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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Das Octoberfest der deutschen Veteranen.
1.
Der Empfang der Veteranen – Ihr Einzug nach fünfzig Jahren – Im Schützenhause – Wiedererkennungsscenen – Der schlesische Landwehrmann – Jodel-Fritz – Einer, der bei Leipzig mitgearbeitet – Corporal Werner von der dritten Compagnie – Der Krankenplatz in der Peterskirche – Nach fünfzig Jahren nur ein Kranz – Die zehn Veteranen des Herrn Lampe.

Noch sind nicht drei Monate verflossen, seit in Leipzig das wahrhaft großartige dritte deutsche Turnfest gefeiert wurde, und schon wieder hat dieselbe Stadt in ihren Mauern ein Fest gesehen, das hier von ganz Deutschland begangen wurde, wenn auch nicht alle Gauen unseres Gesammtvaterlandes dem an sie erlassenen Aufrufe in gleicher Weise Folge geleistet hatten.

Es kann nicht die Absicht der „Gartenlaube“ sein, die Schilderungen des Festes und seiner einzelnen Scenen und Feierlichkeiten, die bereits die Spalten aller Zeitungen in reichlichem Maße in Anspruch genommen haben, in neuer Variation zu wiederholen; vielmehr will sie nur den Veteranen und den ihnen erwiesenen Ehren und Huldigungen einige Seiten der Erinnerung weihen.

Was lag bei diesem ersten Jubiläum der Völkerschlacht wohl näher, als eine Dankespflicht gegen die noch lebenden Kämpfer jener Tage zu erfüllen? Es erging daher an sämmtliche Veteranen, welche an jenem Befreiungskampfe Theil genommen haben, die Einladung, auch jetzt der Jubelfeier als liebe Festgäste beizuwohnen. An vielen Orten wurden Veranstaltungen getroffen, den ärmeren Veteranen durch Unterstützungen die Möglichkeit zu gewähren, jener Einladung zu folgen, denn das Vaterland hat bis jetzt noch immer nicht daran gedacht, die Lorbeeren, welche die heldenmüthigen Kämpfer auf dem Schlachtfelde erwarben, durch wohlverdiente Unterstützungen einzulösen.

Freilich gab es Tausende von Veteranen, denen Altersschwäche oder körperliche Leiden die Theilnahme an dem ihnen hauptsächlich gewidmeten Jubelfeste versagten. Viele ausgezeichnete Persönlichkeiten aus jener glorreichen Zeit, denen man unmittelbare Einladungen hatte zugehen lassen und die aus obengenannten Rücksichten verhindert waren, bei dem Feste zu erscheinen, haben ihr Bedauern in den Ablehnungsschreiben in wahrhaft rührender Weise ausgedrückt. Wenn jene Schriftstücke der Oeffentlichkeit übergeben würden, so könnten dieselben dem jüngeren Geschlechte als die erhabensten Beispiele echter Vaterlandsliebe dienen.

Von den eingeladenen und erschienenen Ehrengästen müssen wir vor Allen den greisen General von Pfuel nennen, den Senior der preußischen Armee, der nach dem Einzug der Verbündeten in Paris unter Blücher Commandant von Paris war. Dieser würdige Heldengreis wird allen Denen unvergeßlich bleiben, welche Gelegenheit hatten, ihn kennen zu lernen. Nur um ein Jahr jünger war der gleichzeitig als Veteran und Deputirter der Universität Halle erschienene Professor Blanc, der als Feldprediger dem Freiheitskriege beiwohnte. Fr. v. Raumer, Major Beitzke, Stavenhagen u. A. erschienen gleichfalls als Veteranen und Ehrengäste. Allgemein aber wurde bedauert, daß die in gleicher Weise eingeladenen österreichischen Stabsofficiere, welche mit bei Leipzig gefochten hatten, sich nicht eingefunden hatten. Das Bestreben eines gewissen, aber eben nicht allzu ehrlichen Theiles der Presse, die Jubelfeier in Leipzig als ein rein preußisches, oder auch als ein von dem Nationalvereine ausgehendes Fest zu verdächtigen, hatte augenscheinlich in Süddeutschland unverdienten Glauben gefunden. Der Erfolg hat jedoch zur Genüge bewiesen, daß es kein preußisches, sondern wieder einmal ein echt deutsches Fest gewesen ist, und jene falschen Propheten sind jetzt der gerechten Verachtung preisgegeben.

Wie am Turnfeste hatte sich die Stadt in reichen Schmuck gekleidet. Flaggen und Fahnen wehten von den Firsten und aus den Fenstern, aus den Erkern und von den Balconen der Häuser, und während auf einem Theile des Marktes noch die Verkaufsbuden der Messe standen, wurden in dem andern Theile bereits die Tribünen für die öffentlichen Gesangaufführungen errichtet.

Die am Sonnabend (den 17. October) eintreffenden Eisenbahnzüge brachten die erwarteten Festgenossen aus allen Theilen Deutschlands, und man bemühte sich, den greisen Veteranen einen ehrenden und herzlichen Empfang zu bereiten. Wieder hatten sich die Turnerknaben mit jubelnder Freude zu Träger- und Führerdiensten erboten, allein auch diesmal wurde ihnen dieses Ehrenamt häufig streitig gemacht. Zur Leitung der alten Herren bedurfte es oft stärkerer Stützen, und zumeist mußten sie die bereitstehenden Wagen benutzen, um in ihre Wohnungen zu gelangen. Und das Reisegepäck? Ach, wie viele der Männer, die vor fünfzig Jahren mit dem schwerem Tornister und dem schützenden Mantel beladen in diese Stadt eingezogen waren, kamen jetzt in dünnem, fadenscheinigem Rocke, der nicht wohl geeignet war, seinen bejahrten Träger auf lange Zeit vor herbstlicher Luft zu schützen!

Bei Allen schienen jedoch die Anstrengungen und Entbehrungen der Reise vergessen zu sein, sobald es hieß: dort sind Leipzigs Thürme zu schauen! Bei diesen Worten schlug den alten Kriegern das Herz doch noch einmal rascher, und sie fühlten wieder etwas wie jugendliches Feuer durch ihre Adern rollen. Sie drängen sich nach den Fenstern des Wagens und rufen das Bild wach, welches sie von dieser Stadt seit jenen blutigen Tagen in ihren Herzen bewahrt hatten. Die weitläufigen Gärten, die sumpfigen Wiesen, die hier und da aufgeworfenen Schanzen und Batterien schwebten ja noch so deutlich vor ihrem Gedächtnisse, daß sie dieselben hätten malen können, wenn ihre zitternde Hand dies noch im Stande gewesen wäre. Aber umsonst suchen sie nach allen jenen Erinnerungszeichen, denn die Stadt, aus welcher sie damals heldenmüthig die Feinde Deutschlands vertrieben, ist eine ganz andere geworden. Mächtig hat sie sich nach allen Seiten ausgedehnt, und auf denselben Stellen, wo damals so viele Tapfere bluteten, so viele Helden ihr Leben aushauchten, da erhoben sich jetzt lange Häuserreihen und neue Stadttheile, bei deren Anlegung man Gebeine der Gefallenen und Waffenreste in Menge gefunden hat.

Ueber diese unerwarteten Veränderungen schüttelte so mancher der alten Herren sein Haupt und meinte wohl, das könne Leipzig gar nicht sein; aber wenn dann die Wagenzüge in die Bahnhöfe einliefen und nun Musik den Ankommenden entgegenschmetterte, wenn der begeisterte Jubelruf der harrenden Zuschauermenge sie empfing – da wurde den braven Veteranen doch wohl klar, daß sie am rechten Ziele angelangt seien und daß die anders gestaltete und vergrößerte Stadt im Gegensatze zu so vielen einzelnen Emporkömmlingen unter den Menschen die schöne Pflicht der Dankbarkeit treu bewahret und gepflegt hatte. Alles drängte sich herbei, um die Veteranen sehen, um sie begrüßen zu können. Die mit Orden und anderen Ehrenzeichen geschmückten Greise wußten kaum, wie ihnen geschah, und die Beweise der ihnen entgegengebrachten Liebe und Verehrung riefen so manche Thräne der Rührung hervor. Ja, das war doch noch dieselbe Stadt, welche vor fünfzig Jahren nach langer Bedrückung sie auch mit Jubel und Dank als Befreier empfing; dieselbe Stadt, welche in jener Zeit des Jammers die letzten kargen Bissen trockenen Brodes freudig mit ihnen getheilt hatte.

Während die gebrechlicheren oder die durch lange Fahrt ermüdeten Veteranen von den ihnen verschafften Wagen Gebrauch machten, gab es bei jedem ankommenden Bahnzuge doch auch eine gute Anzahl dieser alten Krieger, welche sich munter und rüstig fühlten. Diese stellten sich dann freudig in Reih und Glied auf, ein Musikchor trat an ihre Spitze, und so setzte sich nun der Zug nach der Stadt herein in Bewegung. Jubel begleitete und empfing diese einzelnen Züge überall wohin sie nur kamen, und besonders rührend war es, zu sehen, wie so mancher dieser Greise mit Anstrengung aller seiner Kräfte stramm und mit soldatischem Takt einherschritt.

Wie schweiften ihre Blicke nach allen Seiten, um in Straßen oder Plätzen Erinnerungszeichen zu finden an jene Zeit, wo sie als Sieger in dieselbe Stadt ihren Einzug hielten! Nur Wenigen mag es gelungen sein, sich alsbald wieder zu orientiren, denn die verflossenen fünfzig Jahre haben auch im Innern der Stadt große Umgestaltungen hervorgerufen. Die tiefen Gräben, welche zu jener Zeit die Stadt umgaben und welche das rasche Eindringen der Stürmenden verhinderten, sind längst ausgefüllt und in herrliche Parkanlagen verwandelt worden; die Thore, deren Einnahme den Andringenden noch viele Opfer kosteten, sind der Erde gleich gemacht, und ein Bild des Friedens stehen die Straßen weit offen, um die sehnlichst erwarteten Gäste aufzunehmen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_712.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)