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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Da that die Thür sich auf, und die Tante Therese trat in das Zimmer. O, wie werde ich jemals den Anblick vergessen können! Sie war in tiefer Trauer; ihr Gesicht war weiß, wie der frischeste Schnee; die feine, durchsichtige Haut ließ keinen Blutstropfen wahrnehmen. Und doch war es so wunderbar schön. Es war eine verklärte, heilige Schönheit, die nicht mehr der Erde anzugehören schien. Und so klar und still und freundlich war sie dabei, auch das war so wunderbar; man meinte darin ein stilles, sanftes Weinen ihres Herzens zu sehen.

Sie ging langsam auf meine Mutter zu. Die beiden Schwestern hielten sich lange umarmt und sprachen beide kein Wort. Meine Mutter war die ältere, wohl über ein Dutzend Jahre älter, als die Tante. Sie hatte diese erzogen, und sie hatten sich immer so innig und so herzlich geliebt. Meine Mutter mußte zuletzt bitterlich weinen, trotz jener Ermahnung der Großmutter. Da ließ die Tante Therese sie los.

„Was weinst Du, Elisabeth?“

„Arme, arme Therese!“ rief meine Mutter.

„Ja!“ sagte die arme Schwester leise.

Sie sagte nur das eine Wort. Dann wandte sie sich zu mir. Ihre Augen sah ich feucht glänzen, aber sie war milde und freundlich.

„Du bist groß geworden,“ sagte sie zu mir, „und Deine Mutter hat mir nur Gutes von Dir geschrieben. Bleibe immer ihre Freude.“

Sie sprach es so unendlich klar und mild und freundlich. So blieb sie, so war sie immer, so oft ich sie nachher wiedersah. Und auch eben so schön war sie geblieben; dieselbe Feinheit und Durchsichtigkeit der Haut; dieselben edlen Formen des blassen Gesichtes; keine Runzel darin; derselbe ruhig klare Blick der dunkelblauen Augen. Und sie war, als ich sie zum letzten Male sah, nahe an den siebziger Jahren.

Sie ist gestorben seitdem. Im Tode soll ihre Schönheit eine noch wunderbarere gewesen sein. Ich konnte sie nicht mehr sehen; ich mußte fern von ihr im fremden Lande leben.

Sie war so unglücklich gewesen. „Was fehlt der Tante Therese?“ mußte ich schon damals, als ich sie zum ersten Male sah, meine Mutter fragen.

„Du weißt es ja,“ war die Antwort. „Der Tod des Onkels Fritz. Wir Alle trauern noch um ihn.“

Aber die Tante Therese war so besonders traurig. „Es muß doch noch etwas Anderes sein, Mutter,“ sagte ich.

„Der Onkel Fritz und die Tante Therese waren Zwillingsgeschwister,“ sagte die Mutter. „Sie hatten sich ganz besonders lieb.“

„Es muß doch noch etwas Anderes sein, Mutter.“

„Ja,“ sagte die Mutter, tief seufzend. „Es ist auch noch etwas Anderes. Aber das verstehst Du nicht, Kind.“

Später verstand ich es, und ich werde es nachher erzählen. Vorher muß ich von dem berichten, was ich damals schon wußte, und worüber sie Alle noch trauerten.

Es hatte bis zum Jahre 1813 eine schwere Zeit auf dem deutschen Lande und Volke gelegen. Das deutsche Volk war von einem fremden Tyrannen an die Sclavenkette gefesselt, mit der Sclavengeißel gezüchtigt. Aber keine Geißel, keine Fessel kann ein edles, kann das deutsche Volk zu Sclaven machen. Auch unter jener fremden Tyrannei lebte fort und fort in dem deutschen Volke die Liebe zur Freiheit, der Haß gegen den Despotismus, der Ingrimm gegen den Tyrannen, das glühende Verlangen, die Ketten zu zerbrechen, die Geißel dem Tyrannen zu entwinden, um sie züchtigend und strafend über ihn selbst zu schwingen. Aber das Verlangen konnte noch nicht sofort zur That werden, die Fürstenpolitik stand ihm entgegen, und das deutsche Volk trug das Aeußerste um seiner Fürsten willen – auch damals. Nur einzelne glühende Herzen konnten den Unmuth, den Zorn, den Ingrimm nicht in sich verschließen. Sie wurden das Opfer ihrer Unvorsichtigkeit.

Mein Onkel Fritz, der Zwillingsbruder meiner Tante Therese, war ein Mann von Geist, von Muth, von lebhaftem edlem Herzen. Er hatte die Rechtswissenschaft studirt und kam als Doctor der Rechte in die Heimath zurück. Er machte seine Examina und wurde Advocat an dem kaiserlich napoleonischen Gerichtshofe in der Provinzstadt seiner Heimath. Er hatte sich bald einen Ruf erworben und war der Stolz seiner Familie, der Triumph seiner Zwillingsschwester Therese. Sein Herz glühte von Liebe zum Vaterlande, von Liebe zur Freiheit, von Haß gegen den Unterdrücker.

Eines Abends – es war im Sommer des Jahres 1812 – saß er mit Freunden im Weinhause. Es war an dem Tage die Nachricht eingetroffen, daß die französische Armee den Niemen überschritten habe. Die Freunde sprachen über den möglichen Ausgang des napoleonischen Krieges gegen Rußland. Sie waren allein und thaten sich keinen Zwang an und wurden bald in ihrem Gespräche lebhafter. Anfangs hatten sie Befürchtungen ausgesprochen, dann Wünsche, dann Hoffnungen.

Mein Onkel ergriff sein Glas.

„Stoßt an, Freunde! Verderben und Tod dem Tyrannen in den Eisfeldern Rußlands!“

Er rief es mit lauter, erhöhter Stimme. Während er es rief, öffnete sich die Thür des Zimmers. Die Freunde wollten mit ihm anstoßen, da hörten sie ein Geräusch hinter sich und sahen sich um. Ein französischer Officier stand in der Thür, der Chef der Gensd’armerie der Provinz. Die Freunde stießen nicht an; sie setzten sich still nieder und stellten schweigend die Gläser vor sich hin; sie blickten verwirrt zu Boden. Auch mein Onkel schwieg; aber er hatte sich nicht gesetzt, er hatte nicht die Augen gesenkt.

Er sah ruhig, stolz den Officier an, der die französische Polizeiuniform trug und ein Deutscher war. Er sah ihn mit Verachtung an. Der Officier entfernte sich stumm.

„Er wird nichts gehört haben,“ sagten die Anderen.

„Er hat jedes meiner Worte gehört,“ sagte ruhig mein Onkel.

„So wird er nichts gehört haben wollen. Er kann nicht. Er ist ein Deutscher.“

„Und gerade weil er ein Deutscher ist,“ rief mein Onkel, „hat er jedes Wort gehört, und wird keins vergessen. Der Deutsche, der gegen Deutsche dem fremden Tyrannen dient, der deutsche Edelmann gar, wie dieser einer ist – Gottlob, er ist kein Westphälischer; in dem westphälischen Adel fließt besseres Blut – ein solcher Mensch ist der verkommenste Renegat, kann nur der elendeste Verräther sein. Meine Stunden sind gezählt. Ich weiß es. Entfliehen kann ich nicht, ich mag es auch nicht. Laßt uns trinken. Tod den Verräthern! Dreifacher Tod den deutschen Verräthern!“

Sie stießen wohl mit ihm an, aber ihre Lippen waren stumm, und ihre Herzen voll Schreck und Angst um den Freund, den auch sie verloren sahen.

Noch in derselben Nacht wurde mein Onkel von den französischen Gensd’armen verhaftet. Am andern Morgen wurde er vor ein französisches Kriegsgericht gestellt. Er war angeklagt der Complotstiftung gegen das Leben des Kaisers. Der Commandant der Gensd’armerie trat gegen ihn als Denunciant und als Zeuge auf.

Der Name dieses französischen Commandanten der Gensd’armerie? Ich erzähle hier eine wahre Geschichte. In der westphälischen Stadt, in der sie passirte, ist sie noch heute, nach mehr als funfzig Jahren, in Jedermanns Andenken. Die älteren Leute, obwohl sie damals Kinder waren, haben auch das Bild des schönen muthigen jungen Doctors nicht vergessen, der zum Tode verurtheilt wurde, weil er auf den Kaiser Napoleon geschimpft hatte, und der so ruhig und so muthig in den Tod ging. Sie haben auch den Verrath des deutschen Edelmanns nicht vergessen, der ihn in den Tod trieb. Auch der Name dieses Verräthers lebt noch in dem Gedächtnisse Vieler von ihnen. Aber ich will hier den Namen des Verräthers nicht nennen. Der Mann hatte Kinder; sie mögen noch leben, sie mögen besser geworden sein, als ihr Vater war; sie mögen gar, wie ihre brave Mutter – aber ich will dem Gange meiner Erzählung nicht vorgreifen. Jedoch Eins muß ich hier erklären: der Mann war kein Westphale, seine Heimath war jenseits der Elbe.

Die Freunde meines Onkels waren als Zeugen für ihn aufgetreten. Sie bekundeten, daß er in der Aufregung des Weines gesprochen, daß sie selbst seine Worte ihm nicht zugerechnet hätten. Mein Onkel hatte nicht geleugnet. Er trat stolz der Behauptung entgegen, daß er unüberlegt, daß gar der Rausch aus ihm gesprochen habe. Die Richter – sie waren französische Officiere, aber Franzosen, sie waren keine Verräther; der schöne, stolze, muthige, junge Mann hatte ihre Theilnahme erweckt; sie wollten ihm das Leben retten.

„Sie selbst, Angeklagter,“ sagte der Präsident des Gerichts zu ihm, „können kein klares und richtiges Urtheil darüber haben, ob Sie mit Ueberlegung sprachen, oder in der Hitze des Weines. Es steht fest, daß Sie Wein getrunken hatten, und wer unserem erhabenen Kaiser und seiner glorreichen Armee Tod und Verderben

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