.

„Ihnen ist Unangenehmes widerfahren,“ spricht er in besorgtem Tone, „und überhaupt, was führt Sie gerade jetzt nach dieser unglückseligen Stadt?“

Zu jeder andern Zeit würde dieses überraschende Sichwiedersinden auch auf Alfred den freudigsten Eindruck nicht verfehlt haben. In seiner jetzigen Lage war es ihm aber unmöglich, seiner Freude hinreichend Ausdruck zu geben.

Da der Pole, den wir Stanislaus nennen wollen, mit ungeheuchelter Theilnahme in ihn drang, seinen Kummer ihm mitzutheilen und Alfred seinen ehemaligen Reisegefährten durchaus als einen Mann von edelster Gesinnung hatte kennen lernen, so trug er kein Bedenken, sein Herz vor ihm auszuschütten.

„Doch das läßt sich nicht mit trockenem Munde abthun,“ unterbrach Stanislaus, nachdem Alfred seine Leidensgeschichte begonnen; „Thaddäus, eine Flasche Cliquot.“ Obschon unserm deutschen Landsmanne durchaus nicht champagnerlustig zu Muthe war, mußte er gleichwohl auf das Wiederfinden anstoßen, worauf der Pole die Mittheilung Alfred’s mit Spannung und Aufmerksamkeit verfolgte, während seinem Munde wiederholte Male das Wort „Canaille“ entfuhr.

Alfred war zu Ende; Stanislaus stand auf und dem Tiefverstimmten die Hand reichend, sagte er: „Danken Sie es einem gütigen Geschick, das uns so unerwartet zusammenführte. Vielleicht, daß ich etwas in der Sache thun kann. Sie wenigstens sollen nicht zu den Deutschen gehören, welche sagen können, daß sie durch einen Polen um ihr Eigenthum gekommen wären!“

Alfred wußte nicht, wie ihm geschah. Er schaute trüben, fast ungläubigen Blickes zu dem Manne empor, der auf so unverhoffte Weise als sein Retter erschien. Letzterer fuhr fort: „Begeben Sie sich jetzt auf Ihr Zimmer und verlassen Sie dasselbe nicht. Binnen zwei Stunden bin ich wieder hier. Thaddäus, leuchte dem Herrn nach seinem Zimmer!“

Alfred befand sich in einer schwer zu beschreibenden Stimmung. Dieses höchst unverhoffte Zusammentreffen, dieses Anerbieten in der Noth – aber welche Mittel und Wege standen Jenem zu Gebote, einen böswilligen Schuldner zur Zahlung zu zwingen? Was unserem deutschen Landsmanne fernerhin auffiel, war die vollständige Umwandlung in dem Benehmen der Hoteldienerschaft gegen ihn. Bei seiner Ankunft war er mit einem gewissen Mißtrauen, ja mit auffälliger Kälte vom Wirthe wie dessen Dienstleuten empfangen worden. Er mußte wiederholt die Klingelschnur ziehen, ehe sich ein diensthabender Kellner gemüßigt fand, nach dem Begehr zu fragen. Jetzt war das ganz anders. Ein Wink, und Jedermann flog, seinen Wünschen nachzukommen.

Nachdem Alfred sein Zimmer betreten, war die Dunkelheit immer tiefer herabgesunken. Sofort erhellte sich der Raum, indem sämmtliche Wachskerzen auf den silbernen Armleuchtern angezündet wurden, was Tags vorher nicht geschehen war.

Mit der unterwürfigen Frage: ob der gnädige Herr noch etwas befehle? entfernte sich der Diener, und Alfred erhielt Muße, über sein höchst merkwürdiges Abenteuer die geeigneten Betrachtungen anzustellen.

Die Fenster des Zimmers gingen nach einem freien Platze. Nur vereinzelte Gestalten sah man, eine jede mit einer Laterne versehen, durch die Dunkelheit wandeln. In einiger Entfernung rauschten die Wellen der Weichsel. Alfred öffnete ein Fenster und schaute lange hinaus in die milde, schweigende Nacht. Er war in der Geschichte des polnischen Reiches nicht unbewandert; darum bewegten die seltsamsten Gefühle seine Brust. Er gedachte der Donner und Flammen Pragas unter den stürmenden Bataillonen Suwarow’s, der Donner und Flammen von Wola vor zweiunddreißig Jahren. „Wenn diese dunkeln Häusermassen,“ sprach er zu sich, „erzählen könnten, wie viel Blätter blutiger polnischer Geschichte würde man zu beschreiben haben!“ Seine Situation würde überhaupt eine recht romantische zu nennen gewesen sein, wenn der drohende Verlust die erforderliche Stimmung dazu verstattet hätte.

Abermals zog eine russische Patrouille, um die Ecke biegend, am Hause vorüber. Schweigend marschirten die Krieger dahin. Ihre Schritte verhallten allmählich und wurden schwächer und schwächer. Es herrschte wieder die vorige unheimliche Einsamkeit und Stille – da, plötzlich ein geller, kurzer, aber markdurchschauernder Hülfeschrei. Erschrocken fuhr Alfred zurück und gewahrte mit Entsetzen, wie sich in geringer Entfernung ein dunkler Gegenstand auf dem Boden wälzte und zwei Gestalten nach der entgegengesetzten Richtung anseinanderhuschten. Er vernahm, wie das Thor des Hotels aufgerissen wurde und Personen mit Lichtern hervorstürzten, die, wie es schien, einen Schwerverwundeten oder Todten in’s Haus trugen.

Alfred eilte nach dem Glockenringe und schellte. Er mußte wissen, welches Unglück sich zugetragen. Auf seine hastige Anfrage erwiderte der Diener mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, ja selbst Schadenfreude: „Es ist der geheime Polizeiagent T., an welchem die Nationalregierung soeben das Urtheil vollstrecken ließ.“

Nationalregierung, verhängnißvolles Wort, das Alfred so oft in Deutschland nicht ohne geheimen Schauer hatte aussprechen hören und das er nur im Drange der Geschäfte zeitweilig aus dem Gedächtniß verloren, es wuchtete jetzt von Neuem unheimlich auf ihm. Nie hätte er sich träumen lassen, die Bekanntschaft dieses furchtbaren Tribunals, dieser dunkeln Vehme, in solcher Nähe zu machen. Er wollte schüchtern noch einige Anfragen an den Kellner thun, als Tritte auf dem Gange vernehmbar wurden und Stanislaus wieder in das Zimmer trat, der ihn sofort nach dem Sopha führte und Platz neben ihm nahm.

Alfred konnte nicht umhin, den alten Reisegefährten von dem soeben gehabten Schrecken zu benachrichtigen. Doch dieser entgegnete mit großem Gleichmuthe: „Daran muß man sich bei uns gewöhnen. Doch seien Sie unbesorgt. Es wird Niemand schuldlos

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