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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Mutter in’s Bett gebracht, und mein Vater ist auch hier gewesen, aber er hat gesagt, es wär’ nichts zu thun, und ich solle nur da sitzen und beten, bis sie ganz still geworden wär’.“

„Aber sie wird nicht ganz still werden!“ schrie der Knabe verzweiflungsvoll. „Sie wird wieder sprechen, und die Augen wieder aufthun und mich wieder anschauen. Mutter, Mutter! so höre mich doch! Der Mayer Anselm ist wieder da, und er hat Geld mitgebracht, viel Geld, und er kann Dir holen, was Du irgend nur essen magst. Ach, so sieh mich doch an, meine liebe Mutter, lieg nicht da mit verschlossenen Augen, hab’ Erbarmen mit mir! Das Herz in der Brust wird mir zerspringen vor Jammer, wenn Du noch länger so daliegst. Mutter, Mutter! thu’ die Augen auf, sprich zu mir.“

Und sieh! Die herzzerreißende Klage des Knaben hatte es vermocht, den entflatternden Geist der Sterbenden noch einmal in seine Hülle zurückzurufen, das mit den Todesqualen ringende Mutterherz begann wieder zu schlagen bei der flehenden Stimme ihres Kindes.

Sie schlug die schweren Augenlider langsam wieder auf, sie schaute mit einem Blick voll Liebe empor in das schmerzzuckende Angesicht ihres Sohnes, dessen Thränen so heiß und brennend auf ihre kalte Stirne niederfielen, als wollten diese glühenden Tropfen sie wieder zum Leben anregen; ihre Lippen, welche vorher im Krampf des Todes sich fest aufeinander gepreßt hatten, öffneten sich jetzt, sie begannen leise unverständliche Worte zu flüstern.

Der Knabe aber unterdrückte sein Schluchzen und Weinen, er drängte mit der Kraft des Willens die Thränen selbst in seine Augen zurück, er hielt den Athem an und horchte mit hochklopfendem Herzen auf die Worte, welche wie Geisterhauch von den Lippen der Sterbenden schwebten.

Auf einmal richtete sie sich mit einer raschen, zuckenden Bewegung empor und schaute mit großen, weitgeöffneten Augen, mit einem Ausdruck unaussprechlicher Liebe auf ihren Sohn hin.

„Mutter, liebe Mutter!“ flüsterte der Knabe; „wenn Du mich lieb hast, wirst Du bei mir bleiben? Ach, geh nicht von mir, laß mich nicht allein!“

Die Liebe, die große starke Mutterliebe, gab ihr die Kraft, ihre Arme emporzuheben, sie fest um den Nacken ihres Kindes zu schlingen, ihn an ihr Herz zu drücken, so innig, als wollte sie nimmer von ihm lassen, als wollte sie ihn ewig da geborgen halten in dem Schutz ihrer Mutterbrust.

„Lebe wohl!“ rief sie mit lauter Stimme[WS 1], „lebe wohl, mein Sohn. Bleibe treu dem Gotte Deiner Väter, treu Dir selber und –“

Mehr sagte sie nicht, ihre Arme lösten sich von seinem Halse, ihr Haupt sank zurück, ein letzter Seufzer rang sich von ihren Lippen. Dann war Alles still.

„Sie ist todt! Sie ist todt!“ schrie der Knabe und warf sich auf seine Kniee nieder und preßte die Hand der Mutter in der seinen, und schaute sie an mit Blicken voll unaussprechlichen Jammers und zugleich doch voll heiliger Scheu; er wagte nicht zu sprechen, nicht zu weinen und zu klagen, denn er sah, wie ein Strahl der Verklärung über das Angesicht der Todten dahin leuchtete, und wie das große Geheimniß des Todes oder des ewigen Lebens sich offenbarte in diesen erst wechselnden und dann erstarrenden Zügen.

Aber dann, als es erstarrt war, das Angesicht seiner Mutter, als der letzte Strahl des Lebens auf ihm erblaßt war, dann kam das Bewußtsein dessen, was er verloren, wieder über den Knaben, und er weinte und jammerte laut.

„Ich bin allein, ganz allein,“ das war der große Schmerzensschrei, der sich aus seiner Brust hervorrang. „Ich hab’ Niemand, der mich lieb hat, Niemand auf der ganzen großen Welt!“

„Mayer Anselm, ich hab’ Dich lieb!“ rief da eine weiche zitternde Stimme neben ihm, und zwei zarte keine Arme schlangen sich um seinen Nacken, und zwei weiche duftige Lippen preßten sich auf seine Wange. „Sag’ nicht, daß Du allein bist, Mayer Anselm, denn die keine Gudula ist bei Dir und sie wird immer bei Dir bleiben! Ich hab’ Dich lieb, Mayer Anselm.“

Er legte seine beiden Arme um ihren Hals und schaute sie an unter Thränen lächelnd, dann neigte er seinen Kopf auf ihre Schulter und weinte bitterlich.




2. Schön Gudula.

Zwölf Jahre waren vergangen seit jenem Tage, da Mayer Anselm’s Mutter gestorben war. Zwölf Jahre waren vergangen. Sie waren so reich gewesen an großen Weltbegebenheiten, an Erschütterungen und Stürmen. Ein Krieg hatte sieben lange blutige Jahre die deutschen Lande mit Jammer und Elend erfüllt, er hatte Maria Theresia für immer ihr „geliebtes Schlesien“ genommen und es dem „bösen Manne“ dazugegeben, er hatte Preußen eine neue Provinz und seinem König Friedrich dem Zweiten den glorwürdigen Beinamen des „Großen“ verschafft. Die Lage von ganz Deutschland hatte sich umgestaltet in diesen zwölf Jahren, nur in der Judenstadt zu Frankfurt war Alles unverändert geblieben. Da waren an ihrem Eingang noch die beiden Pfeiler mit den schmutzigen eisernen Thorflügeln, da waren noch dieselben kleinen ärmlichen und düstern Häuser, in denen dicht zusammengepfercht die Juden, die armen Sclaven des Vorurtheils, die Gebrandmarkten der öffentlichen Meinung, wohnten. Da herrschte in den engen Gassen noch dasselbe wirre Durcheinander des Handels und Wandels, der lebhaften Unterhaltung der Nachbarn, die entweder neben einander standen vor den Thüren, oder quer über die Straße hinweg miteinander sich unterhielten. Da hörte man noch das Lärmen und Schreien der Kinder, die frohgemuth auf den düstern Straßen spielten und mit ihrem frischen Lachen die alten Häuser durchtönten.

In der Judenstadt hatten diese zwölf Jahre nichts verändert, nur das Alter hatten sie angezeichnet auf den Stirnen der Männer und Frauen, hatten aus den Kindern Jünglinge und Jungfrauen gemacht. Mayer Anselm war jetzt ein kräftiger stattlicher Jüngling von zweiundzwanzig Jahren, die kleine Gudula war jetzt eine Jungfrau von achtzehn Jahren, schlank und zierlich, mädchenhaft zart und königlich stolz zugleich. Die ärmlichen Gewänder flossen an ihrer Gestalt nieder, als wär’s ein Purpur, der ihre Glieder zierte, die schwarzen Haare, die in dicken Lockenbüscheln rings ihren Kopf umgaben, waren oberhalb der Stirn mit einem purpurrothen Band zusammengefaßt und bildeten da eine Art von Krone, die herrlich paßte zu ihrer breiten weißen Stirn, zu den flammenden Augen mit dem stolzen Mädchenblick, zu dem schönen Oval ihres edlen Angesichts, zu den durchsichtig bleichen Wangen und den kräftigen Purpurlippen. Ein Maler hatte sie gesehen, wie sie in ihrem einfachen und doch so zierlichen Costüm über die Straße dahinging, und von Erstaunen, von Entzücken erfüllt, war er ihr gefolgt bis in die Judenstadt, bis in das ärmliche Haus, in welchem sie mit ihrem alten Vater wohnte.

Gudula hatte ihren kühnen Verfolger mit einem Blick voll königlicher Verachtung gefragt, was er hier zu suchen habe im Hause ihres Vaters, aber das bescheidene demüthige Wesen des Künstlers hatte sie bald versöhnt, und mit der Erlaubniß ihres Vaters hatte sie eingewilligt, dem Maler zu einem großen Gemälde als Modell zu dienen. Anfangs hatte er die Absicht gehabt, das schöne Judenmädchen zu einer Judith umzuschaffen, sie darzustellen mit dem Haupt des Holefernes in der Hand, aber je mehr er ihre Schönheit erkannte, desto mehr sah er ein, das dieselbe keiner Decorationen, keiner Nebenattribute bedürfe, um zu wirken, und so hatte er Gudula gemalt, wie sie wirklich war, Gudula in ihrem ärmlichen Gewande, mit ihrer Krone von schwarzen Locken und dem feuerfarbenen Bande über derselben. Das Portrait war den Kunstfreunden in einem der großen Magazine auf der Zeil zur Ansicht ausgestellt gewesen, und ganz Frankfurt und alle Fremden, welche die alte Reichsstadt besuchten, hatten das schöne Gemälde bewundert, bis der junge regierende Landgraf Wilhelm von Hessen, der in dem nahen Hanau residirte, das Gemälde um hohen Preis an sich gekauft und es den Blicken der Bewunderer entzogen hatte.

Aber seitdem war das Original des schönen Portraits zu einer Berühmtheit geworden, und Jedermann in Frankfurt kannte es, und wenn Gudula über die Straßen dahinging, so riefen die Buben auf der Gasse ihr nach: „Da geht schön Gudula, die Judenkönigin!“

Und gar mancher vornehme Cavalier und gar mancher reiche Herr, der niemals sonst die schmutzige Judenstadt betreten, kam jetzt dahin, um schön Gudula aufzusuchen und unter dem Vorwand, mit ihrem Vater Geschäfte zu machen, der Tochter Schmeicheleien zu sagen.

(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Stimmer
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_772.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)