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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Nur Fräulein Anna,“ war die Antwort, „ich werde aber Fräulein Eugenie benachrichtigen.“

„Lassen Sie nur, lassen Sie nur!“ erwiderte der junge Mann hastig, „ich wollte mich nur kurz verabschieden!“ Er schritt nach der Thür des Besuchzimmers, blieb indessen, wie in Zweifel mit sich selbst, hier einen Moment stehen, ehe er öffnete; dann trat er leicht, aber mit hochgehobenem Kopfe ein.

Das Zimmer war vom rothen Glanze des Abends überfluthet, und das bleiche Gesicht des Mädchens, welches, das Kinn im stillen Sinnen in die kleine Hand gestützt, am Fenster saß, erschien wie umsponnen von den rosigen Lichtern. Das leise Geräusch der sich öffnenden Thür schien nicht zu ihrem Bewußtsein gedrungen zu sein.

„Fräulein, darf ich stören?“ fragte Maçon, der einige Secunden lang schweigend in ihrem Anschauen dagestanden hatte. Sie fuhr, beinahe erschreckt von dem Klange seiner Stimme, auf. „Ich kam nur, um mich zu verabschieden,“ sprach er, rasch auf sie zutretend, „aber ich betrachte die Minute, die mir jetzt vergönnt ist, Sie allein zu sehen, als eine Schicksalsfügung.“

Sie stand vor ihm, ernst die großen, tiefen Augen in sein Gesicht geheftet, als wolle sie dadurch eine Schranke gegen jede leichtfertige Annäherung seinerseits ziehen. Bald aber schien die eigenthümliche Bewegung, welche sich in seinen Zügen ausdrückte, sie unsicher zu machen.

„Ich habe eine kurze, bestimmte Frage an Sie zu richten, Fräulein,“ begann er von Neuem, „und ich bitte Sie, dabei zu bedenken, daß es im Leben bisweilen Momente giebt, in denen an einem Worte ein ganzes Schicksal und wohl noch mehr als das eines einzigen Menschen hängt; ich bitte Sie, mir mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten und jede der gewöhnlichen kleinlichen Rücksichten und Zögerungen bei Seite zu lassen – ich habe eine Ueberzeugung in mir, daß Sie es vermögen, sobald Sie nur die Schwere des Augenblicks erkannt, und gebe Ihnen die Versicherung eines Mannes, der wissentlich noch nie gelogen, daß die jetzige Minute, die nie wiederkehren wird, über mehr entscheidet, als Sie absehen können –“

„Was wollen Sie, Herr Maçon?“ unterbrach sie ihn, während ihre Augen groß und starr in den seinen haften blieben.

„Ich möchte Sie fragen, Fräulein Anna, ernst und einfach fragen,“ sagte er mit blitzendem Blicke, „ob Sie einen Lebensgefährten, wie ich es bin, ertragen könnten?“

„Herr Maçon!“ rief sie zurückweichend, während eine plötzliche Leichenblässe in ihre feinen Züge trat.

„Anna,“ erwiderte er mit mühsam gedämpfter Stimme, in plötzlicher Erregung, „um Alles willen, was Ihnen das Liebste ist, werfen Sie jetzt zurück, was Ihre Seele schwach machen könnte; jede Secunde kann eine Störung bringen, und dann muß ich gehen auf Nimmerwiederkehr! Ich habe es empfunden, ich weiß es, daß unser beiderseitiges inneres Wesen zwei Hälften sind, die zu einander gehören – antworten Sie mir frei und stark –!“

Er hatte ihre Hand gefaßt, die zuckend sich umsonst der seinen entziehen wollte. „Lassen Sie mich – gehen Sie!“ drängte sie, fast mechanisch, wie gänzlich fassungslos vor dem Unerwarteten sich abwendend, und eine plötzliche Schwäche schien sie zu überkommen.

Zweifelnd blickte er in ihr bleiches Gesicht; plötzlich aber glänzte es in seinen Zügen auf. „Stoße mich zurück, Mädchen, wenn Du Nein sagen kannst!“ rief er mit tiefer, leidenschaftlich bewegter Stimme, während sein Arm sie fest umfaßte.

„Mein Gott, mein Gott!“ preßte sie mit einem vergeblichen Versuche, sich ihm zu entziehen, hervor; im nächsten Augenblicke aber hatten seine Lippen sich fest auf die ihren gelegt und sie schien in seinem Arme zusammenbrechen zu wollen.

„Baue auf mich, treu, unerschütterlich, meine Anna, was auch in den nächsten Tagen geschehen möge!“ flüsterte er ihr zu und ließ die halb Bewußtlose in den von ihr verlassenen Fauteuil nieder; dann faßte er ihre kleinen, widerstandslosen Hände zusammen, führte sie an seinen Mund und wandte sich leichten raschen Schritts nach der Thür. Einen Blick noch warf er von hier zurück – das Mädchen lehnte wie geknickt, mit geschlossenen Augen, in dem Stuhle, und nur zögernd öffnete er den Ausgang. „Es mußte ja so sein,“ murmelte er, „und hätte ich falsch geahnt, wäre ja Deine Kraft nicht erlegen! Gott bewahre mir Deinen Glauben, bis ich wiederkehre!“

Er griff im Corridor hastig nach Hut und Paletot, als fürchte er noch eine Begegnung, und eilte die Treppe hinab.




6.

Gruber hatte sich im Reiseanzuge nach der Wohnung des Polizei-Directors begeben, in deren Vorzimmer ihm, kaum daß er gemeldet worden, Hellmuth in Begleitung eines Polizeibeamten aus den inneren Räumen entgegenkam. Der Erstere winkte dem jungen Manne nach einer der Fenster-Vertiefungen. „Meier hat wirklich bereits vor länger als einer Stunde die Stadt verlassen,“ sagte er hastig und mit leiser Stimme; „ich habe bereits Extrapost für Sie und den Beamten bestellen lassen, und es ist jetzt Ihre Aufgabe, den Wagen der ordinären Post so bald als nur irgend möglich einzuholen. Schonen Sie kein Geld gegen den Postillon – ich traue diesem Meier zu, daß er seine jetzige Tour nur zum Schein eingeschlagen hat und auf der nächsten Station seine eigentliche Richtung erst nimmt, und erreicht er unaufgehalten den Fluß, so ist bei der Menge auf- und abwärtsgehender Dampfboote von einem weitern Verfolgen seiner Spur gar keine Rede mehr. Sie wissen, was von Ihrer jetzigen Reise abhängt! Der Beamte ist angewiesen, sich nach Ihren Anordnungen zu richten, und hier muß ich mich nun völlig auf Ihre Klugheit verlassen. Ich weiß nicht, welches Gift dieser Mensch, der seit zwanzig Jahren mein unbeschränktes Vertrauen besessen, noch gegen mich in Bereitschaft haben kann; zeigen Sie ihm also, daß sein Arrest in Ihrer Hand liegt, benutzen Sie Ihre Macht aber hauptsächlich zur Wiedererlangung des entwendeten Contobuches. Ich vermuthe sehr stark, daß seine Entfernung mit dem in seinen Händen befindlichen Beweise auch ein Schachzug gegen diesen Maçon ist, um diesen zur Annahme der ihm wahrscheinlich gestellten Bedingungen zu zwingen, daß er also jedenfalls im Besitz des Geschäftsbuches ist. Nöthigenfalls lassen Sie sein Gepäck durchsuchen, der Beistand jeder Polizeibehörde ist Ihnen gesichert! – Und nun vorwärts ohne Säumen –“ wandte er sich nach dem Zimmer zurück. „Sie haben die nöthigen Reisebequemlichkeiten bei sich?“

„Willmann ist damit nach dem Posthofe voraus!“ war die Antwort, und von dem herantretenden Beamten begleitet, verließ der junge Mann eilig das Zimmer. – –

Hellmuth hatte gleichzeitig den Heimweg eingeschlagen. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich hin und schrieb:

 „Herrn Adolphe Maçon.

Ich habe seit einer Stunde die Sicherheit verstehen lernen, mit welcher Sie heute auf Ihren vermeintlichen Ansprüchen beharrten, bedaure aber, durch dieses Verständniß zugleich die gute Meinung, mit welcher ich heute als Gegner von Ihnen schied, völlig vernichtet zu sehen. Sie könnten mir allerdings wieder wie heute entgegnen, daß Sie sich in Ihren Handlungen keiner Unehrenhaftigkeit gegen mich bewußt seien; in den Augen jedes deutschen Ehrenmannes aber, lieber Herr, ist Derjenige, welcher sich die Früchte eines Diebstahls zu Nutze macht, durchaus nicht besser, als der Dieb selbst. Oder wäre es Ihnen bei dem ersten Blicke auf das mir von meinem spitzbübischen Buchhalter entwendete Contobuch – ich glaube, daß Sie keiner nähern Bezeichnung bedürfen – nicht sofort klar geworden, daß es nur durch einen Act der Unehrlichkeit von dem ihm zugewiesenen Platze entfernt worden sei? Genug darüber; ich will mir aber nur erlauben, Ihnen zu bemerken, daß ich von dieser Stunde an die Vertheidigung meines Eigenthums nicht mehr wie gegen einen irrigen, doch von ehrlicher Ueberzeugung hervorgerufenen Anspruch, sondern wie gegen Diebe und Einbrecher führen werde. Ihrem Freunde und Gehülfen Meier ist bereits die Polizei auf den Fersen, und bei seinem Ergreifen wird sich ja herausstellen, durch welche Motive er zu dem begangenen Diebstahl verleitet worden ist. Versuchen Sie in Gottes Namen, wie weit Sie mit derartig erlangten Beweismitteln gegen mich kommen – um Ihres großherzigen Vaters willen aber bin ich völlig unglücklich, mich zu diesen Zeilen veranlaßt zu sehen.

Hellmuth.“

Er schloß das Schreiben, adressirte es und gab es mit dem kurzen Auftrage: „Nach dem Hotel français, sobald Willmann zurückkommt!“ in das Comptoir. – –

Auf der ebenen Chaussee sauste die leichte halboffene Droschke dahin, welche[WS 1] Gruber mit seinem Begleiter dem gewöhnlichen Postwagen nachführte. Der Beamte lehnte ruhig in seiner Ecke, eine ihm von dem jungen Kaufmann dargebotene Cigarre mit sichtlichem Genuß rauchend, während der Letztere trotz der kurzen Zeit, die seit dem Verlassen der Stadt verstrichen, sich zeitweise unruhig aufrichtete,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: welcher
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_147.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)