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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Meine Geschäfte waren bald abgethan, und ich eilte zu Jörn, der mich in einem Wirthshause erwartete. Finsteren Angesichts saß der Biedermann da. Er hatte ein Zeitungsblatt in der Hand und starrte wie versteinert darauf. Kaum hörte er meinen Gruß. Ich nahm das Blatt, um mich zu überzeugen, was Jörn so tief erschütterte. Aber auch ich war sprachlos vor Entsetzen! Der deutsche Bund verlangte, daß wir die Waffen strecken und den Bundestruppen, Oesterreichern und Preußen, die sich bereits auf unangefochtenem Marsche nach Holstein befänden, die Schlichtung unserer heiligen Sache sowie die Besetzung des Landes bis an die Eider überlassen sollten.

Das war freilich eine Nachricht, die Einen von Sinnen bringen konnte! Jörn verharrte in seinem Schweigen, und so sehr ich mich auf einem längeren Spaziergange durch die Festung auch bemühte, ihn aufzuheitern, – es wollte mir durchaus nicht gelingen. Die vorgerückte Zeit mahnte endlich zur Rückkehr. Es war halb sechs Uhr geworden, als wir Rendsburg verließen. Jörn fuhr wieder langsam bis zur äußersten Feldwache, dann aber schneller, um an der gefährlichsten Stelle abermals im Galopp vorüberzujagen.

Noch waren wir eine halbe Stunde außerhalb der Feldwache, als er plötzlich die Pferde durch einen kräftigen Riß zum Halten brachte. Mäuschenstill standen die Thiere, als hätten sie eine Ahnung, welche Gefahr uns bedrohte. Es war inzwischen stockdunkel geworden, aber Jörn’s scharfes Auge hatte sich doch nicht täuschen lassen. Er hatte sich gebückt und deutete mit der Peitsche vor sich hin. Ich richtete mich hinter ihm im Wagen auf und sah nun auch, wie sich etwa fünfzig Schritte vor uns mehrere Gestalten bewegten. Anfangs schien es, als marschirten sie gerade auf uns los. Die Pferde blieben ruhig wie zuvor. Näher und näher kamen die Gestalten, und jetzt erkannten wir an den hochgetragenen Gewehren, daß es eine feindliche Schleichpatrouille war. Das Herz klopfte mir hörbar, denn ich hatte von Rendsburg aus Befehle mitgebracht, die mit mir unbedingt in Feindeshand gefallen wären. Doch es sollte bei dem Schrecken bleiben. Die aus vier Mann bestehende Patrouille zog sich links über den Weg, und bald verschwand eine Gestalt nach der andern im Dunkel der Nacht.

Als wir nichts mehr wahrnehmen konnten, schien es Jörn an der Zeit zu sein, das Weite zu suchen. Mit einem tüchtigen Peitschenhiebe setzte er die Pferde in Bewegung, mich aber drückte er, fortwährend auf die Gäule loshauend, in den Wagen zurück. Er hatte richtig geahnt, daß der Feind, wenn er das Rollen unserer Räder hörte, uns eine kleine Begrüßung nachsenden würde. Kaum zogen die Pferde an, so folgten uns auch schon zwei Kugeln, die pfeifend über das Fuhrwerk hinwegflogen. Im Carriere erreichten wir nach kurzer Zeit die erste Feldwache wieder. Abermals verdankte ich also dem treuen Jörn Jäger meine Rettung!

Hatte er auch heute so eine rechte Herzenslust gestillt, indem ihm nichts größere Freude bereiten konnte, als dem Feinde einen Possen zu spielen, so war er darum doch nicht aufzurütteln aus seinem Trübsinne. Gleichgültig ließ er den Pferden ihren Lauf und saß gedankenvoll und schweigend auf dem Vorderbrete des Vehikels.

Endlich waren wir an Ort und Stelle. Mit Thränen im Auge, doch wortlos drückte mir Jörn die Hand zum Abschiede. Ich vermochte es nicht, ihn zu trösten, beschloß aber, ihn morgen früh wieder aufzusuchen.

Bei meiner Ankunft fand ich Jörn beschäftigt, seine Aalkörbe aufzunehmen. Er legte sie in den Kahn, um sie nicht mehr auszuwerfen. Wir fuhren hinüber zur traulichen Jägerwohnung. Wie hatte ich mich dort sonst so behaglich und heimisch gefühlt! Heute war Alles in stille Trauer versunken. Schweigend saßen wir stundenlang im Zimmer. Kein heiteres Wort unterbrach die feierliche Ruhe. Jörn, der ehedem seine Gäste mit seltenem Humor zu unterhalten wußte, hatte heute nur Seufzer, welche von seiner tiefen Niedergeschlagenheit kündeten. Ganz ähnlich vergingen die folgenden Tage. Jörn wurde immer einsylbiger und düsterer.

Schon setzten sich die einzelnen Truppentheile in Bewegung, um das Material abzugeben und aufgelöst zu werden oder Cantonnirungen in der Umgebung von Rendsburg zu beziehen. Wohl war uns Allen das Herz gewaltig schwer, allein in dem cameradschaftlichen Lagerleben, das sich uns noch einmal auf kurze Zeit erschloß, wurde dennoch dann und wann vergessen, was uns drückte, und mit der Elasticität der Jugend noch manche heitere, selbst fröhliche Stunde verbracht. Die nächsten Wochen schon sollten uns ja in alle Winde verstreuen, hinausjagen in das Exil, in die freudlose Fremde. Also wollten wir unser letztes Zusammensein noch nach Möglichkeit ausnützen und genießen.

Die alte Lager-Tagesordnung begann wieder. Ihren Glanzpunkt bildet das Mittagsmahl, trotz des Spätherbstes noch manchmal im Freien genossen. Ein großer Wasch- oder Braubottich, den man glücklich aufgestöbert hat, dient der Compagnie zum Kessel, und Rindfleisch mit Grütze oder Graupen müssen das stehende Diner herstellen.

Zum Glück war an Rindfleisch kein Mangel, aber so weltberühmt unsere holsteinischen Ochsenstücke sonst sind, die uns gelieferten Rationen machten ihrem Ursprunge keine große Ehre. Der Knochen gab es immer mehr, als der eßbaren Theile; deshalb hatten wir, um der Gerechtigkeit ihr Genüge zu leisten, das Abkommen getroffen, die Fleischportionen ausrathen zu lassen. Von jeder aus zehn Mann und einem Unterofficier bestehenden Abtheilung mußte sich einer umdrehen; der Unterofftcier spießte eine Fleischration auf eine Gabel und frug dann den uns den Rücken Zukehrenden, wer der Eigenthümer des Fleischstückes werden sollte, bis jeder sein Loos gezogen hatte.

Unser Bild, das der Stift eines Cameraden gezeichnet, führt ein solches Felddiner vor Augen, so wie wir es im Sommer auf frischem, grünen Rasen einzunehmen pflegten. Im Vordergrunde geht eben das geschilderte Ausrathen vor sich. Freilich passirt’s hier ebenso, wie im Leben überhaupt: der dem Rathenden zunächst Sitzende macht allerlei Anstrengungen, der Gerechtigkeit ein Schnippchen zu schlagen und sich auf Kosten der Cameraden in den Genuß von Extravortheilen zu setzen.

Doch der Befehl zu unserm Rückmarsche ließ nicht lange auf sich warten. Das war für mich einer der traurigsten Tage meines Soldatenlebens, und im Hause Jörn Jäger’s war es gar todtenstill. Nur Stina’s Schluchzen unterbrach zeitweilig das Schweigen. Ich selbst konnte mich der Thränen nicht erwehren. Jörn war in der kurzen Zeit des Kummers um sein geliebtes Vaterland sichtbar gealtert. Sein Haar schien mir grauer geworden zu sein, und die Wangen waren von tiefen Furchen durchzogen. Um sein Revier hatte er sich kaum noch gekümmert. Oft ging er wochenlang nicht aus dem Hause.

Die unglückselige Abschiedsstunde schlug. Von Meggerdorf marschirte unsere Mannschaft durch das Moor bei Jörn’s Hause vorüber auf Rendsburg zu. Der Wackere hatte uns mit seinem Kahne erwartet und fuhr uns nach einander hinüber. In seiner Wohnung stand für uns ein letztes Abschiedsmahl gerüstet. Ich aber konnte keinen Bissen hinabbringen. Hatte doch auch Keiner von Allen hier so glückliche Tage verlebt und den trefflichen Jörn Jäger so gut kennen gelernt als ich! Desto vortrefflicher schmeckte es aber dem guten Preußen, der zum letzten Male von den köstlichen geräucherten Aalen schmauste.

Als wir aufbrechen wollten, zog mich Jörn in sein Zimmer. Aus alten Tagen besaß er eine merkwürdige Repetiruhr, sein teuerstes Andenken, wie er mir selbst oft sagte. Nassen Auges griff er in die Tasche. Er drückte mir diese Uhr in die Hand, fiel mir um den Hals und stotterte mit halb erstickter Stimme: „Vergitt’ mi un uns man nich to bald, mien Söhn!“[1] Mit größter Mühe nöthigte ich ihm sein Kleinod wieder auf. Erst nachdem ich ordentlich bös zu werden drohte, gab er nach und steckte die Uhr wieder ein. Noch ein Kuß, ein Händedruck dem guten Jörn, der weinenden Stina und ihrer Mutter – und dann ging es fort – fort in die weite Welt.

Lange winkten sie mir Alle noch nach, bis ich ihnen endlich von einem erhöhten Punkte mit meinem weißen Tuche den letzten Gruß zuwehte. Das niedliche Jägerhaus war meinen Augen entschwunden. Ich habe seitdem Jörn und seine Familie nicht wiedergesehen.

Lebst Du noch, alter braver Jäger? Oder wächst schon längst Gras auch über Deinen Gebeinen?

Schläfst Du bereits den ewigen Schlaf, möchten dann die Worte, die Dir Einer gewidmet, dem die Feder nicht das gewohnte Rüstzeug ist, dazu beitragen, daß Dein Name fortlebe in der Geschichte unseres unglücklichen Vaterlandes, für das Du einst so viel gethan hast! Lebst Du selbst aber noch, Du biedrer Patriot, dann halte Deine Büchse bereit. So Gott will, ziehen wir für Volk und Vaterland und mit einem jubelnden Hurrah auf unsern Herzog Friedrich bald wieder zusammen auf die – Dänenjagd.

v. G.

  1. Vergiß mich und uns nur nicht zu bald, mein Sohn.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_791.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)