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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Eile. Er dachte gar nicht daran, daß er die Thür seiner Kammer gar nicht verschlossen hatte, daß in derselben sich alle die mühsamen Ersparnisse langer arbeitsschwerer Jahre befanden, daß auf dem Tische aufgeschlagen die unvollendeten Contobücher lagen; er dachte an nichts weiter, als daß er Gudula aufsuchen, daß er sein Leben daran setzen wolle, um sie zu finden.

Es war eine klare sternenhelle Nacht, der Mond stand groß und glänzend am Himmel und begleitete mit seinem Licht den einsamen Wanderer, der in athemloser Hast dahin schritt, und warf seinen Schatten lang über die Straße, daß er vor Mayer Anselm dahin tanzte, als wär’s ein Begleiter, der noch größere Eile habe, die Gudula aufzufinden, als er selber. Mayer Anselm dachte daran, wie der Schatten Gudula’s das Letzte gewesen, was er von ihr gesehen, und ein schmerzliches Bangen krampfte sein Herz zusammen.

„Und wenn nun dies das letzte Sehen gewesen wäre?“ seufzte er, „wenn sie so von mir gegangen und mit ihrem Schatten wär’ auf ewig von mir geschieden?“

„Nein, nein!“ rief er ganz laut, „ich muß sie finden, ich muß sie wieder haben, denn –“

Warum stockte er? Warum blieb er auf einmal stehen, unbeweglich, wie angewurzelt an den Boden? Was war’s, das ihn auf einmal so in seinen Gedanken beschäftigte, daß er darüber sogar vergaß weiter zu gehen? daß er immer noch stand und zum Mond aufblickte, als sollte der mit seinem glänzenden Angesicht ihm Aufschluß geben über etwas ganz Unerwartetes, Ungeahntes, das er plötzlich in der Tiefe seines Herzens entdeckte? Was war’s, das plötzlich sein Antlitz verklärte und in seinen Augen aufleuchtete, wie mit einem göttlichen Feuer? Hatte er das Geheimniß endlich begriffen, das so lange in seiner Seele unerkannt von ihm selber geruht? Hatte die Angst, der Schmerz um Gudula endlich die Hülle zerrissen, welche die Gewohnheit des täglichen Umgangs, das stete Beisammensein, die gemeinsamen Erinnerungen der Kindheit um sein Herz gelegt?

Er hob wie in einer Ekstase die beiden Arme zum Himmel auf, und seine Lippen murmelten ein paar Worte, aber so leise, so geheimnißvoll, daß nur Gott und der Mond da droben sie verstand. Und dann, dann drang aus seiner Brust ein Schrei hervor, ein Jubelschrei, ein Wonnelaut. Die Memnonssäule war getroffen von dem ersten flammenden Strahl der Sonne, und sie tönte und sie sang!

Hastiger dann ging er vorwärts, getragenen, beflügelten Schrittes, dahin durch die schweigenden, öden Gassen, deren Stille durch nichts unterbrochen ward, als durch den eintönigen Gesang des Nachtwächters, der die erste Stunde nach Mitternacht ausrief, hinaus jetzt aus dem Thor, das die innere Stadt begrenzte und nach den neuen Stadttheilen führte.

„Da sind die neuen Anlagen! O Gott, Gott, nun gieb, daß ich das rechte Haus treffe, daß ich sie finde, sie rette, wenn sie in Gefahr ist, mit ihr sterbe, wenn sie sterben will!“

Weiter nun stürzte er in athemloser Eile, vorüber an den Villen, die schweigend, öde, wie große schwarze Särge dalagen, über welche die Mondstrahlen ein silbernes Leichentuch webten. Vorüber an ihnen allen, die keine Bedeutung für ihn haben. Nur die letzte Villa, die ist es, die er sucht.

Und da ist die letzte Villa, und da steht er vor ihr, keuchend, athemlos, und schaut sie an mit tödlichem Schauer im Herzen, denn auch sie liegt so still und öde da, mit dunklen Fenstern, schweigend, vereinsamt.

„Wo ist Gudula? Gott meiner Väter, wo ist Gudula! Ich muß es wissen, ich muß sie finden, und sollte ich die ganze Welt aus dem Schlaf aufrütteln.“

Und er reißt an der Hausklingel, stürmisch, ohne Aufhören, bis endlich das kleine Fenster neben dem Hauptthor geöffnet wird, und eine wüthende, donnernde Männerstimme fragt, was dieser Lärmen zu bedeuten habe, und wer sich unterstehe die Nachtruhe zu stören.

„Ich will wissen, ob Gudula noch in der Villa ist,“ ruft Mayer Anselm mit trotziger Stimme.

„Gudula, wer ist Gudula?“ fragt der Portier mürrisch.

„Gudula, die Tochter des Baruch Schnapper, die Nätherin der Gräfin von Tettenborn! Sie ist heute Abend hierher gegangen, um Arbeit abzuliefern, und sie ist nicht wieder heimgekehrt. Sie muß also hier sein, und ich komme, sie zu holen.“

„Unsinn! Sie ist hier gewesen, und wieder fortgegangen! Glaubt Ihr etwa, daß die Frau Gräfin eine Judendirn’ als Gast würd’ bei sich behalten? Wer weiß, wo die sich herumtreibt! Geht nach Haus, sie wird vielleicht schon vom Nachtwächter aufgegriffen und heimgebracht sein.“

Und der Portier wollte mit einem knurrenden Fluch das Fenster wieder zuschlagen, aber ein kräftiger Arm stemmte sich dazwischen, und eine vor Zorn bebende Stimme sagte: „Wenn ich Euer Antlitz sehen könnte, so solltet Ihr meine Faust auf Eurem Munde fühlen, der so erbärmliche Wort’ gesprochen. Ich komme morgen bei Tag wieder, und wehe Euch, wenn Ihr es wagt noch einmal solche nichtswürdige Verleumdungen zu sprechen! Aber jetzt sollt’ Ihr mir sagen, was aus der Gudula geworden ist, oder ich schreie um Hülfe, und bringe die ganze Nachbarschaft in Aufruhr, und hole die Stadtwache herbei, daß sie die Villa durchsuche. Denn die Gudula ist hierher gegangen, und sie ist nicht wieder heimgekehrt. Ihr müßt uns also Auskunft geben! Ihr müßt wissen, was aus ihr geworden ist!“

„Und Ihr, Ihr seid verrückt, daß Ihr solchen Unsinn verlangen könnt,“ scheie der Portier wüthend. „Fehlt auch noch, daß ich auf alle Nähmamsells achten müßt’, die hierher kommen und Arbeit abliefern. Aber diesmal weiß ich’s zufällig ganz gewiß, daß das Mädchen, die Judenkönigin schön Gudula, wieder fortgegangen ist. Es traf sich gerad, daß die Frau Gräfin fortfahren wollt’, und so kam sie mit der Gudula zusammen die Treppe herunter, und ich hörte es selbst, wie die Frau Gräfin gar freundlich zu der Gudula sagte: „Wenn Du die Blumen liebst, mein Kind, so erlaube ich Dir, in den Garten zu gehen und Dir einen Strauß zu pflücken. Du kannst dann nachher durch die kleine Pforte, die hinten in der Gartenmauer sich befindet, hinaus gehen, weil das ein näherer Weg ist.“ Und so ging denn die Gudula auch in den Park hinunter und ist durch die hintere Gartenpfort’ hinaus gegangen. Das ist Alles, was ich weiß, und jetzt scheert Euch Eurer Wege, und wenn Ihr Euch unterstehen solltet, noch einmal wieder zu kommen, so laß ich die beiden Hunde los, und dann mögt Ihr sehen, wie Ihr mit ihnen fertig werdet.“

Eine mächtige Faust drängte Mayer Anselm’s Arm zurück und schlug das Fenster klirrend zu.

Einen Moment stand der junge Mann betäubt, rathlos da. Was sollte er thun, was beginnen? Wo konnte er die Verlorne suchen? Wohin jetzt seine Schritte wenden?

Durch den Garten war sie gegangen! Nicht auf dem gewöhnlichen Wege war sie heimgekehrt! Er durfte das also auch nicht thun. Er mußte sie suchen auf dem Wege, den sie eingeschlagen hatte. Es kam Alles darauf an, daß er diesen Weg ausfindig machte, daß er die Pforte entdeckte, die aus dem Park hinausführte.

Er rannte um die Villa herum nach der Hinterseite derselben, wo der Park sie begrenzte. Eine hohe Mauer, oben mit eisernen Spitzen gekrönt, schloß den Garten ein. Vorsichtig schlich er an derselben hin.

„O Mond, Mond, jetzt sei barmherzig, jetzt leuchte hell und klar, jetzt wirf keinen Schatten auf die Mauer!“

Der Mond ist barmherzig, er beleuchtet jeden Stein, jede Fuge in der Mauer, – er beleuchtet jetzt auch die kleine braune Pforte, die da ganz am Ende sich befindet.

Er hat sie gefunden, die Gartenpforte. „Das also ist der Weg, aus welchem Gudula dahingegangen! Aber ist sie ihn auch gegangen? Hat sie auch wirklich den Park schon verlassen?“

Und wie ein Blitz fuhr es ihm durch die Seele, daß Gudula ihrem Vater gesagt, es befände sich im Park ein Pavillon, groß genug, daß eine ganze Familie darin wohnen könne.

Wenn Gudula vielleicht in diesem Pavillon wäre? Wenn man sie dahinein gelockt und sie dort festhielt? War nicht der Landgraf ein Bekannter der Gräfin Tettenborn? Hatte Gudula ihn nicht dort gesehen? Ihn, den bekannten Roué und Wüstling, der Gudula’s Bildniß gekauft hatte? Und konnte man das Bildniß sehen, ohne das Original zu lieben?

Ein dumpfer Schrei der Wuth drang von seinen Lippen, und er rüttelte mit ungestümer Gewalt an der Pforte. Sie gab nach, der Drücker des Schlosses sprang aus der Feder, die Thüre that sich auf. Er trat ein in den Garten.

Eine Allee, an beiden Seiten dicht mit Gebüsch eingefaßt, lag vor ihm, er ging sie hinauf mit festen Schritten, nach allen

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