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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die Kunstmethoden der Londoner Langfingerei.
Ein modernes Industriebild.
2.

Handwerkszeug braucht der Taschendieb gewöhnlich nicht. Seine fünf oder je nach Befinden zehn gelenken Finger machen ihm die Beihülfe besonderer Geräthe und Instrumente entbehrlich. Höchstens nimmt er einmal zu einem scharfen Federmesser oder einer feinen Scheere seine Zuflucht, wo sein natürlicher Apparat nicht ausreichen will. Nur zum Abzwicken der Uhrketten pflegt er wohl – doch die Hauptkünstler des Fachs verschmähen auch diese Unterstützung – eine gut beißende, feste Zange bei sich zu führen, die der Drahtzange gleicht, nur viel kleiner ist, so daß sie sich zwischen den drei Vorderfingern der rechten Hand bequem verstecken läßt.

Hause nun die Uhr, wo sie wolle, und sei sie noch so tief in Weste oder Beinkeid vergraben, sicher ist sie nirgends, sobald nur eine Kette, eine Schnur, ein Bandzipfel vorhanden, woran sie hängt. Mit einer Geschwindigkeit, die selbst einen Bosco meistert, fährt die leise Hand des Gauners an dem haltenden Metalle oder Band oder Faden nach dem Neste des glänzenden Vogels hinunter oder hinauf, und im Augenblicke ist’s geplündert. Blos das Proletariat, der verkommene Janhagel und die schüchternen Anfänger, die armen Schlucker der edlen Gesellschaft vergreifen sich an silbernen Taschenuhren; der „respectable“ Pickpocket, der auf Standesehre hält, erachtet solchen Erwerb unter seiner Würde und wendet sich verächtlich von einem Opfer ab, das sich mit so plebejischem Zeitmesser schändet. Die goldene Uhr ist allein seiner Distinction gemäß, und wo er solche Beute wittert, da läßt er wohl einmal auch seine gewöhnliche Vorsicht bei Seite. Mit festem Griffe packt die linke Hand den kostbaren Fang, ihr Daumen preßt sich auf den Knopf, durch welchen der Ring gezogen ist, von dem Schnur oder Kette ausgehen, während Daumen und Zeigefinger der rechten Hand diesen Ring halten. Ein blitzschnelles Drehen der beiden Hände nach entgegengesetzter Richtung, ein Ruck, und der Ring zerbricht, oder der Knopf windet sich ab, oder – wie es zumeist der Fall ist – der kleine Nagel, der diese beiden verbindet, zieht sich aus, und die Uhr wird frei. Das Alles ist das Werk einer Secunde, und so fest der Griff auch war, ebenso leise löste er seine Aufgabe, kein Klirren, kein Kritzeln, nicht der Schatten eines Klanges verräth, was vor sich geht.

Freilich haben die routinirtesten Gauner ausgesagt, daß ihnen von hundert dergleichen Attentaten im Durchschnitte immer erst zwanzig gelingen! Störungen, Gefahren, Zwischenfälle kommen ihnen ja oft, wo sie dieselben am mindesten berechnet hatten, und gar manchmal gilt es, sich hurtig in Sicherheit zu bringen, ehe die Arbeit noch halb gethan ist und bevor der Gauner Zeit hat, die schon glücklich aus ihrem Verstecke bugsirte Uhr wieder an ihrem rechtmäßigen Orte zu bergen. Wenn man daher plötzlich zu seinem Erstaunen gewahrt, daß die Uhr außerhalb ihres Behälters sich in kühnen Luftsprüngen und Schwingungen versucht, so weiß man, was die Glocke geschlagen hat, und mag die gleichsam neugeschenkte Gabe nur um so inniger an sich fesseln.

Neulich Nachts ging ich in etwas später oder früher Stunde, wie man will, mit einem deutschen Landsmanne aus dem Café chantant am Leicestersquare nach Hause. Ein prächtiger Mondschein lag auf dem jetzt stillen Häusermeere von London; wir nahmen daher einen Umweg durch die Palaststraße von Pall-Mall, dessen Clubfaçaden in dem Silberlichte, welches ihre reiche Architectur umfloß, einen zauberhaften Effect machten. Mit einem Male stieß mich mein Begleiter an. „Da, sieh nur den Mann dort drüben an der andern Häuserreihe! Ob das ein Detective (Mitglied der geheimen Polizei) ist, der uns für ein paar Strolche nimmt, welche auf Arbeit ausziehen? Denn er belauert uns fortwährend und hält immer gleichen Schritt mit uns. Ich hab’ ihn schon bemerkt, als wir um die Ecke von Haymarket bogen, und von da an hat er uns nicht mehr aus den Augen gelassen.“

Ich wurde aufmerksam und beobachtete nun meinerseits den unheimlichen Gesellen. Wir lenken in St. James Street ein, er that’s auch. Da schlug die Glocke des alten verräucherten Königsschlosses; ich wollte nach meiner Uhr sehen – denn es war hell wie am Tage – sie war ihrer Behausung entschlüpft und erfreute sich, an ihrer Gummischnur lustig über die Weste baumelnd, gleich uns der schönen Nacht. Jetzt war das Räthsel von unserm geheimnißvollen Mitwanderer gelöst: es war ein auf eigene Faust wirkender Wire (die active Person beim Taschendiebstahl), der mich vergeblich zu erleichtern gesucht hatte – wo, darüber hatte ich durchaus keine Vermuthung, wahrscheinlich aber war die Attake schon beim Ausgang aus dem besuchten Kaffeehause geschehen – und nun auf einen günstigern Moment lauerte, um sein Ziel zu erreichen. So wie ich die Uhr in die Tasche steckte und mit meinem Freunde dem Burschen einen bezeichnenden Blick hinüber warf, verschwand er.

Ein anderes hübsches Attentat war vor Kurzem auf Mr. Simpson selbst gemünzt gewesen.

„Ich hatte,“ erzählte er mir, „meinen freien Sonntag und spazierte nach dem Nachmittagsgottesdienste“ – Mr. Simpson ist ein guter frommer Brite und regelmäßiger Kirchengänger, sobald es der Dienst erlaubt – „in den Regentpark hinaus, denn es war ein Wetter, wie wir’s in London selten haben. Sie wissen, der Prinz-Gemahl hat es durchgesetzt, daß jetzt an Sonntagsnachmittagen im Regentspark und in Kensington-Gardens die Militärmusik dem Publicum etwas vorspielen darf. Der Rasenplatz, wo das Chor blies, war gedrängt voll Menschen, und ebenso Viele promenirten in der großen Allee auf und nieder. Ich trat zu den Zuhörern, und neben mich postirte sich ein feiner Herr, der an jedem Arme eine schöngeputzte Dame führte. Natürlich war ich in Civil, so daß Niemand wissen konnte, was für ein Geschäft ich treibe. Ich aber kannte meinen eleganten Nebenmann recht wohl; er hatte schon verschiedene Male im Arbeitshause von Clerkenwell seine Wolle gesponnen. Eben begannen sie einen neuen Marsch zu schmettern, und wie so Alles auf die Trompeten und Tam-Tams horcht, da spüre ich, daß mir Etwas leise unter die Rockflügel greift. Ich rühre mich nicht, um die Bande sicher zu machen, und erst im rechten Momente abfassen zu können. Und es glückte mir; ich erwischte das saubere Kleeblatt gerade, wie die eine der schönen Damen mein Taschentuch aus der linken und die andere meine silberne Tabaksdose aus der rechten Schooßtasche an’s Tageslicht befördert, und Cameraden von Scotland-Yards waren flink bei der Hand und führten die feinen Musikfreunde ab. Aber schlau war das Ding eingefädelt! Der Mann hatte, von rechts und von links, beide Daumen unter die Schöße meines Rocks prakticirt und so diese etwas in die Höhe gehoben, damit die Dirnen meine Taschen bequemer und unbemerkter ausleeren konnten. Hätte ich den Kerl nicht gekannt, so wär’ ich ausgeplündert worden, so gut wie der grünste Grünling, – und welche Blame das für einen Constablersergeanten, der bald zwanzig Jahre den Langfingern auf den Dienst paßt!“

Ein höchst sinnreiches Diebsstückchen gab mir der Inspector zum Besten. Nach der letzten Ernte hatte ein reicher Pächter aus Hampshire in dem bekannten Bankhause von Child dicht bei Temple Bar, dem Eingange zur City, eine bedeutende Summe in Geld eincassirt und in einem zu diesem Behufe angeschafften derben Lederbeutel in den Grund seiner geräumigen Hosentasche versenkt. Der stattliche Provinziale war nicht zum ersten Male in London; er kannte also die Gefahren, die seinem Schatze drohten, und nahm sich fest vor, sich nicht wieder einen Streich spielen zu lassen, wie es ihm bei der letzten großen Ausstellung passirt war, wo ihm ein britischer oder festländischer Fingerkünstler Uhr sammt Kette vom Leibe escamotirt und nur den Haken der letztern als traurigen Torso im Westenknopfloche übrig gelassen hatte. Während er somit dem Bahnhofe an der Waterloobrücke zustrebte – wohlweislich hatte er sein Geschäft bis kurz vor seiner Anfahrt aufgespart – that er die Hand nicht aus der Tasche, worin seine Sovereigns staken, und schritt im Bewußtsein seiner Unbesieglichkeit stolz dahin. Wer kann aber sein Erstaunen schildern und den Blick seiner überschwenglichen Verblüffung malen, als er plötzlich den so sorgsam behüteten Mammon nicht mehr unter seinen Fingern fühlt! Das ging denn doch über alle seine Begriffe von menschlicher und selbst von Londoner Gaunerleistungsfähigkeit! Indessen das Schicksal wollte ihm wohl. Ein naher Constabler hatte den einzeln Agirenden, einen alten Bekannten, bemerkt und, ehe sich derselbe mit seinem Raube aus dem Staube machen oder diesen bei Seite schaffen konnte, beim Kragen gepackt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 825. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_825.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2019)