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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

gleich starken Sturmcolonnen folgen. Görz dagegen stellte alle verfügbaren Truppen auf dem Paradeplatz in Bereitschaft, um die Werke viermal mit frischer Mannschaft versehen zu können, und ordnete für den äußersten Fall an, daß die eigentliche Festung in die Luft gesprengt werde und man sich in das Schloß zurückziehen solle.

Die Heftigkeit des Kampfes entsprach den Vorbereitungen. Mit der furchtbarsten Wuth drangen die Franzosen vor, und obgleich ihnen das heftig anhaltende Feuer ganze Reihen niederschmetterte, so gelang es ihnen doch nach einem lebhaften Kampfe, während dessen die französischen Batterien ohne Unterschied auf Freund und Feind spielten, die Belagerten bis in die inneren Werke zurückzudrängen. Hier warf sich ihnen aber Görz persönlich an der Spitze seiner Truppen entgegen, und es gelang demselben nach der Heranziehung von Verstärkungen die Franzosen wieder aus den Werken herauszutreiben. Alsbald rückten die zweiten Sturmcolonnen an, auch sie wurden geworfen. Aber zum dritten Male begann der wilde Sturm. Die Franzosen füllten an entfernten Stellen die Gräben aus und erstiegen hier die Wälle. Mann gegen Mann wurde gekämpft, jeder Fuß breit Erde mit Blut erkauft. Die Belagerten bedienten sich des Bajonnets, der Sense und des Morgensterns. Vier Mal waren die Feinde zurückgeschlagen, vier Mal drangen sie von neuem vor, bis sich endlich der aus mehreren Wunden blutende Görz abermals an die Spitze der Truppen stellte und die Feinde warf. Die Nacht machte eine Fortsetzung des Kampfes unmöglich.

Dieser Tag hatte schwere Verluste gekostet. Die Franzosen hatten 1200 Todte und über 2000 Verwundete, welche am anderen Tage auf 120 Wagen nach Montroyal gebracht wurden, verloren, und namentlich waren die Grenadiere so gelichtet, daß, um dieselben zu ergänzen, von jeder der übrigen Compagnien zwei Mann zu Grenadieren gemacht werden mußten. Die Belagerten zählten 134 Todte und über 400 Verwundete. Es war ein Ehrentag für Görz, der überall war, wo der Kampf am heißesten tobte, drei Feinde niederstach, viele verwundete, mit dem Degen in der Hand die Seinen ermunterte und jeden Weichenden niederzustoßen drohte. Aus vier Wunden blutend, vom Pulverdampf geschwärzt, Haupthaar und Uniform verbrannt, war er, wie sich eine gleichzeitige Handschrift ausdrückt, „schreckbar und grauserich anzuschauen“.

Durch diesen Kampf war die Festung gerettet. Die Wuth der Franzosen war gebrochen, und von der anderen Seite nahte endlich der Entsatz. Am 28. Abends baten die Franzosen um einen sechsstündigen Waffenstillstand zur Beerdigung der Todten. Görz aber, argwöhnisch, daß dieser Waffenstillstand zu einem Angriff mißbraucht werden möchte, schlug die Bitte ab, da es gegen den Kriegsgebrauch sei, einen Waffenstillstand am Abend zu bewilligen. Und sein Argwohn war gegründet, denn während der Verhandlungen näherten sich einige hundert Franzosen den Schanzen und zogen sich erst nach einem unter sie gethanen Kartätschenschuß zurück. Vom 29. bis 31. December unterhielten die Franzosen noch ein lebhaftes Feuer; aber schon am 29. zogen 300 Mann niederrheinischer Kreistruppen als Vorhut des Entsatzheeres in Rheinfels ein. Tallard ließ daher in der Sylvesternacht alles Geschütz bis auf drei Stück fortschaffen, aus diesen aber, um den Rückzug zu verbergen, am 1. Januar 1693 die Festung bis zur Nacht beschießen. Dann wurden auch diese fortgebracht und die Linien vor der Festung verlassen – am selben Tage, an welchem Tallard seinem Könige Ludwig XIV. die Schlüssel von Rheinfels hatte überreichen wollen.

Am 2. Januar ließ Görz den Feind durch die Kreistruppen verfolgen, um auch diesen Gelegenheit zum Kampfe zu geben. Im französischen Lager fand man einen großen Vorrath Munition und Schanzwerkzeug.

Es ist erfreulich, zugleich berichten zu können, wie Landgraf Karl, welcher am 4. Januar mit dem Entsatzheere in Rheinfels eintraf, den tapfern Helden seinen Dank zollte.

Am 5. Januar ließ er in der Stiftskirche ein Tedeum singen, wozu die Festung und alle Batterien drei Salven gaben. Um 12 Uhr nahm er dann eine Heerschau über die Vertheidiger ab, hielt eine Dankrede an dieselben, umarmte Görz unter dem Donner der Geschütze vor allen Truppen und ernannte ihn zum lebenslänglichen Gouverneur von Rheinfels, während demselben zugleich vom Landgrafen Ernst von Rotenburg die Ernennung zum Oberamtmann und Statthalter der Grafschaft Niederkatzenelnbogen überreicht wurde. Sodann bestätigte Karl den wackern Schützen Kretsch als Hauptmann der städtischen Schützencompagnie und gründete eine Stiftung, damit die Schützengesellschaft zur bleibenden Erinnerung an Tallard’s Verwundung alljährlich ein Fest feiere. Dies Fest wurde auch bis 1758 alljährlich in St. Goar gefeiert. In jenem Jahre verhinderten es die in St. Goar liegenden Franzosen, und es unterblieb seitdem. Zum Andenken an die Gefallenen ließ er in der Hauptkirche zu Marburg einen gewaltigen Marmorlöwen aufstellen, und endlich ließ er drei prachtvolle Silbermünzen schlagen, deren Inschriften beißende Anspielungen auf Tallard’s Versprechen enthielten.

Leider aber drängen sich zum Schluß noch einige wehmüthige Betrachtungen auf. Görz genoß seinen Ruhm nicht lange. Nachdem er die Festung hatte herstellen lassen, starb er in Folge seiner bei der Vertheidigung erhaltenen Wunden bereits am 3. Febr. 1696 in einem Alter von 39 Jahren. Als er seinen Tod nahe fühlte, ließ er sich auf die Stelle tragen, von wo aus er die Vertheidigung geleitet, um, wie er scherzend sagte, dem Feinde gegenüber zu sterben. Und hier starb er, sein Auge nach Frankreich zu gerichtet; sein Leichnam ist in Schlitz im darmstädtischen Oberhessen begraben.

Auch die Festung erfreute sich ihres Rufes nicht lange. Es kamen Zeiten noch tieferer Schmach. Durch die Uneinigkeit im Reiche gewannen die Franzosen bereits im siebenjährigen Kriege Rheinfels ohne Schwertstreich, sie drangen selbst bis Marburg vor und zerstörten auch das dort errichtete Marmordenkmal. Und als 100 Jahre nach jener ruhmreichen Belagerung Rheinfels abermals in ihre Hände fiel, wurde die Festung von ihnen gänzlich zerstört.

Aber wie diese Schmach uns jene Heldenthat nur noch erhabener erscheinen läßt, so läßt sich auch andererseits der Verlust jener Denkmäler verschmerzen. Denn auch die Zeiten der tiefen Schmach sind vorüber, von neuem ist der alte Geist des deutschen Volkes erwacht, der in steter Erinnerung an die Heldenthaten der Väter Deutschland vor fernerer Erniedrigung bewahren wird.

O. G.



Die seitliche Rückgratsverkrümmung.
Ein Wink für Eltern und Lehrer.
Von Dr. Schildbach in Leipzig.

Die Skoliose, wie man die Seitwärtskrümmung des Rückgrats bezeichnet, ist in der ärztlichen Literatur bis jetzt von einem ganz besonderen Unglück verfolgt worden. Es giebt wenig Capitel in der Medicin, über welche so viel schöne Worte und Ermahnungen an das Laienpublicum gerichtet worden sind, und vielleicht keines, wo das so geringen Erfolg gehabt hätte. Täglich und jeden Tag von Neuem kann man die Kinder in den Schulen Stunden lang in derselben einseitig ausgebogenen Haltung beim Schreiben verharren sehen; ja fast mit jedem Anblicke eines Kindes ist für das aufmeksame und kundige Auge das Bemerken einer einseitigen Gewohnheit verbunden. Noch heute wird in unzähligen Schulen durch lehnenlose Bänke die unsinnige Zumuthung an die Kinder gestellt, sich mehrere Stunden nach einander ohne Stütze aufrecht, und zwar „gerade“ aufrecht zu erhalten, „damit der Rücken nicht krumm wird“, und noch jetzt kann man es erleben, daß selbst Aerzte einer beginnenden Schiefheit gegenüber erklären: „es hat nichts zu sagen; es wird sich verwachsen.“

Wenn ich trotzdem mich den Predigern in der Wüste zugeselle, so geschieht es im Gehorsam gegen die innere Mahnung: Du sollst Deine Schuldigkeit thun auch ohne Aussicht auf Erfolg; – und nebenbei doch auch in der leisen Hoffnung, durch meine Worte hier und da einem Kinde seine Wohlgestalt erhalten zu helfen.

Der Rumpf mit Kopf und Armen ruht bekanntlich auf einer Säule von runden Bausteinen, den Wirbelkörpern. An jeden derselben setzt sich hinten ein knöcherner Ring an, welcher in verschiedenen Richtungen sieben knöcherne Auswüchse oder „Fortsätze“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_614.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)