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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Sie haben unser Haus einschließen lassen?“

„Ja, Mademoiselle! Aus Kriegsrücksichten.“

„Es darf Niemand hinaus?“

„Ohne meinen Befehl nicht.“

„Würden Sie mir gestatten, das Haus zu verlassen?“

„Ihnen allein?“ fragte der Oberst rasch. Es war ein Gedanke schnell in ihm aufgetaucht.

„Eine Dame allein,“ antwortete ruhig meine Tante, „würde in der heutigen Nacht schwerlich dieses Haus verlasten dürfen.“

Der Oberst hatte einen Entschluß gefaßt. Er mochte ihm schwer genug geworden sein. Sein Blick hatte sich auf den verwundeten Sohn geworfen, dann auf meine Tante, die in ihrer klaren, ruhigen Haltung vor ihm stand, und deren blasses, schönes Gesicht dennoch die Angst ihres Innern nicht verbergen konnte.

„Mademoiselle,“ sagte er, „seien wir aufrichtig gegen einander. Sie wollen Jemanden aus diesem Hause führen, der mein Gefangener ist?“

Auch meine Tante hatte ihren Entschluß gefaßt, stolz und edel.

„Ja, mein Herr. Aber ist er Ihr Gefangener?“

„Er ist mein Gefangener.“

„So bitte ich Sie um seine Freigebung.“

„Sie bitten um etwas Unmögliches, Mademoiselle.“

Er warf einen Blick auf den Commandanten der Gensd’armerie. Meine Tante folgte seinen Augen. Sie würdigte zum ersten Male den verräterischen deutschen Edelmann ihres Blicks. Der Mann stand ruhig da, mit einer Stirn von Eisen, als wenn keines der Worte, die er hörte, ihn angehe. Die Augen meiner Tante hatten nur Verachtung für ihn. Sie wandte sich wieder zu dem Obersten.

„Mein Herr, ein braver französischer Officier darf sich nicht zum Werkzeuge eines Verräthers hergeben.“

Der Verräther zuckte auf. Das strenge, wettergraue Gesicht des Obersten wurde roth. Er warf noch einmal einen dunklen Blick auf seinen verwundeten Sohn, aber er hatte noch einmal einen schweren Entschluß fassen müssen.

„Mademoiselle, ich muß meiner Pflicht und meiner Ehre dienen. Es ist mir oft schwer und hart geworden; vielleicht nie schwerer, als in diesem Augenblicke; aber ich muß es auch jetzt. Ich kann nicht anders. Der Mann, von dem wir sprechen, ist mir einmal überliefert, vielleicht durch – ja, durch Verrath. Ich muß meine Pflicht erfüllen.“

„Und Ihre Pflicht ist, Herr Oberst?“

„Der Befehl des Kaisers lautet wörtlich an jeden Officier der Armee: Wo der Freiherr betroffen wird, wird er auf der Stelle erschossen. Auf der Stelle!“

Die Tante verhüllte ihr Haupt. Dann mußte auch sie, unwillkürlich, ihren Blick auf den verwundeten Sohn des Obersten richten. Der Oberst sah es.

„Mademoiselle,“ fagte er schmerzlich, „glauben Sie mir, nie, nie ist die Erfüllung meiner Pflicht mir schwerer geworden, als heute. Ich erscheine als ein Undankbarer in Ihren Augen –“

„Nein, Herr Oberst,“ unterbrach meine Tante ihn mit Würde. Dann wollte ihr das Herz doch brechen. „Herr Oberst,“ sagte sie, „er ist mein Verlobter!“

„Großer Gott!“ rief der Oberst. Auch er mußte sein Gesicht bedecken. „Ich kann nicht anders,“ sagte er dann leise. „Ich bin Soldat.“

Er gab dem Adjutanten einen Wink, zu gehen. Der Officier verließ das Zimmer, und meine Tante folgte ihm.

„Mein Herr, wohin gehen Sie?“ fragte sie ihn draußen.

„Meine traurige Pflicht zu erfüllen, Mademoiselle.“

„Jetzt gleich?“

„Es muß so sein.“

„Hier?“ rief die Tante.

„Draußen am Walde.“

Der Officier ging in den Hof, wo die Soldaten lagerten. Meine arme Tante stand einen Augenblick unschlüssig, wohin sie ihre Schritte wenden solle. Sie wollte zu der Wohnstube gehen, in der die gelähmte Großmutter lag; sie hemmte den Schritt.

„Wozu ihr die Qual der langen, einsamen Angst machen?“ sagte sie.

Sie stieg die Wendeltreppe hinauf und ging in den dunklen, schmalen Gang, der zu dem Thurmstübchen führte. Es war der schwerste Gang ihres Lebens, sie mußte sich Fassung erringen auf diesem schweren Gange, in der vollsten Hoffnungslosigkeit, und sie vermochte es. Sie trat in das Thurmstübchen. Der Verwundete schlief, denn er war nach ihrer Entfernung wieder schwächer geworden. „Ich sterbe doch!“ hatte er zu dem Verwalter gesagt. „Ich fühle es!“ Der Verwalter hatte ihn zu beruhigen gesucht. Er war erschöpft wieder eingeschlummert.

„Und welche Nachrichten bringen Sie, Mamsell?“ frug der Verwalter. „Ich lese in Ihrem Gesichte, es sind keine guten.“

„Es sind keine guten, Buschmann. Er wird erschossen, auf unbedingten Befehl des Kaisers. Keine Bitte half. In diesem Augenblicke werden die Gewehre für ihn geladen, und in wenigen Minuten wird der Adjutant des Obersten ihn zu seinem letzten Gange abholen.“

Der Verwalter hatte kein Wort.

„Zu seinem letzten Gange?“ sagte die Tante für sich. „Kann der Arme denn gehen? Sie werden ihn tragen müssen – tragen zu seinem Grabe, noch ehe er todt ist!“

Sie betrachtete den Verwundeten. Er lag in seinem Schlummer unruhig da, und doch so schwach und matt. In seinem Gesichte war kein Tropfen Blut, nur die Binde war blutig, die seine Stirn bedeckte.

„Wecke ich ihn?“ fragte sich meine Tante. „Bringe ich ihm sein Todesurtheil? Oder sollen die Fremden, die Feinde es?“

Sie beugte sich über ihn; sie legte ihr blasses Gesicht auf sein bleiches und küßte ihn – küßte ihn noch einmal. Er erwachte.

„Therese!“

„Kannst Du fliehen, Adalbert?“

„Nein – aber sterben!“

War es das Gefühl seiner Schwäche, oder hatte er seinen Tod in ihren Augen gelesen?

„Ja,“ sagte sie, „Du mußt sterben. Du bist verrathen, verloren, unrettbar verloren. Du, mein ewig, ewig geliebter Adalbert.“

„Ich sterbe in Deiner Liebe, meine Therese, so wollte ich ja.“

Er war gefaßt, trotz seiner Schwäche. Draußen im Gange wurden Schritte gehört.

„Sie kommen schon, mich abzuholen!“ sagte er.

„Ja.“

Der Adjutant des Obersten öffnete die Thür und trat in das Stübchen. Durch die geöffnete Thür sah man vier Carabiniers, die im Gange warteten. Der Verwundete richtete sich auf, Ehre und Stolz gaben ihm die Kraft dazu.

„Sie hier, Mademoiselle?“ fagte der Adjutant. „Wollten Sie nicht sich den schweren Schrecken ersparen?“

„Ich bleibe!“ sagte die Tante.

„Therese, gehe!“ bat der Verwundete.

„Soll ich Dich in dem letzten Augenblicke verlassen, Adalbert? Soll ich schwächer sein als Du?“

Der Verwundete schwieg. Auch der Adjutant sagte ihr nichts mehr. Er wandte sich zu dem Verwundeten.

„Mein Herr, auf Befehl des Kaisers –“

Der Verwundete unterbrach ihn.

„Ich kenne den Befehl Ihres Kaisers. Führen Sie mich ab.“

Er hatte sich aus dem Bette erhoben. Der Verwalter hatte ihm geholfen, dann wollte er ihm den Mantel umhängen, den er zu seiner Flucht mitgebracht hatte.

„Nein,“ sagte der Verwundete. „Ich will in meiner preußischen Uniform sterben. Ich sterbe ja doch einen ehrlichen Soldatentod, sterbe für mein Vaterland, das mir verziehen hat.“

Er war fertig zum Gehen.

„Und ich führe Dich,“ sagte meine Tante.

„Ja, auch Du hast mir ja verziehen.“

Er nahm ihren Arm, und sie führte ihn. Er konnte gehen. Ehre und Stolz und Liebe erhielten wunderbar seine Kraft. Der Adjutant schritt ihnen voran, und die vier Carabiniers folgten. Der Verwalter ging gesenkten Hauptes hinter ihnen her.

So schritten sie durch den schmalen, dunklen Gang, die Treppe hinunter, durch die Halle. Niemand begegnete ihnen auf dem Wege. Nur französische Soldaten standen hin und wieder auf Posten. Der Adjutant hatte es mit richtigem Gefühl so angeordnet. An dem Thore, das aus der Halle in den Hof führte, machten sie Halt.

„Nicht weiter, Mademoiselle,“ sagte der Adjutant. „Ich muß Sie bitten. Meine Befehle lauten so.“

Sie mußten sich trennen.

(Schluß auf Seite 742.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_740.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)