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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Proben als deutscher Schauspieler abgelegt hatte, weggegangen war, um sich ausschließlich dem deutschen Theater zuzuwenden, hatte er als sein nächstes Ziel Breslau in’s Auge gefaßt, die Stadt, welche, seinem Vaterlande am nächsten gelegen, auch am ehesten den ihm noch anhängenden polnischen Accent entschuldigen würde. Allein man belächelte hier nur sein Unternehmen. Er ging nach der kleinen Stadt Brieg – vergeblich, nach dem noch viel kleinern Ohlau – umsonst. Nirgends hülfreiches Entgegenkommen. Nur eine einzige Aussicht blieb dem Wanderer noch, Verständniß zu finden, und diese war Berlin, oder vielmehr der dort lebende Hofrath Louis Schneider, von dem er so viel gelesen, der ihm als eifriger Polenfreund geschildert war. Voll Ungeduld eilt der Künstler nach der preußischen Hauptstadt, – auf dem Bahnhofe endlich angekommen, springt er hastig aus dem Wagen und thut einen unglücklichen Fall. Er hat sich auf gefährliche Weise den Fuß verrenkt.

An Stelle der frischen Hoffnung, die im Eisenbahncoupé neben ihm gesessen und ihm still in’s Gesicht und Herz hineingelächelt hatte, sitzt nun ein alter langweiliger Spitaldiener und fährt mit ihm in die Stadt und ruft ihm einmal über das andere zu: „Halten Sie sich man ja recht stille.“ Fast vier Wochen mußte Dawison das Bett hüten. In dieser Zeit aber hatte er durch seine jugendliche Frische, seine Liebenswürdigkeit, durch seinen Witz und sein Talent zu erzählen sich bei allen seinen Zimmernachbarn so in Gunst gesetzt, daß man den Tag, wo er zum ersten Male wieder das Bett verlassen durfte, durch eine Abendgesellschaft zu feiern beschloß. Und das war heute. Dawison las dabei „Hans Jürge“ von Holtei vor. Die Wirkung dieser ersten Huldigung, welche er dem Vaterlande seiner Wahl brachte, war eine unbeschreibliche. Ein buckliger Schulmeister aus Posen fiel ihm schluchzend um den Hals und schwur Stein und Bein, „er selber sei eigentlich auch Schauspieler, er könne es nur nicht so von sich geben; an Dawison’s Stelle aber ließe er sich den schwarzen Bart abschneiden und ohne Weiteres mit 10,000 Thalern am Hoftheater engagiren – und er wolle den sehen, der ihn daran hinderte!“

Dawison folgte nun zwar dem Rathe, insofern sich derselbe auf seinen Bart bezog; trotzdem erfüllte sich der zweite Theil jener kühnen Voraussetzung nicht so ohne Weiteres. Von Louis Schneider aber erhielt er Empfehlung nach Hamburg, an den Director des Thaliatheaters Maurice, auf welche hin er einen Cyclus von Gastrollen eröffnen konnte. Wie er hier gleich durch sein erstes Auftreten Zeugniß seiner Genialität ablegte, sodaß sich an sein Gastspiel ein dauerndes Engagement schloß; wie er dann im Fluge gleichsam das noch zu Lernende an sich riß, Rolle auf Rolle sich schuf und immer höhere Aufgaben zu lösen unternahm; wie sein Ruhm wuchs und er endlich seine Stellung an dem ihm so liebgewordenen Thaliatheater mit dem ihm eröffneten ungleich großartigeren Wirkungskreise am Hofburgtheater in Wien vertauschte – das Alles ist bekannt. In Wien wuchs er vollends zu seiner Größe empor. Kein Theater der Welt vermochte ihm eine Vereinigung so bedeutender Kunstgenossen zu bieten, als das Burgtheater; wie dieses war kein Kunstinstitut geeignet, seine Ansichten klären, seine Ueberzeugungen festigen zu helfen. Seine junge Frau, die er sich schon, als er seine Stellung in Hamburg gesichert wußte, aus Lemberg geholt hatte, bereitete ihm eine reizende Häuslichkeit; die schöne Umgebung Wiens, der heitere, leichte Sinn des Volkes, eine geistreiche, freundschaftliche Genossenschaft – Alles, was ihm entgegenkam, forderte zu Genuß auf. Für Dawison aber gab es noch kein Ausruhen, keine Umschau, kein Rückblicken. Jetzt schuf er seine großen Rollen: er ging mächtig an Shakespeare. Unbefangen, unbeirrt von fremden Anschauungen, folgte er nur sich. Ob es Andere so oder anders gemacht, kümmerte ihn nicht.

Als er 1852 nach Dresden kam, war er ein Phänomen. Man kannte seinen Namen, aber die Erscheinung frappirte auf’s Höchste. Der unzweideutige Beifall, mit welchem er hier aufgenommen wurde, die glänzenden Anträge, die man ihm stellte, vor Allem aber die zarte Natur seiner Frau, welche das Wiener Klima nicht gut zu vertragen schien, erweckten den Entschluß einer Übersiedelung. Mit seiner gewöhnlichen Raschheit führte ihn Dawison aus. Das war jetzt vor zehn Jahren.

„Nicht sechs Monate wird er in Dresden bleiben,“ hieß es in Wien – aber Dawison blieb und ist noch jetzt da. Er fing nun an, wie er sagte, das Leben zu genießen, – allein wie genoß er? dadurch, daß er seinem Schaffenstrieb in neuen Richtungen zu walten erlaubte.

Von dem Ertrage eines Gastrollencyklus in Berlin baute er sich ein reizendes Haus. Er steckte mit ab und hantirte mit Hacke und Spaten in seinem Garten, denn er konnte kaum erwarten, eine Heimath zu haben, die er ganz und gar seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Willen verdankte. Aber der Sommer war noch nicht oft in den schönen Garten gekommen, als man die treueste Seele, die dem Manne angehangen hatte, aus ihm hinaustrug. Es war wieder leer; die Blumen wurden von fremden Menschen abgebrochen, das Obst fraßen die Sperlinge. Dawison ging in den Club, und wenn er Nachts nach Hause kam, setzte der Gärtner das Licht auf den Tisch und ließ ihn allein. –

Das war zu trostlos. Im Drange nach Betäubung ging Dawison nach Paris. Er war gerade dort, als über die ganze Erde das große Nationalfest der Deutschen, das Schillerfest, gefeiert wurde. Hier wurde das Fest zu einem kosmopolitischen. Vertreter aller Nationen, aller Stände überfüllten den Cirque de l’impératrice. Die Begeisterung für unser schönes Vaterland, durch deutsche Rede und deutsche Klänge gehoben, ergreift auch die Fremden. Eine schöne Erhebung liegt auf allen Gesichtern, es schwirrt und summt durch den kolossalen Raum. Plötzlich richten sich alle Operngläser auf einen Punkt. „Dawison – das ist er,“ geht es flüsternd durch den Saal – ein förmlicher Beifallssturm empfängt ihn. Er hatte sich bestimmen lassen, den dritten Act des Don Carlos vorzulesen. Bis in die fernsten Ecken dringt sein Wort, alle Gemüther mächtig ergreifend. Man hört nicht mehr athmen, bei der Unterredung des Königs mit dem Marquis Posa nur schlägt zeitweilig die Begeisterung durch, bei den Worten aber: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ – da dröhnt heller Jubel durch das Haus.

Alfred de Vigny, der berühmte Akademiker, fällt nach dem Schluß dem Künstler um den Hals: „Ah, que votre patrie est heureux d’avoir un si grand tragédien!“ – demselben, den wir als polnischen Schreiber an der Erlernung des Deutschen verzweifeln sahen. Damals ein Knabe, durch nichts bedeutend, als durch sein Genie und seinen Ehrgeiz, heute ein Mann, dessen Name unter den berühmtesten der Künstlerwelt genannt wird!

Die Aufgabe, die sich Dawison gestellt, läßt sich in wenigen Worten charakterisiren. Sein Bestreben ist: die auf der Bühne verloren gegangene Wahrheit wieder zu Ehren zu bringen. Man hatte im deutschen Theater verlernt zu sprechen; hohles Pathos und Schönrednerei machten sich breit, wo Shakespeare „der Natur gleichsam einen Spiegel vorzuhalten“ befiehlt. Dawison ist bei aller Poesie der Auffassung, bei aller künstlerischen Durchführung seiner Aufgaben, stets wahr, und – die Hauptsache – er wirkt durch die einfachsten Mittel.

Wie er spricht und wie er lacht – wie er bittet und wie er herrscht, das kann man nur von ihm selbst erfahren. Um seine Proteusnatur zu kennen, müßte man ihn in allen seinen Rollen, die er spielt oder gespielt hat, gesehen haben. Die auf unserm Bilde dargestellten Köpfe sind aus jener großen Zahl auf gut Glück herausgegriffen. In jeder Rolle ein Anderer. Wer erkennt in dem altervertrockneten, gutmüthigen Kanzlisten Leberecht Knabe den übermüthigen Benedict aus „Viel Lärm um Nichts“, wer in Franz Moor von heute den Falstaff von gestern? glaubst Du, daß Narciß und Oedipus sich in einer Person vereinigen können, und Ricaut de la Marlinière und Hamlet, und der aalglatte Perin und König Lear, Mercutio und Richard III.?“

Ein seltenes Gedächtniß kommt Dawison zu Hülfe. Er lernt nicht seine Rolle, sondern das ganze Stück und bedarf des Souffleurs nur wenig. Der Schauspieler giebt es nicht viele, welche ein so reiches Repertoir haben, wie er – in dem Zeitraume von 25 Jahren hat er über 550 verschiedene Rollen gespielt. Und doch findet er noch immer Zeit für sich und seine Freunde, denen er, unterstützt von einer anmuthigen Gattin, seine Häuslichkeit zu einem reizenden Aufenthalte zu machen weiß. Dawison hat sich vor kurzem zum zweiten Male verheirathet, und neben dem Genius der Schauspielkunst waltet in der kleinen Villa an der Chemnitzerstraße nun auch die Muse des Gesanges.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_007.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)