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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

aus dem Gebäude in den Hof führte. Wir traten durch dieselbe auf einen Gang, welcher im Innern des Hauses den Hof von drei Seiten umgab. Auf den Gang öffneten sich eine Menge Zimmer, die zur Apotheke, zum Sectionssaale, zur Todtenkammer, zu einem Consultationszimmer für die Aerzte und zu andern administrativen Zwecken des Gefängnisses dienten. Der Brigadier schloß zwei anstoßende Zimmer auf. Ich trat ein. Ich befand mich im Gefängnisse Orsini’s und Pierri’s während ihrer einundzwanzigtägigen Haft in „Prison de la Roquette“.

Die Zimmer waren nicht unfreundlich. Sie waren groß und hoch. Das Zimmer Orsini’s hatte eine fast viereckige Gestalt. Das Zimmer Pierri’s war um die Breite des Ganges länger. Die Wände hatten einen gelben, ockerfarbigen Anstrich; das von außen mit starken Eisenstangen vergitterte Fenster war ziemlich groß und in der obern Hälfte der Wand. In der Ecke jedes Zimmers stand eine eiserne Bettstelle, während sich ein kleiner, weißer Porzellanofen in der Mitte befand. Außer einigen Rohrstühlen waren keine Möbeln im Zimmer. Der Fußboden war gedielt. In ihrem Aeußeren hatten beide Zimmer also nichts, was an ihre schreckliche Bestimmung erinnerte.

„Die Zimmer auf diesem Gange und im zweiten Stock dienen den zum Tode Verurtheilten zum Aufenthalte, bis sie zur Hinrichtung vor das Gefängniß hinausgeführt werden,“ sagte der Brigadier. „Augenblicklich ist Niemand in la Roquette, dem die Guillotine bevorstände. Die Zimmer werden erst möblirt, wenn sie bezogen werden. Dort links wohnte Pierri, hier rechts Orsini. Sie sehen, beide Zimmer trennt nur eine Wand. Rudio befand sich im obern Stock.“

„Hatten Sie häufig die Nachtwache bei Orsini und Pierri, Brigadier?“ fragte ich.

„Mehrere Male. Sie wissen, Beide brachten einundzwanzig Tage hier zu. Bei Orsini wachte ich die Nacht vor seinem Tode.“

„Wird bei allen zum Tode Verurtheilten die Nächte vor ihrem Tode gewacht?“

„Bei Allen; Sie sehen dort die zwei Stühle, dem Bette gegenüber. Auf dem einen sitzt der Gefängnißbeamte, auf dem andern ein Soldat, das Auge auf das Bett des Verurtheilten gerichtet.“

„Waren Orsini und Pierri heiter und ruhig während der Zeit, wo sie hier detinirt waren?“

„Bis zum letzten Augenblick waren sie heiter und sogar fröhlich. Wenn sie von dem Attentat sprachen, bedauerten sie nur, daß es nicht gelungen sei. Pierri sang zuweilen in seinem Zimmer die Marseillaise oder den Gesang der Girondisten. Dann saß er oft stundenlang da auf dem Mauervorsprung an der Thür und schaute zum Fenster hinaus nach dem Himmel, oder er unterhielt sich mit der Wache, oder er klopfte einmal an die Wand und rief „Orsini“, der in ähnlicher Weise antwortete. Sie hielten sich auch mehrere Stunden des Tages in dem kleinen Gärtchen auf dem Hofe auf, von wo wir eingetreten sind, natürlich nach einander. Erst am Morgen ihrer Hinrichtung sahen sie sich wieder, hier auf dem Gange, als sie aus dem Zimmer traten. „Eh bien,“ rief Orsini, „wo ist denn Rudio?“

Pierri lachte. „Ich habe es mir gedacht, daß wir Beide den Gang allein machen würden,“ erwiderte er.

„Und Orsini’s letzte Stunden, Brigadier? Schlief er ruhig in der letzten Nacht?“

„Ganz ruhig, sechs Stunden. Ich habe nicht bemerkt, daß er erwachte. Nach vier Uhr stand er auf. Er frühstückte und war ganz heiter. Von Neuem sprach er von dem Attentat und bedauerte abermals, daß es nicht gelungen war. Dann kam der Priester. Orsini’s Haltung blieb ganz dieselbe, fest, ruhig und heiter. Hier auf dieser Stelle sah er Pierri wieder, wie ich Ihnen schon sagte. Sie begrüßten sich Beide in herzlichster Weise. Wenn es Ihnen beliebt, so gehen wir nun. Sie haben Alles gesehen. Ich werde Sie nun den Weg führen, den Beide zum Tode gingen. Oder wollen Sie erst noch Rudio’s Zimmer sehen? Sie wissen, er wurde auf Verwendung seiner Frau begnadigt, nach Cayenne deportirt und ist von dort entkommen.“

„Ich weiß. Rudio’s Zimmer interessirt mich nicht. Gehen wir, Brigadier.“

Der Gefängnißbeamte verschloß die Zimmer Orsini’s und Pierri’s von Neuem. Am Ende des Ganges stiegen wir eine kleine hölzerne Treppe hinauf. Wir befanden uns im obern Stock des Gebäudes. An demselben schloß sich der lange Gang, an dessen beiden Seiten die Schlafzellen der Sträflinge liegen und der wieder zum vordern Hofe des Gefängnisses führt.

„Hier gingen sie Beide zum Tode,“ sagte mein Begleiter, als wir in dem Gange dahin schritten; „Pierri ging voran, Orsini drei Schritte hinter ihm, der Priester neben Orsini. Auf dem ganzen Wege sang Pierri mit lauter, tönender Stimme den Gesang der Girondisten. Orsini sang nicht; er wiederholte mir zuweilen die Worte „du calme“. (Ruhig!) Beide sahen stolz und, ich möchte sagen, fröhlich aus.“

Ich las auf dem Gesichte meines Begleiters ganz deutlich die Empfindung, welche die Erinnerung noch heute in ihm wach rief. Er schwieg einen Moment.

„Weiter, Brigadier,“ sagte ich, „weiter.“

„Nun, draußen im kleinen Hofe wurden Beide dem Henker übergeben. Der Henker wartet immer im vordern Hofe, er kommt nur in den Hof der zum Tode Verurtheilten, wenn der Verurtheilte sich zu gehen weigert und sich widersetzt.“

„Hat Orsini den bekannten Brief an Napoleon geschrieben?“ fragte ich im Weitergehen.

„Das kann ich nicht wissen,“ sagte mein Begleiter. „Der Director des Gefängnisses hielt sich oft längere Zeit bei den drei Gefangenen auf.“

Wir waren währenddem wieder in den vordern Hof von la Roquette gelangt. „Es war ein grauer Wintermorgen,“ erzählte mir der Brigadier noch, bevor ich ihn verabschiedete, „vor sechs Uhr. Da draußen war die ganze Vorstadt auf den Beinen. So weit man sehen konnte, erblickte man Kopf an Kopf. Man hörte ein lautes Weinen und Schluchzen unter der Menge, als Orsini und Pierri das Schaffot betraten. Pierri sang noch den Refrain des Girondistenliedes, als er die Stufen des Schaffots hinanstieg, „mourir pour la patrie, mourir pour la patrie!“ „Vive la France, vive l’Italie!“ rief Orsini, als er von dem Schaffot die Menge überblickte, bevor er das Haupt auf das Bret legte.“

Wieder stand ich allein vor dem schrecklichen Thore von la Roquette auf der Stelle, wo das Schaffot aufgestellt wurde. Vor dem Auge meiner Seele erschien das geisterbleiche Antlitz Felix Orsini’s, wie ich es in einem vortrefflichen Bilde bei meinem Freunde Karl Blind in London sah. Und als ich die Straße la Roquette aufwärts nach dem Bastillenplatz ging, da sang ich unwillkürlich mit halblauter Stimme den Gesang der Girondisten. Da war er ja, der Platz, wo das Volk von Paris einst die Bastille stürmte; da sind noch alle die Straßen, welche in die aufrührerische Vorstadt St. Antoine führen. Da weiß ja jeder Stein von den Revolutionen zu erzählen, welche seit siebenzig Jahren fast immer von diesem denkwürdigen Platze ausgingen und ihre Erschütterungen über Europa trugen. Wer vermag zu bestimmen, ob der Tag nicht nahe ist, wo hier wieder das alte, „Allons enfants de la patrie“ erbraust? Wer kann sagen, ob es vor oder in den Tuilerien ausklingt?

Gust. Rasch. 




Bilder aus dem Thiergarten in Hamburg.
Von Brehm.
2. Unsere Bären.


Die Naturgeschichte „Meister Brauns“, des allbekannten und hochberühmten Gewalthabers im Thierreiche, ist wiederholt zum Gegenstande ausführlicher Darstellung geworden. Der Bär spielt nicht blos in der Wissenschaft seine Rolle, er lebt auch in Wort und Bild im Volksliede und in der Volkssage, in der Wappenkunde und in der Kunst. Die Dichtung aller Völkerschaften, welche mit ihm in Verkehr kommen, hat sich seiner bemächtigt, die Völker haben den plumpen, ernstkomischen Gesellen ausgebeutet, leiblich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_010.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)