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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wünschen kann, von dem ist in einer solchen Lage anzunehmen, daß er nicht den vollen Gebrauch seiner Vernunft hatte.“

Da verlangte der Commandant der Gensd’armerie noch einmal das Wort, und er versicherte auf seine Ehre als Officier und auf seinen Eid als Zeuge, daß der Angeklagte mit der vollen Klarheit des Geistes gesprochen und auf ihn Blicke des Hasses und der Herausforderung geworfen habe; über seinen bedachten bösen Willen könne kein Zweifel sein.

Und das Kriegsgericht mußte den Angeklagten zum Tode verurtheilen.

Mein Onkel wurde am folgenden Morgen erschossen.

Erst als er todt war, erfuhren die Seinigen da hinten an der großen Haide seine Untersuchung, seine Verurtheilung, seinen Tod. Meine Großmutter warf der Schreck auf das Krankenlager. Der Tod ging an ihr vorüber, aber sie war gelähmt, und sie blieb es ihr Leben lang. Meine Tante Therese war bis zu dem Tage frisch und blühend gewesen, wie das frischeste junge Leben, obwohl der Tod schon einmal recht hart ihr an das Herz herangetreten war. Von der Stunde der entsetzlichen Nachricht an hat Keiner einen Blutstropfen mehr in ihrem Gesichte gesehen. Doch, damit das Gesicht ihr ganz so weiß und blutleer wurde, wie es war, als ich sie sah, dazu hatte noch anderer Schreck, anderes Entsetzen kommen müssen, und davon erzähle ich jetzt. Jenes hatte sich im Sommer des Jahres 1812 ereignet.

Es kam der Herbst des Jahres 1813. Die glorreichen Armeen des französischen Kaisers waren längst in den russischen Eisfeldern vom Tode, vom Verderben ereilt.

Die Schlacht bei Leipzig war darauf geschlagen. Die Macht Napoleon’s in Deutschland war völlig vernichtet. Der Feind floh aus Deutschland. Erst jenseits des Rheins fühlten die Fliehenden sich sicher, die Massen wie die Einzelnen. Im Süden bei Hanau nur mußte erst noch am vorletzten Octobertage eine zweite Schlacht geschlagen worden, und im Nordwesten Deutschlands, nach dem Rheine hin, hielt in manchen Gegenden das fremde Regiment sich noch fest, bis die ersten Preußen oder die ersten Kosaken ankamen. Dann wurde noch schnell raubmäßig zusammengerafft, geplündert, mitunter gemordet, und nun begann in der rasenden Eile des letzten Augenblicks die wilde Flucht vor den verfolgenden Befreiern, die oft in das eine Thor einer Stadt einrückten, während die letzten Fliehenden noch durch das entgegengesetzte Thor sich hinausdrängten. Manchmal war aber auch die Flucht zu spät, und die Räuber traf blutige Züchtigung. Manchmal kam es aber auch noch anders.

In jene Haiden Westphalens waren die Befreier noch nicht vorgedrungen. In der Provinzstadt hausten noch die Franzosen. Bereiteten sie zu jener hastigen, räuberischen Flucht sich vor, so geschah es heimlich, und nur Wenige erriethen es. Die es nicht erriethen, waren um so mehr von Sorge befangen. Die Flucht der Franzosen mußte bald und unvermeidlich eintreten; aber waren nicht eben so unvermeidlich Raub und Plünderung mit ihr verbunden? Trotzdem erwartete man die Befreier mit heißer, brennender Sehnsucht. Das Schloß Hawichhorst lag, wie gesagt, einsam an dem Ende der großen, unübersehbaren Haide. In nächster Nähe war nicht einmal ein Dorf. Die Landstraße zog sich, über eine Stunde weit entfernt, am anderen Ende der Haide, jenseits des Waldes entlang, der sie begrenzte.

Auch im Schlosse Hawichhorst hatte man von der großen Völkerschlacht bei Leipzig erfahren. Seitdem waren aber über acht Tage vergangen, ohne daß man weitere Kriegsnachrichten erhalten hatte. Nur Gerüchte waren über die Haide gedrungen, oft widersprechend genug. Bald hieß es, die Preußen und Russen seien als Befreier im Anzuge. Bald sollten aus Frankreich neue Truppenmassen heranrücken, um in neuem, verzweifeltem Kampfe die Verfolger aufzuhalten, zurückzuwerfen. Da wurden die Bewohner des Schlosses plötzlich durch Kriegsgetümmel in ihrer unmittelbaren Nähe erschreckt. Es war gegen Abend. Der Tag war kalt und naß.

Meine Großmutter und meine Tante Therese waren in dem gewöhnlichen Wohnzimmer. Die Tante las der Großmutter vor, die in ihrem Rollstuhl lag, die Tante saß am Fenster und strickte bei dem Lesen. Ueber Buch und Strickzeug glitt manchmal ihr Blick durch das Fenster, durch das sie weit in die Haide hinein sehen konnte. Sie war unruhig und schien etwas zu erwarten, was sie fürchtete. Die Großmutter bemerkte ihre Unruhe nicht. Mitten im Lesen hörte die Tante Therese plötzlich auf und horchte nach dem Fenster hin, hinaus in die Haide.

„Was giebt es da?“ fragte die Großmutter.

„Nichts, Mutter.“

„Aber Du stehst so sonderbar aus, Therese.“[1]

„Ich meinte, ich hätte draußen etwas gehört.“

„Was Dich erschreckte?“

„In der jetzigen Zeit kann Einen wohl jedes plötzliche Geräusch erschrecken. Wir wohnen hier so allein.“

Die Großmutter wollte etwas erwidern. Die Tante war rasch aufgesprungen.

„Mein Gott!“ rief sie.

Ihr bleiches Gesicht war blässer geworden.

„Aber was ist da, Therese?“

„Nichts, nichts, Mutter.“

In demselben Augenblicke zuckte auch die Großmutter auf. Auffahren konnte der gelähmte Körper nicht.

„Da wird geschossen, Therese!“

„Ja, Mutter.“

„Und da wieder, und wieder. Es ist jenseits des Waldes.“

„Wenn es nicht schon im Walde ist, Mutter!“

Die Großmutter horchte. „Nein,“ sagte sie dann bestimmt und ruhig.

Man hörte schießen. Es war ein regelmäßiges Gewehrfeuer, aber noch in weiter Ferne; darum hörte man auch nur die regelmäßigen Salven, nicht die einzelnen Schüsse, die vielleicht auch fielen. Es kam von dem Walde her. Es sei schon im Walde, hatte die Tante gefürchtet; es sei noch jenseits desselben, meinte die Großmutter. Die Tante widersprach ihr nicht weiter, sie wollte wohl die alte Frau nicht unnöthig ängstigen.

Ein anderes Geräusch wurde plötzlich laut. Es war in der Haide und schien sich dem Schlosse zu nahen. Anfangs war es ein dumpfes Dröhnen des Haidegrundes; als es näher kam, unterschied man das Stampfen von Pferden, dazwischen das Feuern von Waffen.

Die Großmutter konnte in ihrem Rollstuhle, der mitten in dem Zimmer stand, wohl in die weitere Ferne der Haide blicken, nicht aber das sehen, was in der Nähe darin war.

„Das ist Cavallerie, Therese?“ fragte sie.

„Ja, Mutter, Franzosen. Es sind Carabiniers.“

„Wohin ziehen sie?“

„Sie sprengen dem Walde zu.“

„Also zu dem Kampfe dort?“

„Ja.“

Beide schwiegen und horchten dem Vorbeiziehen der Soldaten. Die Tante stand am Fenster. Zwei Schwadronen französische Carabiniers sprengten dicht am Schlosse vorüber der Ecke des Waldes zu. Sie jagten im Galopp, in geordneten, geschlossenen Zügen, ein Officier voran, andere Officiere zur Seite. Kein Commandowort der Officiere wurde gehört, kein Laut kam aus den Reihen der Soldaten. Man vernahm nur das Stampfen der Pferde auf dem dumpf drohnenden Haideboden und das Klirren der Säbel. So flogen sie durch die Haide, unheimlichen wilden Haidegespenstern gleich. Jenseits der Waldecke verschwanden sie und eilten dem Kampfe entgegen, der im oder am Walde stattfand. Als man das Stampfen der Pferde nicht mehr hörte, tönten die Schüsse wieder über den Wald herüber.

Die Tante stand noch am Fenster. Sie sann nach; sie überlegte etwas; sie schien in steigender Unruhe zu einem Entschlusse, den sie suchte, nicht gelangen zu können. Die Großmutter hatte sie beobachtet. Sie mußte den Kopf schütteln. Sie war eine verständige, besonnene, muthige Frau, sie hatte Vieles erlebt in ihrem langen und auch in jener Einsamkeit unruhigen Leben, und es waren damals wildbewegte Zeiten, Noth und Gefahren drangen in die stillste, verborgenste Einsamkeit hinein.

„Du ängstigst Dich, Therese?“ sagte sie zu der Tante.

„Der Kampf kann sich hierher ziehen und hier anhalten, Mutter.“

„In der Haide, Kind? Hierher kommen nur Fliehende und Verfolger.“

„Und können nicht auch die in das Haus dringen, plündern, rauben –?“

„Dazu gehört Zeit, Therese, und weder die Einen noch die Anderen haben sie. Indeß Du hast Recht, daß Du besorgt bist. Triff also Anstalten gegen einen möglichen Ueberfall. Ich hier auf meinem Krankenlager kann Dir nicht helfen, armes Kind,

  1. WS: Im Original fehlendes Hochkomma ergänzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_675.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)