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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Fahnen umflatterten Gabentempels, als rauschende Musik die Ankunft der Thurgauer verkündete. An ihrer Spitze marschirte ein junger Mann von dreißig Jahren, mit schwarzem Schnurr- und Knebelbart und überhaupt unternehmendem Aussehen, den Stutzen, wie die Uebrigen, um die Schulter gehängt. Die Musik schwieg, der Zug hielt. Der junge Mann trat vor, stellte den Stutzen neben sich auf den Boden (ich meine ihn noch vor mir zu sehen) und begann in fließendem Deutsch, doch mit etwas romanischem Accent, zu sprechen. Seine Rede klang feurig und patriotisch. Er drückte seinen Stolz aus, ein Schweizer zu sein, und die Hoffnung, die Schweiz werde ihre Unabhängigkeit vertheidigen und ungerechte Zumuthungen zurückweisen, kommen solche woher sie wollen. Die Masse der gutmüthigen Schweizer war entzückt über diese Worte; die erfahrneren Staatsmänner jedoch nahmen sie kühler auf. Einer der Letztern, selbst aus dem Thurgau stammend, antwortete dem Redner: der Thurgauische Schützenführer habe durch die Annahme des schweizerischen Bürgerrechts den Beweis geleistet, daß er die Ehre, Republikaner und Schweizer zu sein, allen „Kronprätensionen“ vorziehe, und er zweifle nicht, daß derselbe im Falle eines fremden Angriffes als schweizerischer Artilleriehauptmann die schweizerischen Kanonen gegen die Feinde aufpflanzen werde. Die Antwort machte Sensation, am meisten aber bei dem jungen Neu-Thurgauer, der seine Unzufriedenheit darüber nicht verbergen konnte. – Wer war der Mann, daß von seinen Kronprätensionen gesprochen werden konnte? Allerdings konnte davon gesprochen werden. Trachtete dieser Mann ja, seit einem Todesfalle, der vor sechs Jahren zu Schönbrunn bei Wien ein junges Leben geraubt hatte, nach nichts Geringerem als einem Kaiserthrone! Hatte er ja erst vor zwei Jahren auf dem ehemals deutschen Vorposten Straßburg diesem Streben, wenn auch mit kläglichem Resultat, Nachdruck zu geben versucht! Flüsterte sich ja auf dem Schützenplatze zu St. Gallen Alles zu: Wo ist der Prinz? Habt ihr den Prinzen gesehen? Wird er wohl einst Kaiser werden?

Sonderbares Schicksal! In demselben Jahre hatte die Schweiz Gelegenheit, die Worte ihres Neubürgers zu erproben, und zwar um seinetwillen. Der Bourgeois mit Regenschirm und Galoschen („sein Haupt glich einer Birne“), der da saß, wohin der junge Prätendent gerne selbst gesessen wäre, verlangte dessen Auslieferung; die Schweiz aber pflanzte ihre Kanonen auf und rief: Quod non! Wir liefern keinen Bürger unseres Landes aus! Der junge Artilleriehauptmann richtete keine dieser Kanonen: er verließ das Land, um dem Streite ein Ende zu machen. Die guten Schweizer bewunderten seinen Edelmuth. Er aber vergaß die Eidgenossen und ihren Edelmuth und dachte nur noch an die Kronprätensionen. Theatralisch ließ er zu Boulogne einen jungen Adler fliegen und wanderte dafür prosaisch gleich einem Landstreicher in’s Gefängniß. Es ist bekannt genug, wie er in Ham aus- und in Paris einzog, wie er die Abstimmung einer Nation – dirigirte, den heiligsten Rechten des Volkes mit eiserner Strenge entgegentrat, diejenigen, die seinen Schwur halten wollten und ihn an seinen Eid mahnten, mit Kartätschen zusammenschmetterte, und endlich seinem einstigen zeitweiligen Vaterlande, dessen Bürgerrecht er mit Füßen getreten, die schützende Grenze im Südwesten durch die höhnische Annexion Savoyens, gegen dessen ausdrücklichen Volkswillen, lachend niederriß. Wie wird er enden, der einst verbannte, jetzt Europa commandirende kaiserliche Herrscher?

Welche Mannigfaltigkeit in diesen drei Verbannten! Welche Verschiedenheit in ihrem Geschicke! Erst der Republikaner, der im Vollgefühle des Wiedersehens seines neu befreiten Vaterlandes ruhig und glücklich endet, dann der legitime König, der lieber im Exil verborgen stirbt, als ein Jota von seinem göttlichen Rechte opfert, und endlich der vor Ehrgeiz brennende Kronprätendent, der gar kein Vaterland kennt, sondern nur einen Thron sucht und kein Mittel scheut, diesen zu erkämpfen oder zu – ercongressen! Welcher Stoff zum Nachdenken über die Launen des Schicksals – oder vielleicht nicht besser über das Gottesgericht der Weltgeschichte?

Otto Henne-Amrhyn.





Schwindel in Berlin. Wie in jeder großen Stadt, steht auch in Berlin der „Schwindel“ in vollster Blüthe, wenn er auch noch nicht den Höhepunkt wie in Paris, London und New-York erreicht hat. Mit der steigenden Bevölkerung hat auch die Zahl der häufigen Industrieritter in auffallender Weise zugenommen, und man kann ziemlich sicher auf hundert Menschen drei bis fünf Individuen rechnen, welche ihr Dasein auf Kosten der Moral und mit Umgebung des Landrechts oft in höchst angenehmer Weise fristen. Eine besonders gefährliche Classe bilden die sogenannten Agenten oder Commissionäre, welche sich mit dem Kaufe oder der Unterbringung von Wechseln beschäftigen. Wehe den jungen, leichtsinnigen Männern oder den armen Familienvätern, die von augenblicklicher Noth gedrängt in die Hände dieser meist ausgemachten Schwindler fallen! In den seltensten Fällen erhält man das Geld für den ihnen anvertrauten Wechsel, und Roß und Reiter sieht man niemals wieder; dagegen muß man am Verfalltage die ausgestellte Summe zahlen oder in das Schuldgefängniß wandern. Fast jede Woche sieht man einen oder den andern dieser sauberen Herren auf der Anklagebank figuriren, ohne daß sich das Publicum dadurch warnen läßt.

Eine andere Sorte des Schwindels repräsentiren die verschiedenen industriellen Gesellschaften, welche wie die Pilze über Nacht emporschießen und durch allerlei imponirende Namen die Welt zu täuschen suchen. So gründete vor nicht langer Zeit ein Herr Feuerböther, der später mit dem Criminalgericht in unangenehme Berührung kam, die „deutsche Nationalbank“, welche auf nichts weiter als auf eine großartige Prellerei abgesehen war. Eine andere Gesellschaft führte den Namen „Bank für Landwirthschaft, Handel und Industrie“, an ihrer Spitze stand ein Directorium und ein Verwaltungsranth, in welchem ein Baron von Estorff-Ziethen eine hervorragende Rolle spielte, bis der Concurs schon nach einem halben Jahre ausbrach und die armen Actionäre das Nachsehen hatten. Hierher gehören auch die Stifter einer neuen „Industrie- und Handelsakademie“, welche erst vor Kurzem auf der Anklagebank saßen und zu mehreren Monaten Gefängniß verurtheilt wurden. Wie das Programm wörtlich besagte, hatten diese nur die edle Absicht, „in die Jugend das Samenkorn neuer, den Anforderungen der Gegenwart entsprechender Industrie- und Handels-Principien zu legen und die inländische Industrie durch Eröffnung neuer Absatzquellen zu fördern“. Für eine Summe von 600 Thalern sollten die Zöglinge besagter Akademie nicht nur Wohnung, Beköstigung und Unterricht, sondern noch dazu die sichere Aussicht auf eine ihren Fähigkeiten angemessene, einträgliche Stelle erhalten. Doch das Alles war nur Nebensache und damit keineswegs die menschenfreundliche Absicht erschöpft, indem mit dieser Anstalt zugleich in’s Leben treten sollte. 1) ein Musterlager von Proben aller preußischen Fabrikate, 2) eine Tauschhalle, 3) eine Beschäftigungshalle, in der Jedermann lohnende Arbeit finden sollte; ferner verhieß das Programm Volksbibliotheken, Spar- und Speiseanstalten, Findelhäuser, Concurs-Verhinderungscassen, kurz die Lösung der ganzen socialen Frage. Natürlich verlangte ein so großartiges Unternehmen eine entsprechende Anzahl von Beamten, die gegen eine angemessene Caution von 200–600 Thalern eine Anstellung fanden, wobei sie sich jedoch verpflichten mußten, die eingezahlten Summen als Betheiligungs-Quantum stehen zu lassen. Nach einiger Zeit machte die Gesellschaft, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt, Bankerott, und die armen Leute waren geprellt.

Alle diese Unternehmungen beabsichtigen nichts Geringeres, als die Menschheit zu beglücken, den Handel zu heben, unbekannte Absatzquellen zu eröffnen, den Actionären eine glänzende Dividende zuzuwenden und vor Allen den Betheiligten einen angemessenen Credit zu verschaffen. Die Hauptsache ist der Prospect, der, auf feinstem Papier gedruckt, alle möglichen und auch unmöglichen Vortheile in Aussicht stellt. Um diesen Versprechungen mehr Nachdruck und Wahrscheinlichkeit zu geben, wird ein Verwaltungsrath ernannt, in welchem einige heruntergekommene Adlige mit vielversprechenden und hochklingenden Namen figuriren. Eben so nothwendig ist ein großartiges und mit höchster Eleganz eingerichtetes Geschäftslocal, um der Menge Sand in die Augen zu streuen. Der Besucher tritt in eine Reihe glänzender Zimmer, wo hinter den Schreibpulten von Mahagoni eine Anzahl junger Commis so thun, als wenn sie viel zu thun hätten, während sie gewöhnlich vor Langeweile nicht wissen, was sie beginnen sollen, und meist Romane aus der nächsten Bibliothek lesen, die jedoch augenblicklich verschwinden, wenn ein Kunde sich hierher verirrt. An ihrer Spitze steht ein älterer, ehrwürdiger Buchhalter mit goldener Brille, dessen Physiognomie und solides Aeußere ein unbedingtes Vertrauen einflößt, obgleich er nur ein alter, bankerotter, zu diesem Zwecke eigens ausgesuchter Schwindler zu sein pflegt. Endlich gelangt man, angemeldet von einem Bedienten in geschmackvoller Livrée, nach dem Allerheiligsten, wo uns der Director der Gesellschaft mit imponirender Würde und hinreißender Liebenswürdigkeit empfängt. Man kann sich in der That nichts komfortableres denken, als dieses kleine Arbeitscabinet; Sammtfauteuils, Chaise-longue, goldene Barokspiegel und vor Allen der große, feuerfeste Geldschrank mit seinen Kunstschlössern erwecken unwillkürlich Ehrfurcht und Vertrauen. Wer sollte da noch an Schwindel denken? Der Herr Director selbst im blauen Leibrock und mit feinster, blendend weißer Wäsche macht durchaus den Eindruck eines Ehrenmanns, sein ganzes Wesen athmet Solidität, und aus jeder Pore schwitzt förmlich Biederkeit. Er empfängt uns mit herablassender Miene und entwickelt eine wahrhaft bezaubernde Beredsamkeit, indem er uns die Vortheile seiner Bank mit bewunderungswürdiger Sicherheit auseinandersetzt. Dazu raucht er so seine Havanna-Cigarren, deren Duft uns lieblich in die Nase sticht, auch zieht er von Zeit zu Zeit seine goldene Dose hervor, aus der er uns freundlich eine Prise anbietet. Wer vermag da zu widerstehen? – Man nimmt eine und zuweilen auch mehrere Actien, träumt von goldenen Dividenden und erfährt nach einigen Monaten zu seinem nicht geringen Schrecken, daß über die Gesellschaft der Concurs ausgebrochen, daß der Herr Director das Weite gesucht und daß unsere Actien keinen Heller werth sind. Das nennt man „Berliner Schwindel“.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_767.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)