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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

war, hatte das Kind sich auch schon selbst die Antwort gegeben. Das Schloß Hawichhorst lag hinter der Ecke des Waldes, war keine fünf Minuten weit entfernt. Sie wurde verlegen und schlug die Augen nieder.

„Ah, Sie sind der Freiherr Adalbert,“ sagte sie mit halblauter Stimme.

„Ja, der bin ich. Aber warum siehst Du mich nun nicht mehr an?“

Sie antwortete ihm nicht, schlug aber auch die Augen nicht zu ihm auf.

„Du sprangst vorhin,“ sagte er. „Du fingst wohl Schmetterlinge?“

„Ja.“

„Wollen wir nicht zusammen welche fangen?“

„Ich weiß nicht, ob ich das darf.“

„Warum solltest Du das nicht dürfen?“

„Sie sind so vornehm, sagen mein Papa und meine Mama. Und künftig, wenn Ihr Papa nicht mehr lebt, sind Sie unser Herr.“

Das war es, was sie so verlegen gemacht hatte, daß sie die Augen nicht mehr erheben konnte. Der Sohn des Reichsfreiherrn, der älteste Sohn gar, der „Stammherr“, der künftige Gutsherr, der jetzt schon ebenbürtig mit Grafen und Fürsten war! So hatten stets ihr Vater und ihre Mutter, anders hatte Niemand von ihm gesprochen. Und ihr Vater war der Rentmeister, war Diener, jetzt noch des alten Reichsfreiherrn, aber künftig des Freiherrn Adalbert. Und sie war die Tochter dieses Dieners.

Der junge Freiherr wußte das Alles vielleicht auch, oder er hatte eine Ahnung davon; vielleicht auch nicht, obwohl er noch Du zu ihr sagte, während sie ihn mit dem ehrerbietigen Sie anredete, freilich war sie ein Kind von kaum zehn Jahren. Er fragte sie dennoch: „Und darum dürfen wir keine Schmetterlinge zusammen fangen?“

„Ich will meine Mama fragen,“ fand sie ein Auskunftsmittel.

„Ich werde es bei Deiner Mama auf mich nehmen.“

Er wußte doch wohl, wer er war. Und da das Kind es schon vorher wußte, und mithin seine Verantwortlichkeit sie deckte, so fingen sie zusammen Schmetterlinge, bis es dunkel wurde und keine Schmetterlinge mehr zu sehen waren. Und wie sie darauf zusammen nach Hause gingen, da dachten sie nicht mehr daran, die Eine, daß der Andere ein Freiherr und künftig ihr Herr sei, der Andere, daß er Hand in Hand mit der Tochter des Dieners seines Vaters und künftig seines eigenen Dieners gehe. Hand in Hand gingen sie, vertraulich, scherzend und lachend. Sie sagte zwar noch Sie zu ihm und Freiherr Adalbert. Aber am andern Tage mußte auch sie Du zu ihm sagen, und sie nannte ihn nur noch Freiherr Adalbert, am zweiten Tage ließ sie aber auch den Freiherrn aus.

Der alte Reichsfreiherr war vom ältesten und reinsten Adel, und er war der stolzeste Mann auf seinen alten, reinen Adel. Er hatte Geschäfte mit meinem Großvater, darum war er gekommen, und nur wenn sie Geschäfte zusammen hatten, sah er seinen Rentmeister, dessen Familie aber gar nicht. Sie war die Familie seines Dieners, und für ihn nicht da. Er hatte seine Zimmer für sich, die Jahr aus, Jahr ein für ihn bereit standen, obwohl er vielleicht nur alle fünf oder sechs Jahre einmal herkam. In ihnen hielt er sich auf, wenn er nicht mit dem Rentmeister in der Rentstube rechnete oder draußen Flur und Wald besichtigte. In ihnen frühstückte er, aß er zu Mittag und zu Abend allein mit seinem Sohne, bedient von den Bedienten, die er mitgebracht hatte.

So sah der alte Freiherr meine Tante Therese nicht, er wußte vielleicht nicht einmal, daß sie existirte, und so sah er daher auch seinen Sohn nicht mit ihr. Hätte er aber auch die Beiden beisammen gesehen, er hätte wahrscheinlich nicht einmal gestutzt, Sein Sohn war der Stammherr einer so alten, reinen Adelsfamilie, und meine Tante war nichts als die Tochter seines bürgerlichen Rentmeisters, und Beide waren Kinder, und in acht Tagen reiste er mit seinem Sohne wieder ab.

Am Tage der Abreise aber waren der Freiherr Adalbert und meine Tante sehr traurig; sie suchten allein zu sein, so oft sie konnten, und sie trösteten sich dann damit, daß er versprach im nächsten Jahre wiederzukommen. Wie das werde möglich sein, fragte sie ihn, da doch sein Papa nicht wiederkomme. Er werde es schon machen, antwortete er ihr aber, und mit einer solchen Bestimmteheit, daß sie ihm vertraute. Und er hatte es machen können.

Der Reichsfreiherr hatte einen schwachsinnigen Bruder. Den Irren in eine öffentliche Anstalt bringen, in der er mit Bürgerlichen hätte zusammen leben müssen, litt der Stolz der Familie nicht. Im Hause des Freiherrn führte seine Erscheinung zu manchen Inconvenienzen. Am besten war er aufgehoben in der Familie eines Rentmeisters auf einem der entfernteren Güter. Der Freiherr hatte die Familie meines Großvaters auf Schloß Hawichhorst ausgesucht. Das Abmachen dieser Angelegenheit mit meinem Großvater war mit ein Zweck seiner Herüberkunft gewesen. Nach wenigen Wochen war der schwachsinnige Freiherr Max auf Schloß Hawichhorst gebracht.

Im nächsten Frühjahre war der junge Freiherr Adalbert da, um – zu sehen, was sein Onkel mache. Er war zu Pferde mit einem Reitknecht gekommen, denn er hatte in dem Jahre reiten gelernt und war größer geworden und gesetzter und fing keine Schmetterlinge mehr mit der Tante Therese; aber er gab ihr Reitunterricht, und sie mußte alle Tage mit ihm in den Wald und in die Haide reiten. Als er nach vier Wochen abreisen mußte, tröstete sie sich noch leichter damit, daß er auch im nächsten Jahre wieder kommen werde. Und er kam wieder, und sie setzten den Reitunterricht fort, der im vorigen Jahre nicht zu Ende gekommen war; hatte er selbst doch unterdeß erst die kleine und die große Volte gelernt. So war es auch in dem Jahre, das darauf folgte, und noch ein Jahr, und dann noch eins. Sie jagten wild und lustig und fröhlich durch den Wald, über die Haide.

Als er dann aber wiederkam, war er achtzehn und sie sechszehn Jahre alt geworden; er hatte ihr die Leiden des jungen Werther mitgebracht, sie lasen dieselben gemeinschaftlich, und in ihren Herzen wurde es ihnen sehr weh. Sie ritten nur bei Abend, wenn der Mond schien, über die Haide, suchten bei Tage nur das Dunkel des Waldes auf und jagten auch nicht mehr, sondern ritten langsam nebeneinander her, ließen die Köpfe hängen, wie ihre Pferde, und seufzten tief und schwer. In der Stunde vor seiner Abreise aber waren sie auf einmal die glücklichsten Menschen, ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter strahlten; so nahmen sie Abschied von einander.

Aufgefallen war das Niemandem. Der Onkel Max konnte nichts sehen, weil er schwachsinnig war; meine Großeltern sahen eben so wenig, weil sie bürgerliche Leute waren und weil mein Großvater der Diener des stolzen Reichsfreiherrn war. Wie hätten Seufzer und strahlende Gesichter und entzückte Augen einen andern Gedanken in ihnen wecken können? Mein Onkel Fritz, der Zwillingsbruder der Tante Therese, war in der Provinzstadt auf dem Gymnasium, der jüngere Bruder Franz war noch ein Kind. Meine Mutter war schon verheirathet, sie war sechs Wochen später zum Besuch nach Hause gekommen. Das strahlende und dann wieder still träumerische Glück der Tante hatte ihr auffallen müssen.

„Therese, was ist mit Dir vorgegangen?“

„Nichts, Schwester Elisabeth.“

„Warum wirst Du denn so glühend roth?“

Sie besah sich im Spiegel und konnte nicht mehr leugnen, daß sie roth sah. Da konnte sie auch das Andere nicht mehr leugnen, und wie könnte das Glück eines jungen Herzens von sechszehn Jahren sich lange verschließen, zumal einer geliebten, vertrauten Schwester gegenüber?

„Ich bin die Braut des Freiherrn Adalbert, Schwester Elise; aber kein Mensch darf es wissen, ich habe es ihm versprechen müssen.“

Meine Mutter war leichenblaß geworden. „Um Gotteswillen, Kind, Kind!“

Die Tante Therese begriff sie nicht. „Wie kann Dich das erschrecken, Elisabeth? Er liebt mich, und ich liebe ihn; wir lieben uns eigentlich schon seit sechs Jahren, und als er vor sechs Wochen zum letzten Male hier war, haben wir uns beim Abschiede verlobt, und wenn er großjährig wird, werden wir uns heirathen.“

„Und seine Eltern, Therese?“

„Wissen noch von nichts.“

„Und die unsrigen?“

„Dürfen auch noch nichts wissen.“

„Kind, armes Kind!“ mußte meine Mutter noch einmal ausrufen, diesmal schmerzlich. Und sie setzte dem Kinde Alles auseinander, was bei solchen Gelegenheiten auseinanderzusetzen ist, den stolzen Adel des Freiherrn, ihre bürgerliche Geburt, die Veränderlichkeit des Jünglingsherzens, das erst jetzt in die Welt, in eine

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