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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

die im Fortströmen allerlei Falsches mitschwemmen, begab ich mich ungefähr eine Stunde vor Beginn der Vorlesung auf den Schauplatz der Bewegung. Der Hof, der Platz, das College de France und die nächsten Straßen waren mit Menschen vollgefüllt, von denen die eine Hälfte aus Zöglingen der Wissenschaft, die andere aus Bürgern und Arbeitern bestand, welche Neugierde oder Theilnahme herbeigezogen hatte. Einige Polizeicommissäre mit den Schärpen, den Abzeichen ihres Amtes, und ein kleines Heer von Sergents de ville, welche jeden Augenblick in den naheliegenden Casernen in Bereitschaft gehaltene Truppen zu Hülfe rufen konnten, vertraten die Gewalt, die entschlossen war, nicht nur ernste Kundgebungen, sondern selbst Scenen, wie sie im Odeontheater und vor dem Hause des Herrn About stattfanden, zu verhindern.

Ein Umblick unter den Studenten und der Austausch einiger Worte mit Denjenigen von ihnen, welche die Leitung der Sache über sich zu haben schienen, ließen mich alsbald wahrnehmen, daß die Zöglinge der Wissenschaft geneigt waren, für Herrn Renan Partei zu nehmen, wenn derselbe nicht für die bestehende Ordnung der Dinge gegen das liberale Streben eintreten würde. Die jungen Leute scheinen es erfahren oder selbst gefühlt zu haben, daß sie im Begriffe standen, sich zu Werkzeugen frommen Hasses herzugeben. Mit Energie und Behutsamkeit zugleich wurde die Menge, welche den Hörsaal hundert Mal hätte füllen können, von den Polizeidienern immer weiter und weiter zurückgedrängt, bis sie sich in Nebengassen verlief, so daß der Professor mit seinen Zuhörern in dem vollgedrängten Saale abgeschnitten von der äußeren Strömung blieb.

Seine Einleitungsrede, durch Form und Inhalt gleich ausgezeichnet, riß die Schüler zur Begeisierung, zum Jubel hin, an welchem alle Aeußerungen des Tadels erdrückt wurden, die einige gewonnene Stimmen allerdings versuchten. Das Talent und der männliche Geist des Professors haben die Schlacht gewonnen. Am Abend rückten 2000 Studenten vor die Wohnung des Orientalisten, Rue de Madame, und erfüllten die Luft mit den Rufen: „Es lebe Renan,“ „es lebe die Freiheit,“ „nieder mit den Jesuiten“ etc. Einige von ihnen wurden wohl verhaftet; aber erst nach der Demonstration. Zu spät.

Dieser Tag war ein heißer, aber auch ein schöner, siegreicher für Renan, ein kostbarer für die Liberalen, welche nun wußten, daß die kaiserliche Gunst an den Ueberzeugungen des Gelehrten nichts verrückt habe, daß der wackere Soldat der Wahrheit seiner Fahne, der Versuchung zum Trotze, treu geblieben war.

Allein je größer die Wirkung der Eröffnungsrede auf die Zuhörer war, je mehr sie die jugendlichen Gemüther zum Enthusiasmus fortriß, desto gefährlicher für die Seelen erschien sie den Frommen, desto heftiger war die Entrüstung der Fanatiker gegen den Professor, welcher sich in dieser ersten Vorlesung über Christus folgendermaßen ausgelassen hat: „Ein unvergleichlicher Mensch, – so groß, daß ich, obwohl hier Alles vom Standpunkte der positiven Wissenschaft beurtheilt werden soll, denjenigen nicht widersprechen mochte, welche, ergriffen von dem ausnahmlichen Charakter seines Werkes, ihn Gott nannten.“

Diese „Lästerung,“ wie sie es hießen, setzte die kirchlichen Einflüsse, die offenen, wie die heimlichen, in Bewegung, von allen Seiten schrie man über Jugendverderbniß, über Schändung der Religion, über Verbreitung der Gottlosigkeit, über die absichtliche Demoralisation der nächsten Geschlechter. Außerdem benutzte man die Freiheilskundgebungen vor dem Hause des Herrn Renan, um dessen Vorlesungen als gleich gefährlich für Thron und Altar darzustellen, und die kaiserliche Regierung, so unendlich stark, wenn es gilt, einer Freiheit den Weg zu vertreten, ein Recht zu unterdrücken, gab dem Drängen nach und schloß die Lippen, welchen sie selbst das Wort verliehen hatte.

Und nun war der Name des Lehrers in Aller Munde. Herr Renan war in Paris ein populärer Mann. In einer an seine Mitprofessoren gerichteten Auseinandersetzung, welche unter dem Titel: Der Lehrstuhl des Hebräischen am Collège de France (le chaire d’hébreu au collège de France) erschien, legte Herr Renan die Gedanken und Anschauungen dar, die ihn bei seiner ersten Vorlesung geleitet. Er beweist, daß er an keinem Punkte die Grenzen des Rechtes überschritten, das einem Professor des Collège de France zusteht. Wir empfehlen die kurze Schrift, weil sie einen Einblick in das Wesen des Mannes gestattet, dessen Leben und Wirken nur hier flüchtig zu zeichnen unternahmen. Wir wollen nur ein Wort aus der kleinen Broschüre anführen, weil es das Gepräge der Wahrhaftigkeit an sich trägt und den gelehrten Mann charakterisirt. „Alle Vortheile dieser Welt,“ sagt er Seite 7, „scheinen mir nicht der Mühe wert zu sein, daß man auch nur im Geringsten von Dem abweicht, was man für das Gute hielt.“ – –

Kaum war der Lärm verschollen, den die Vorlesung und die mit derselben zusammenhängenden Vorgänge hervorgerufene, ja die Aufregung war noch nicht verschwunden, die der Kampf in dem Hörsaal des Collège de France und der Ausgang desselben erzeugt, als die Zeitungen und andere Stimmen das Erscheinen des „Leben Jesu“ von dem berühmt gewordenen Professor ankündigten und die Leidenschaften für und gegen den Meister, für und gegen das noch unbekannte Werk wachriefen. – Den Standpunkt anlangend, von welchem Herr Renan in seinem Buche den Erlöser der Menschheit und das Erlösungswerk ansehen würde, über den Geist des Buches im Allgemeinen konnte nach der Eröffnungsrede über hebräische Sprache kein Zweifel vorwalten. Selbst wenn die eingeweihten Freunde des Gelehrten nicht die bestimmtesten Angaben in dieser Beziehung verbreitet hätten, würde doch alle Welt gewußt haben, was zu erwarten stand.

Ungewiß jedoch war es, ob die Veröffentlichung des Buches in Fraukreich gestattet sein werde, ob nicht dieselben Einflüsse, welchen es gelungen war, die Entfernung des Professors von dem Lehrstuhl durchzusetzen, eine Gewaltmaßregel gegen das von vorn herein angepriesene und angefeindete Buch erwirken würden. Wahrscheinlich wäre dieses der Fall gewesen, wenn nicht gerade in demselben Augenblicke, als das „Leben Jesu“ erscheinen sollte, das Unterrichtsministerium aus den Händen des Herrn Roulland in die Hände des Herrn Duruy übergegangen wäre, der von jeher liberale Neigungen gezeigt hat. Dieser nahm sich des Verfassers und des Werkes an.

Das Buch erschien also im Juni dieses Jahres, und der Erfolg desselben übersteigt die kühnsten Erwartungen der Freunde des Verfassers, die ärgsten Befürchtungen seiner Gegner. Der letzte Roman von Victor Hugo: „Les Misérables“’ fand in so kurzer Zeit keine so große Verbreitung, wie das ernste Werk. An 50,000 Exemplare sind bereits abgesetzt. Nichts natürlicher, als daß dieses Glück der ketzerischen Schrift die Wuth der Frommen erregt und daß ein Kreuzzug gegen dasselbe sowohl, als gegen den Verfasser gepredigt und, soweit es die durch weltliche Gesetze beschränkten Mittel der Klerisei gestatten, ausgeführt wurde. Die Verfolgung dauert noch. Wem von den Gläubigen eine Waffe zur Verfügung stand, der schwang sie gegen den Gelehrten und sein Buch. Geistliche und Laien wetteiferten im Haß und in der Anfeindung. Prälaten sprachen in Hirtenbriefen Verwünschungen gegen den Meister und sein Werk. Sie bedienten sich einer Form, welche an die finsteren Zeiten des Mittelalters erinnert, da ihre Worte bestimmt waren, Scheiterhaufen anzuzünden, um Ketzer zu verbrennen.

Der Bischof von Marseille z. B. erklärte in einem Hirtenbrief, daß Herr Renan „strafbarer sei, denn Robespierre, daß sein verabscheuungswürdiges Werk zu nichts weiter diene, als die Bevölkerung der Galeeren zu vermehren,“ und da jede Heiligenentweihung Büßungen erforderlich macht, schreibt der ehrwürdige Bischof Bußübungen, Almosengebete vor und verordnet besonders, daß man zur Genugthuung für allen Schimpf, der unserem Herrn Jesus Christus angethan, jeden Freitag um drei Uhr Nachmittags in sämmtlichen Kirchen seines Sprengels während drei Minuten die Sterbeglocke läute. In diesem Moment werden Geistliche und Gläubige drei Mal dieses Gebet wiederholen: „Göttliches Herz Jesu, so unwürdig beschimpft, ich bitte Dich um Verzeihung, ich bete Dich an, ich liebe Dich.“ Vor zwei Jahrhunderten hätte es nicht so viel gebraucht, um Herrn Renan dem Scheiterhaufen zu überliefern, jetzt wird er blos dem Haß und dem Abscheu seiner Mitbürger empfohlen. Der zweite Band des „Leben Jesu“ kann, wie mir der Verfasser mitgetheilt hat, nicht vor zwei Jahren erscheinen. Die Vorbereitungsarbeiten nehmen so viel Zeit in Anspruch.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_711.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)