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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die Odtheorie und die Sensitiven.
Von Dr. Hermann Vogel.

Nachdem neuerdings die Od-Bewegung und der Sensitiven-Schwindel durch einige Vorgänge wieder in den Vordergrund gedrängt sind, dürfte eine populair-wissenschaftliche Beleuchtung dieser Verirrungen wohl an der Zeit sein.

Vor circa 20 Jahren trat der durch die Entdeckung des Kreosots, Paraffins und durch seine Untersuchungen über Meteorsteine rühmlichst bekannte Freiherr von Reichenbach mit einer Reihe von Beobachtungen an die Oeffentlichkeit, die im hohen Grade das Aufsehen sowohl der Naturforscher als auch des gebildeten Publicums erregten.

Reichenbach behauptete, eine neue, bisher nicht gekannte Naturkraft, die er „Od“ nannte, aufgefunden zu haben. Dieselbe sollte in der Natur eine mindestens ebenso große Rolle spielen, als Elektricität und Magnetismus, obgleich ihre Wirkungen nicht so klar zu Tage treten und nur für Personen sichtbar sein sollten, die mit besonders zarten Sinneswerkzeugen ausgerüstet sind. Nach Reichenbach’s Angaben ist dieses Od ein Agens (wirkende Kraft), das sich sowohl im menschlichen und thierischen Körper, als auch in Pflanzen und Mineralien, Magneten, krystallisirten Salzen, beim Schall, beim Reiben und Schlagen, bei chemischen Processen etc. entwickelt und in eigenthümlicher Weise auf den Gesichtssinn und Gefühlssinn wirkt.

So soll diese Kraft schon in der Ferne auf reizbare Menschen wirken und „lauliche oder kühlige, gleichzeitig angenehme oder unangenehme Empfindungen verursachen.“ Die rechte Hand eines Menschen veranlaßt z. B. nach Reichenbach in der rechten Hand eines andern ein unangenehmes lauwidriges, in der linken dagegen ein angenehm kühliges Gefühl; umgekehrt wirkt die linke. Aehnliche Wirkungen hat auch ein starker Magnet, der Nordpol desselben veranlaßt in der rechten Hand unangenehme Gefühle (Reichenbach sagt Magenweh und andere Pein), der Südpol dagegen angenehme; ebenso wirken Krystalle von Turmalin, Quarz etc. mit ihren verschiedenen Enden. Reichenbach erklärt diese von ihm behauptete Erscheinungen aus der Annahme, daß das neue Agens „Od“ allen den genannten Körpern – und zwar an verschiedenen Enden in zwei verschiedenen Zuständen als positives und negatives Od entströme, daß z. B. unsere rechte Hand, unser Kopf, der Nordpol eines Magneten, odnegativ, unsere linke Hand, die Füße, ebenso der Südpol eines Magneten odpositiv seien. Alle odnegativen Körper sollen nun in der gleichfalls odnegativen rechten Hand unangenehme, in der odpositiven linken dagegen angenehme Empfindungen verursachen, und umgekehrt.

Diese Gefühle sollen sich mitunter so stark äußern, daß viele Personen das Handgeben (wobei die odnegative Rechte der einen Person in die gleichnamig odische Rechte der andern gelegt wird) nicht vertragen können.

Auch die Erde ist nach Reichenbach odisch, am Nordpol positiv, am Südpol negativ. Deshalb sollen viele Menschen mit den (odpositiven) Füßen nach Norden gerichtet nicht schlafen können, wogegen ihr Schlaf mit dem (odnegativen) Kopfe nach Norden ein viel ruhigerer wäre.

Es wird ferner angegeben, daß unser Rücken odisch sei, in der Art, daß ein Major Philippi durch bloßes Gefühl die Himmelsgegend habe bestimmen können, indem er sich langsam im Kreise herumdrehte. Die Stellung mit dem (odnegativen) Rücken nach Norden soll die behaglichste sein.

Noch merkwürdiger klingen die Mittheilungen über die Anziehungen, die ein starker Magnet auf menschliche Glieder ausüben soll. So erzählte Reichenbach von einem Frl. Nowotny, deren Hände von einem starken Magnete angezogen wurden wie ein Stück Eisen. „Sie packte das dargebotene Ende der Magneten so fest, daß es ohne die größte Anstrengung nicht gelang, es ihr wieder zu entreißen.“

Das Od ist nach Reichenbach’s Angabe übertragbar. Hält man z. B. ein Glas Wasser circa 10 Minuten in der Hand, so geht das Od aus der Hand in’s Wasser über und ertheilt dem Letztern einen eigentümlichen Geschmack, derselbe ist „kühlig“, wenn das Glas in der rechten, „laulich“, wenn es in der linken Hand gehalten wurde.

Nicht minder außerordentlich als die odischen Gefühlsphänomene werden die odischen Lichterscheinnugen geschildert. Alle odausgebenden Körper sollen nämlich in absoluter Dunkelheit leuchten.

So wird der menschliche Körper im Dunkeln von einer leuchtenden Atmosphäre umhüllt gesehen, „die ihm das Ansehen eines geisterhaften Ungeheuers giebt.“ „Angesichts solcher Thatsachen,“ sagt Reichenbach, „frage ich, wie man es gemeinen Leuten verdenken will, wenn sie an Gespenster glauben? Sie haben sie gesehen, und was man gesehen hat, disputirt kein Doctor hinweg. Freilich sieht sie nicht Jedermann, sondern nur die Auserwählten, die Sensitiven.“

Verschiedene Theile des menschlichen Körpers leuchten verschieden stark, namentlich zeichnet Reichenbach den Kopf und die Hände als hellleuchtend aus. Der Kopf soll wie mit einem Heiligenschein umgeben erscheinen; „der Heiligenschein ist demnach,“ sagt Reichenbach, „nicht blos aus der Phantasie religiöser Schwärmerei geschöpft, er ist in Wirklichkeit vorhanden. Jeder Mensch trägt ihn beständig mit sich herum.“

Selbst ein blinder Tischler sah Reichenbach’s Kopf in einer lichten Wolke schweben und gab die Bewegungen desselben richtig an. Die odischen Lichter sind sogar durch die Kleider hindurch sichtbar. Verschiedene Damen und Herren sahen ihre Beine von den Hüften bis zu den Knöcheln. Ja noch mehr: auch innere Leibestheile, wie Magen, Eingeweide, leuchten durch die darüber liegenden Theile hindurch und werden dem sensitiven Auge sichtbar.

Die rechte Hand wird als bläulich, die Linke als rothgelb leuchtend ausgegeben, weil positives und negatives Od verschiedenfarbige Strahlen habe. Auch Mauerwände sollen odleuchteud gesehen werden, und andere davorgestellte Gegenstände erscheinen als Schatten.

Ja noch mehr, die Mauerwände können förmlich odisch durchsichtig werden; so sah eine Sensitive Reichenbach’s Gestalt durch die Wand hindurch und erkannte jede seiner Bewegungen.

Wie schon erwähnt, soll sich Odlicht auch bei chemischen und mechanischen Processen, z. B. beim Schlagen, Reiben, erzeugen. Der menschliche Odem, die einem Blasebalge entströmende Luft, verwesende und faulende Stoffe sollen odisch leuchten. Eine Frau B. behauptete nach Reichenbach, jeden dunklen Abend eine große Helle über dem Grabe eines Hundes zu sehen.

Andere Damen sahen ähnliche flammenartige Lichterscheinungen auf Gräbern von Menschen. Reichenbach erklärt hieraus den Aberglauben von dem nächtlichen Wiedererscheinen der Todten auf ihren Grabhügeln. – Das Gesagte, welches lediglich Reichenbach’s Ansichten und Behauptungen zusammenfaßt, wird hinreichen, dem Leser einen oberflächlichen Begriff von den vermeintlichen Entdeckungen zu geben. Ich habe keineswegs aus Reichenbach’s Werken das Wunderbarste herausgesucht, im Gegentheil, man findet in seinem hier oft citirten Werke „Der sensitive Mensch“ Geschichten von Somnambulen etc., die noch weit merkwürdiger klingen.

Alle diese wunderbaren Gesichts- und Gefühlserscheinungen sind jedoch wie gesagt keineswegs für alle Menschen wahrnehmbar, sondern nur für eine geringe Zahl Auserwählter, die mit besonders fein organisirten Sinnen ausgerüstet sind, die sogenannten Sensitiven. Man kann diese Sensitiven mit Hülfe eines einfachen Experimentes leicht herausfinden, indem man den Zeigefinger der rechten Hand langsam über den Teller der linken des zu Prüfenden von der Wurzel bis über den Mittelfinger hinwegführt, ohne sie zu berühren. Alle Sensitiven spüren dabei ein Gefühl, als würden sie mit einem Strohhalm angeblasen. Reichenbach hat nach diesem Verfahren in Wien circa 200 Sensitive unter Leuten verschiedenen Alters, Geschlechtes, Bildungsgrades und Gesundheitszustandes aufgefunden, darunter auch mehrere Naturforscher, wie Endlicher, Natterer, Schabus. Die meisten seiner Versuche hat er jedoch mit Damen gemacht.

Reichenbach selbst ist, seiner eigenen Angabe nach, nicht sensitiv. Er hat von den odischen Erscheinungen nichts selbst gesehen und gefühlt, sondern verdankt seine Kenntniß darüber nur den Mittheilungen Anderer. Dieser Umstand erregte bald das Mißtrauen der Naturforscher. Es ist eine mißliche Sache, ganz auf Beobachtungen fremder Leute hin über Gegenstände schreiben zu wollen, für die man gar kein Wahrnehmungsvermögen besitzt, von denen man sich also auch keine rechte Vorstellung machen kann. Es ist ebenso, als wenn ein Taubgeborener ein Buch über Musik, ein Blindgeborener ein Buch über Malerei schreiben wollte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_633.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)