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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Dienste verkauft ist“, wo alle edleren Instincte aus der Gesellschaft verschwunden scheinen, wo die Begeisterung ein Spott und die Scham ein Gelächter, wo die Bestie gemeiner Selbstsucht frech aus dem Menschen hervorgrinst, die Völker dem Despotismus entgegenkriechen, um ihm die Füße zu küssen und seinen Speichel zu lecken, die Pfaffen dem glücklichen Verbrechen ihr Tedeum singen, ein charakterloser Literatentroß gelungene Schurkereien zu „Gesellschaftsrettungen“ umschönfärbt, die Männer ihre Talente, die Frauen ihre Reize dem Meistbietenden zuschlagen und über alle die tausend privatlichen Niederträchtigkeiten die öffentliche Feigheit als ein verbindender Kleister giftig sich hinschleimt. Und wieder giebt es Zeiten, Fluthzeiten, wo aus dunkeln Wetterwolken schwerster Noth die heiligen Gedankenblitze Freiheit und Vaterland herniederfahren und zündend in die Herzen schlagen, daß sie auflodern in reinen Flammen, welche alles Kleine, Gemeine, Schlechte verzehren und die Menschen emporflügeln in die Aetherhöhen der Ideale. In solchen Völkerfrühlingstagen werden edle Gelübde begeistert gethan und schön erfüllt, werden schmerzlichste Opfer lächelnd gebracht, werden Fesseln gesprengt und Frevel gesühnt, werden Thermopylenkämpfertode gestorben, Marathonschlachten geschlagen und wandeln die Nationen in glorreichem Auf- und Vorschritt die Bahnen, die ihre Seher und Propheten ihnen gewiesen.

So ein Frühling ist im Jahre 1813 über Deutschland aufgegangen. Aber „wenn heut’ ein Geist herniederstiege“, zu fragen: „Welches waren die Früchte der Blüthenträume von damals, für die wir Gut und Blut dahingegeben?“ – so gäbe es nur zu antworten: Man schlug die Blüthen von den Bäumen, bevor sie zu Früchten werden konnten, und das Resultat des „Befreiungskriegs“ war eine aus Macchiavellismus und Brutalität monströs gemischte Politik, welche, was 1813 eine Tugend gewesen, zum Verbrechen stempelte, die deutschen Jünglinge wie Bösewichte hetzte, weil sie ihre Mutter Germania liebten, und jede leise Mahnung an die Rechte des Volks und die Bedürfnisse der Nation wie Raub und Mord verfolgte, – eine Politik, die, von Verblendung in Verblendung fallend und Schuld auf Schuld häufend, bis in unsere Tage herein unselig fortgewirkt hat.

Und doch, wie erquickt es Auge und Seele, durch all das Dunkel bitterer Enttäuschungen in die Frühlingshelle von 1813 zurückzublicken! Wie erquickt dieser Rückblick Auge und Seele selbst dann, wenn er keineswegs durch das Kaleidoskop einer unseren Gefühlen leicht sich einschmeichelnden Schönfärberei geschieht, sondern ohne alle so oder so zugeschliffene Gläser vom festen Standort geschichtlicher Wahrhaftigkeit aus!

Die Größe des nationalen Elements in der Erhebung Preußens, voran Ostpreußens, im Frühjahr von 1813 wird noch überwogen durch das freiheitliche, durch den Charakter bürgerlicher Selbstthätigkeit, welcher so überraschend und so gediegen diese ganze Bewegung kennzeichnete. Es ist ganz unzweifelhaft das schönste Blatt in der Geschichte des deutschen Volkes. Nach jahrhundertelanger feudaler Barbarei und fürstlicher Despotie trat hier mit einmal ein deutscher Volksstamm in seiner Gesammtheit, Bürger, Bauern und Edelleute mitsammen, handelnd auf die weltgeschichtliche Bühne, mit wunderbarer Energie, Opferwilligkeit und Gesetzesachtung das nothgebotene Selfgovernment übend. Dazu gebietet die Gerechtigkeit, ausdrücklich zu sagen, daß, was im Frühjahr von 1813 in Preußen, vorab in Ostpreußen geschah, zugleich auch das schönste Blatt in der Geschichte des deutschen Adels ausmacht. Denn weit, fürwahr, ist der argwöhnische Gedanke hinwegzuwerfen, daß der preußische Adel damals im Grunde doch nur für die Restauration altpreußischer Junkerei auf- und eingestanden sei. Nein, auch er fühlte und handelte unter dem Antrieb des heiligen Sturmes, dessen Odem damals die Seelen weitete.

Das Vaterlandsgefühl und die Freiheitssehnsucht waren mächtig in den Menschen. Ein von Lessing, Kant, Schiller und Fichte erzogenes Geschlecht war herangewachsen. Denn nicht in der Schule einer die Geschichte fälschenden, von einem erlogenen Mittelalter faselnden Romantik, sondern in der Region, wo der von jenen vier Erwählten ausgegossene Ideenstrom rauschte, ist der Geist von 1813 großgezogen worden, in der Region, wo der Genius des Tellschöpfers waltete, die Herzen aller Empfänglichen mit sittlichem Pathos und edelstem Enthusiasmus tränkend. Wir Nachgeborenen, enttäuscht, verbittert und hoffnungsarm, wir können uns kaum noch einen Begriff machen von dem „lechzenden Durst“, womit nach Schiller’s Hingang die deutsche Jugend sich herbeidrängte, um sich „am Quell seiner Poesie zu berauschen“. Kein Wunder demnach, daß wir in den echten und rechten Zeitgesängen der Befreiungskriegsepoche, in den Liedern von Ludwig Uhland, Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner, in den aus unerschöpflichem Born quellenden Ehren- und Spottversen, Zeitgedichten und geharnischten Sonetten von Friedrich Rückert, wie später noch in den Liedern von Julius Mosen, überall der leuchtenden Feuerspur der Muse Schiller’s begegnen. Und nicht etwa nur in Dichterklängen, nicht etwa nur in den Herzen einer Jugend, welche auf blutigen Walstätten bald herrlich erwies, wie todesmuthig-ernst ihre Begeisterung war – nein, allenthalben, wo ihr zu jener Zeit in Deutschland fühlende Frauen und denkende Männer reden hört, vernehmt ihr den Wiederhall der ewigen Worte, welche Schiller seine Attinghausen und Stauffacher in die Zukunft hatte streuen lassen, eine tausendfältig, millionenfältig fruchtbringende Gedankensaat. Ja, das Vaterlandsgefühl war mächtig in den Menschen, und eines höher gehobenen Lebens Pulsschlag ging durch das Volk.

Preußen, das unter dem Griff der napoleonischen Adlerkralle auf die Hälfte seines vormaligen Gebiets eingeschrumpfte, ausgesogene, ausgepreßte, zerstampfte Preußen hat im Frühjahr von 1813 Opfer gebracht, die geradezu beispiellos sind. Jener glorreiche Königsberger Landtag, in dessen Beschlüssen der Sturmgeist der Zeit den verknöcherten altfritzigen Absolutismus entschieden durchbrach, gab dem übrigen Lande das schönste Beispiel, indem er, wie jedes seiner Mitglieder willig und bereit war, den letzten Sohn und den letzten Thaler der Sache des Vaterlandes darzubringen, so auch nicht anstand, für diese Sache den letzten Nerv der Provinz anzustrengen. Was dieses Ostpreußen, nach allen den ungeheuren Leiden und Einbußen von 1807 bis 1813 jetzt leistete, kann man an der Thatsache ermessen, daß es von je 100 Männern zwischen 18 und 50 Jahren nicht weniger als 45 unter die Waffen, im Ganzen 71,445 zur Linie und Landwehr stellte und trotz der bitterlichen Armuth und Noth, welche im Lande herrschte, zur Ausrüstung der Landwehr allein 1,025,859 Thaler aufbrachte. Solche Wunder wirkt Vaterlandsgefühl. Hier, in Königsberg, ist der große Scharnhorst’sche Gedanke der Schaffung eines deutschen Volksheers damals zuerst zur Verwirklichung gekommen. Der Graf Alexander von Dohna, Vorsitzer des Landtags, hat damals das beste Wort gesprochen, welches jemals aus eines deutschen Edelmanns Mund gegangen, ein Wort, welches so recht den Kern von Scharnhorst’s Landwehridee bloßlegte: – „Wir wollen Alle Krieger sein, aber Bürger bleiben!“

Und „wenn nun heut’ ein Geist herniederstiege“ und fragte: „Sind die Nachkommen solcher Väter Bürger geblieben?“ so würde er zur Antwort erhalten: „Das nicht, aber sie sind dafür „„kleine Herren““ geworden“ …

Während die am frischen Haff entzündete Flamme Ostpreußen durchlohte, nach Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien hereinschlug und ihren Feuersaum bis zur Elbe heranrollte, an den Gestaden der Ost- und Nordsee in den Bauerschaften Etwas vom alten Stedinger- und Dithmarsensinn, in den Städtern Etwas vom alten Hansageist weckend, bliesen und trieben zu Breslau die Männer der That, des Losschlagens, des Wagnisses auf Leben und Tod, die Männer des Widernapoleonismus, die Franzosenhasser und Deutschgesinnten, die Scharnhorst, Blücher und Gneisenau, die Boyen und Grolman zur Sammlung, zum Entschluß, zum Handeln.

Schon der erste königliche Erlaß vom 3. Februar wirkte elektrisch, und prächtig ward offenbar, was man einem gesunden Volke zutrauen darf und soll. Die preußische Jugend bis weit in’s Mannesalter hinein erhob sich unter dem Jubelrufe: „Krieg, Krieg für Freiheit und Vaterland!“ Denn diese war die echte und ursprüngliche Losung. Die Hörsäle der Universitäten, die oberen Classen der Gymnasien, die Comptoire, die Kunst- und Werkstätten leerten sich, die Pflüge standen verlassen. Väter und Mütter weihten ihre Kinder, Schwestern ihre Brüder, Bräute ihre Bräutigame, Frauen ihre Gatten dem heiligen Krieg. Die Städte begannen von Freiwilligen zu wimmeln, die Straßen von den ziehenden Schaaren zu stauben. Greise griffen mit Jugendkraft nach den Waffen; Knaben flehten schluchzend, wenigstens als Trommelschläger mitgehen zu dürfen; Manchen, an deren jungfräulichem Ruf nicht der leiseste Makel, schwangen sich, vom heiligen Eifer über die Bedenklichkeiten ihres Geschlechtes hinweggehoben, in den Husarensattel oder bewehrten sich mit der Jägerbüchse, und mehr als eine der schönen Kriegerinnen hat höchste Proben der Tapferkeit abgelegt,

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